Fritz Müller-Partenkirchen
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Die Lücke

Die Ferien waren vorbei. Es war der erste Schultag. Der erste Schultag hat ein unlustiges Gesicht. Es ist aber nur im Anfang so. Wenn der Lehrer den ersten Rüffel hergegeben hat, so ist man wieder drin im alten Dreh. Nach der dritten Unterrichtsstunde ist es so, als hätte es niemals und nirgendwo auf der Welt Ferien gegeben. Sondern immer nur Unterricht und Aufgaben, Aufgaben und Unterricht. Und Hefte, die mit gerunzelter Stirne zurückgegeben werden . . .

Die Aufsätze hatte er schon zurückgegeben und besprochen, unser Aufsatzlehrer, in der ersten Stunde nach den Ferien.

»Soweit ganz nett,« hatte er zu dem einen gesagt.

»Ich bin zufrieden,« zu dem zweiten.

»Eine gute, recht gute Arbeit,« zu dem dritten und hinzugefügt: »Besonders den Sonnenuntergang im Gebirge haben Sie gut geschrieben, Obermaier.«

Danach griff er zu dem vierten:

»Hier aber ist ein Aufsatz, mit dem ich nicht zufrieden bin,« sagte er, »weder in der Form, noch im Inhalt – und der Sonnenuntergang im Gebirge ist so ungewöhnlich – so verdreht dargestellt – ich weiß nicht, was sich der ›Herr Verfasser‹ dabei gedacht hat – und dann hat er niemals ein Komma vor ›daß‹ gemacht – ich meine, das sollten Sie nachgerade wissen, daß vor ›daß‹ ein Komma gehört – so – und nun machen Sie eine ordentliche Verbesserung, Hürlimann . . .«

Ah, der Hürlimann war es. Wir sahen alle auf eine Lücke in der fünften Bank.

»Nun, Hürlimann, wollen Sie Ihren Aufsatz in Empfang nehmen oder nicht?« sagte der Professor ungeduldig und hielt das Heft mit der rechten Hand über die Bänke hin, während er mit der Linken an der Brille rückte.

Einer lachte unterdrückt. Ein anderer sagte:

»Hürlimann fehlt.«

»Was? Hürlimann fehlt?« sagte der Professor ärgerlich und warf das Heft auf das Katheder, daß es klatschte. »Das ist ja nett, wenn die Leute gleich in der ersten Stunde nach den Ferien fehlen.«

Verschiedene lächelten. Aber da stand der lange Keil auf, hinten in der letzten Bank, der lange, wortkarge Keil August, der immer Hürlimanns Vertrauter war, und sagte:

»Entschuldigen Sie, Herr Professor, aber der Hürlimann kommt überhaupt nicht mehr.«

»Kommt überhaupt nicht mehr? Was soll das heißen? Ist er etwa krank?«

»Nein, Herr Professor.«

»Oder sind seine Eltern verzogen?«

»Nein, Herr Professor.« Der lange Keil August sagte nie ein Wort mehr, als er gefragt wurde.

Des Professors Mienen wurden plötzlich ernst.

114 »Er ist doch nicht –?« sagte er langsam.

»Man weiß es nicht, Herr Professor,« sagte der Keil August etwas verwirrt.

Man weiß es nicht? Die ganze Klasse war mit einem Schlage mäuschenstill geworden. Man weiß es nicht. Was steckte dahinter? Alle blickten wir noch schärfer auf die leere Stelle in der fünften Bank.

»Keil August,« sagte der Professor, »ich fordere Sie auf, uns zusammenhängend zu berichten, was Sie wissen.«

Da kam es heraus. Stoßweise. Mit langen Pausen zwischen den Sätzen: Der Hürlimann wäre vor vierzehn Tagen ins Gebirg gegangen mit einem Kameraden aus dem Realgymnasium. Bis zum Paß hinterm Glärnisch seien sie zusammen gewandert. Und sie wären ganz fröhlich gewesen. Und da hätte sich der Kamerad den Fuß vertreten. Dann sei der Hürlimann allein gewandert, weiter hinauf ins Gebirge. Und dann – und dann –

Hier brach der Erzählende ab.

»Und dann?« wiederholte dringlich der Professor.

