Fritz Müller-Partenkirchen
Kaum genügend
Fritz Müller-Partenkirchen

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Beziehungen

Als wir Studenten waren, kam er eifrig auf mich zu: »Ich habe doch die Ehre mit Herrn Müller –?«

»Müller? ja – Ehre? weiß ich nicht.«

Er lachte nicht, er blieb toternst. »Sind Sie verwandt mit dem Polizeipräsidenten Müller?«

»Gott behüte.«

Sein Eifer fiel zusammen, er wandte sich enttäuscht, ich war erledigt. Er nicht für mich, sein gehetzter Ausdruck ging mir nach: Armer Mensch, warum, warum . . .

Nicht viel später erwischte er mich abermals am Rockknopf: »Nun hab' ich es. Sie sind der Neffe des berühmten –«

»Allerdings, kann aber nicht dafür, außerdem ist der Berühmte letzten Herbst gestorben.«

Wieder traf es ihn wie Peitschenschlag. »Gestorben?« murmelte er, »dann allerdings – Entschuldigung . . .«

Er sprach mich nicht mehr an. Dafür erzählten mir die andern: »Komischer Kauz, dieser Dicke, steht stundenlang vor dem Dozentenzimmer, reißt den Hut zur Erde, wenn die Türe knarrt –«

»Mir hat er erzählt, er belege außer hier in Wien und Heidelberg, vielleicht, daß ihm die sämtlichen belegten Semester addiert würden –«

»Das tollste soll in der letzten Fakultätssitzung 127 gewesen sein. Zieht da ein Professor aus der Tasche einen Brief, einer der Studenten verdiene besondere Rücksicht, er komme aus der Kaufmannschaft, sei später Student, erstrebe mit fieberhaftem Ehrgeiz seinen Doktor – Hm, meint der Professor rechts, darf ich mal das Ende Ihres Briefes – aha: ›Sie, verehrter Herr Professor, sind in erster Linie meine Hoffnung . . .,‹ genau das gleiche schrieb er mir – Mir auch – mir auch, ertönt es in der Sitzungsrunde, und ebensoviel Briefe knisterten aus ebensoviel Taschen . . .«

Es wurde arg gelacht. Ich konnte nicht recht mittun, das verhetzte Gesicht des Dicken stand mir vor der Seele.

In einer Zwischenprüfung saß er neben mir. Er schrieb rasend. Es waren lauter Fragen mit Gedächtniskram. An einer Frage blieb er plötzlich hängen. Er schwitzte, sah sich hilflos um, steckte mir einen Zettel zu: »Ich habe Beziehungen zum Generaldirektor der Handelsbank, wenn ich Ihnen einmal nützen könnte? Bäte um Gegenrecht in Frage 17, bitte.«

Frage 17 war kinderleicht, nur galt's ein wenig denken, weil sie nicht wörtlich im »Großen Philippovich« gestanden hatte. Mich stach der Hafer: »Ich pfeife auf den Bankdirektor,« schrieb ich auf den Gegenzettel, »die Lösung von Frage 17 lautet so und so.«

Er übersah den Pfiff und blieb für Frage 17 dankbar. Einmal legte er mir seine Hand vertraulich auf die Schulter: »Unsereiner hat es schwer. Wenn man von unten her kommt, außer aller Reihe, lassen sie einen nicht hinauf, es sei denn, daß man Beziehungen –« Er klappte eine 128 Brieftasche auseinander: Ganze Päckchen abgegriffener Visitenkarten mit langen Titeln und Krönchen blätterten sich auf: »Wenn ich Ihnen auch mal dienen –?«

»Ich sagte Ihnen schon, ich pfeife.«

Er sah mich unbeleidigt, fast traurig an, so etwa: Armer Mensch . . .

Dann ging er weiter, ein wenig geduckt. Ich sah ihm nach, so etwa: Armer Mensch . . .