»Und dann ist er nicht mehr zurückgekommen, Herr Professor – und man hat auch keine Spur von ihm gefunden – bis heute, Herr Professor – und in der Zeitung ist es auch gestanden – und – und –«

Er wollte noch etwas sagen. Aber da setzte er sich plötzlich. Der Professor sagte lange nichts. Über der Klasse hing ein fürchterliches Schweigen. Ich weiß noch, daß ich zur Decke hinaufblickte. Und es kam mir vor, als senke sie sich. Als 115 ginge der weißgraue Deckel immer mehr herunter – näher – näher – um uns alle zu erdrücken . . .

Und dann ging der Professor ans Fenster und sah hinaus. Dabei trommelte er ganz leise gegen die Scheibe: Ein wenig nervös. Und wir hörten jeden Ton davon bis in die letzte Bank hinter.

Das ist ein Trommelwirbel, mußte ich denken. Als neulich einer mit militärischen Ehren beerdigt wurde, da war es auch so. Da haben sie hinter dem Sarge her getrommelt. Der Hürlimann hat keinen Leichenzug gehabt.

Und dann mußte ich denken – so ist man halt, wenn man jung ist – dann mußte ich denken: Nun hat er noch kurz vor seinem Tode einen schlechten Aufsatz geschrieben, der Hürlimann. Und den Sonnenuntergang im Gebirge hat er schlecht geschrieben. »So sonderbar, so verdreht dargestellt,« hatte der Professor gesagt. Und vor »daß« hat er nie ein Komma gemacht . . .

Bei dieser Stelle meines Denkens aber kam es mir zum erstenmal in der Schulzeit in den Sinn, daß die Schule gar nicht das Wichtigste sei – daß es da draußen noch was anderes geben müsse – etwas Ungeheueres, etwas Riesenhaftes – etwas, vor dem alle Kommas wesenlos erblaßten.

Vielleicht hat der Professor auch so etwas gedacht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er nach dem Aufsatzheft von Hürlimann hinübergeschaut hat, das mit einer blauen Ecke über das Katheder vorsah.

»Keil August,« sagte er, »wollen Sie das Heft in die Wohnung von – von Hürlimann mit –?«

116 Aber plötzlich besann er sich. Er dachte vielleicht an die vielen roten Striche darin, die nicht ins Trauerhaus gehörten.

»Nein,« sagte er, »das Heft bleibt da – ich will es aufbewahren.« Und dann wollte er wieder mit dem Unterrichten fortfahren. Aber es ging nicht recht. Er redete, und wir redeten – aber wir dachten gar nicht an das, was wir redeten. Und seine runden Professoraugen gingen immer über das Lesebuch hinaus und blieben an der Lücke hängen in der fünften Bank. Wir sahen es genau, und mit unseren Augen ging es auch so. Immerzu, immerzu . . .

Und jetzt sagte der Michelmann etwas ganz Verkehrtes auf eine Frage des Professors. Aber der Professor merkte es gar nicht. Und es kam uns plötzlich alles so gleichgültig vor, so fürchterlich gleichgültig.

Zum drittenmal hatte jetzt der Professor unbehaglich auf seine Taschenuhr gesehen. Aber es war erst halb. Plötzlich richtete sich der Professor gerader auf. Immer noch sah er auf den leeren Platz. Die Lücke auf der fünften Bank zerschnitt die ganze Unterrichtsstunde. Sie würde auch die folgenden Unterrichtsstunden aushöhlen und zerstören . . .

»Michelmann,« sagte der Professor, »Sie sind der letzte in der hintern Bank – wollen Sie sich auf den leeren Platz in der fünften Bank setzen?«

Michelmann rührte sich nicht. Wir sahen ihn alle an. Wir begriffen ihn so gut.

»Nun?« sagte der Professor noch einmal.

Aber Michelmann rührte sich noch immer nicht.

Da stand der Keil August ganz ruhig auf, sagte 118 kein Wort, nahm seine Bücher und seine Hefte unter den Arm und setzte sich still und selbstverständlich auf des toten Freundes Platz.

Und wir begriffen ihn auch so gut.

Der Professor sagte nichts. Aber es war uns allen, als ob eine große, drohende Lücke in unserm Dasein friedlich geschlossen worden wäre. Es war uns allen: Jetzt hat sich über unserm Kameraden Hürlimann erst das Grab geschlossen – jetzt hat er seine Ruhe.

Und dann ging es wieder an die Schularbeit. Wir schauten nicht mehr zurück. Als ich geschwind nach der Decke blickte, sah ich, daß sie wieder hochgegangen war. Jetzt war es kein weißlich grauer Sargdeckel mehr, der sich auf uns senkte. Jetzt sah es aus wie der ferne hohe Wolkenhimmel. 119

 


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