Einmal in der Pause faltete er besorgt ein Wiener Blatt zusammen: »Erzherzog Karl Ferdinand ist krank, denken Sie.«

»Sie kennen ihn?«

»Das nicht, aber –«

»Haben Beziehungen zu ihm?«

»Noch nicht, aber . . .«

Sechs Stunden später hatte er sie. Er schoß quer über die Straße auf mich zu, klappte die Brieftasche selig auseinander und zeigte zitternd auf ein Telegramm: »Kaiserliche Hoheit lassen für Wünsche danken, langsame Besserung. v. Schröffelmann, Adjutant.«

»Nun, was sagen Sie jetzt?«

»Nichts.«

Er hörte gar nicht zu, schoß wieder auf die andere Straßenseite, klappte vor einem andern Bekannten die Depesche auseinander . . .

Eine Woche später war sein Seminarvortrag fällig: Galizischer Eierexport.

Ich sah ihn, die Brieftasche krampfhaft in der Hand, in eine Menge Häuser laufen. Sein Bratenrock flatterte eifrig und bekümmert, je nachdem er eine Wendung machte. In seinem Vortrag saßen sie alle da, die Eingeladenen, 129 scheinbar eifrig, innerlich bekümmert. Denn sie, die Sekretäre, Assessoren und Doktoren und was sonst noch einen Namen in dem Städtchen hatte, verstanden keine Bohne von dem galizischen Eiervortrag. Trotzdem der Dicke gezeichnete Statistiken mit einer Unmenge farbiger Eier, großen und kleinen, an die Tafel nagelte. So gewalttätig drückte er die Reißnägel ein, daß die Kappe absprang und der Nagel in den Daumen drang. Er merkte es nicht vor lauter Eifer und fuhr blutig über die Statistikblätter und stand plötzlich ratlos vor dem roten Streifen, der von Ei zu Ei ging. Er erinnerte sich nicht, ihn eingezeichnet zu haben, aber bedeuten mußte doch der Streifen was. Er stotterte an seiner Deutung: »Die Beziehungen zwischen den hier chronologisch geordneten Beziehungen sind derart, daß – daß –«

Er blieb stecken. Er gackste etwas von Exportusanzen. Er beschrieb die Länge, Breite, Tiefe aller Eierkisten. Er streifte flüchtig die Ersatzpflicht, wenn die Eierkisten brachen –

Das Seminar schmunzelte. Ich weiß nicht, warum die Vorstellung von zerbrochenen Eiermengen die vom Bruche Nichtbetroffenen immer fröhlich stimmt. Vielleicht dachten wir uns den Schwitzenden auf dem Pulte von all den Eiern, die Galizien jährlich ausführt, überschüttet. Die eingeladenen Laien lächelten vergnügt, sie waren jetzt im Bilde. Der Professor hielt den Kopf gesenkt, aber an den Ohren ließ sich sehen, daß er nicht betrübt war. Der Vortragende spürte die Stimmung.

»Meine Herren, der galizische Eierexport ist durchaus keine Sache zum Lachen . . .« Glucksen im Saal.

130 Der Dicke droben verhedderte sich immer mehr. Alle Vortragsfäden waren ihm entglitten. Unzusammenhängende Sätze, sinnlose Eiersätze gab er von sich, in der Aufgeregtheit zerrte er die Brieftasche aus dem Rock, klappte sie auseinander: »Die Eier – die Beziehungen – der Export – die Kisten – die Eierbeziehungen –« Flutsch, glitt ihm alles aus der Hand, Ströme von Beziehungen, alten und neuen, fluteten, klatschten in den Saal. Und wir hatten alle das Gefühl, als sei der Strom gelb, eigelb, mit weißen Rändern, glitschigen Eiweißrändern . . .

Das Examen rückte heran. Des Dicken Fleiß fing an zu rauchen. Kein Dozent konnte ein Buch erwähnen, das er nicht am nächsten Tag verschlungen hätte. Wörtlich. Das er nicht am übernächsten Tage hätte wiederholen können. Wörtlich. Im Kaffeehause, wo er Professoren wußte, zog er mich an Tische nebenan und versetzte mir die Bücher Wort für Wort und laut.

Den Lehrern tat er leid. Ich hörte zwei sich unterhalten: »Seine Dissertation ist rasend fleißig.« – »Und sein Wissen?« – »Er weiß alles.« – »Können?« – »Null. Er pocht auf seinen Doktorschein.« – »Der und Doktor?!« – »Was soll man tun?« – »Terminsverlegung, mürbe machen . . .«

Fünfmal verlegten sie ihm den Termin. Mürbe ward er nicht. Er schrieb, schrieb eingeschrieben, schrieb mit Trauerrand, schrieb mit hochgehobenen Händen. Er kam persönlich in die Wohnung, angemeldet, unangemeldet, verwünscht, verflucht, verleugnet. Er telegraphierte, einfach, dringend, mit bezahlter Antwort, nachts zu bestellen. Er 131 telephonierte, jammerte elektrisch, seine Braut in Temesvar habe depeschiert, sie ginge ins Wasser, wenn er nicht bis längstens März den Doktor baue.

Es half alles nichts. Der Professor im Hauptfach blieb bei der Terminsverlegung.

Da verschwand er.

Er kam mit einem großen Bogen wieder. Darauf stand: »Die Unterzeichneten bitten . . .« Unterschrieben waren Direktoren, Grafen, Exzellenzen, Erzherzöge . . . Ich hätte nie geglaubt, daß auf einem einzigen Kanzleibogen, 32 Zentimeter lang und 23 Zentimeter breit, so viele Beziehungen Platz hätten.

Wieder wollte der Professor im Hauptfach den Termin verlegen. Aber der Rektor entschied: »Wenn wir ihn nicht prüfen, sind wir in alle Ewigkeit geprüft.«

So baute er den Doktor.

Glückselig fuhr er heim nach Temesvar. Aus dem rollenden Zuge winkte er mir zu: »Und wenn ich Ihnen einmal unter die Arme – Sie verstehen – Beziehungen . . .«

Er hat mir nicht unter die Arme gegriffen. Ich aber ihm.

Das war Jahre später, als er ein großes Verwaltungstier geworden war, und ich ihn unter einem Straßenbahnwagen herauszog, unter den er beim Abspringen geglitten war.

Er lag Monate im Krankenhause. Die beiden Füße waren futsch.

Ich fand ihn still in seinen Kissen. Auf dem Tischchen neben seinem Bette lag die Brieftasche, dick wie immer. Suchend gingen seine Augen 132 um im Zimmer. Gehetzt der Ausdruck, wie damals beim Examen.

Im Gang erwischte ich den Arzt beim Ärmel. Er zuckte mit den Achseln: »Chirurgisch haben wir ihn durch, ob er's aber seelisch aushält –«

»Auch darin ist er zäh, Herr Doktor.«

»Zäh und robust genügen nicht, entscheidend sind die – wie soll ich sagen – geistigen Beziehungen, die –«

»Beziehungen?« mußte ich lächeln, »dann kommt er durch, verlassen Sie sich drauf, Herr Doktor.«

Er hat sich nicht darauf verlassen, hat ihn zu einem Testament veranlaßt, hat den Pfarrer kommen lassen . . .

Als ich wieder vorsprach, kam er auf mich zu: »Er starb vor einer Stunde. Ich habe frei. Erzählen Sie von ihm.«

Ich sagte, was ich wußte. Als ich die Studentenzeit berührte, schüttelte er den klugen Arztkopf. »Ein Sammler also von Beziehungen? Auch an den Karawanen von Besuchen sah ich's. Alle denkbaren Beziehungen lagen bloß, auch die zu Gott war da. Wenn's aber hart auf hart geht – wir Ärzte wissen das – kommt's nur auf eine einzige Beziehung an, die vom Abgrund wegreißt. Die fehlte ihm, und darum starb er.«

»Ich versteh' nicht recht. Sie sprechen von –«

»– der Beziehung zu sich selber.« 133

 


 << zurück weiter >>