Fritz Müller-Partenkirchen
Kaum genügend
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Nutzanwendung

In der fünften Stunde döst man gern ein wenig. Darum hatten wir von zwölf bis eins Naturgeschichte. Die kann es vertragen, dachte wohl der Rektor.

Der Inspektor dachte anders. Darum kam er vorzugsweise in die fünfte Stunde. »Wo also stehn wir, Herr Kollege?« sagte er mit jener öligen Liebreichigkeit, die nicht ohne Grund gefürchtet ist, »bei den Fischen? Schön. Lassen Sie sich gar nicht stören. Tuen Sie, als wäre ich nicht da.«

Wir sahen auf die Uhr. Zwölf dreiviertel. Um zwölf dreiviertel pflegte unser Lehrer zu erzählen. Ob er's heute wagte?

»Also wie gesagt, Sie fahren einfach fort. Mit den Aalen haben Sie begonnen? Nun, ich hätte lieber was gehört von Karpfen. Schon gehabt? Das schadet nicht. Den Karpfen also nochmal, bitte. Und wie gesagt, nicht stören lassen. Ich bin nicht da. Und dann noch eins, ich liebe die Vergleiche. Vergleiche bringen Leben. Zum Beispiel Hecht und Karpfen. Wie, Hecht noch nicht gehabt? Schadet nicht. Auf so was Simples wie ein Hecht sind gute Lehrer immer vorbereitet.«

Wir sahen den Inspektor an und seine spitze, stoßbereite Schnauze. Wir sahen unsren braven Lehrer an und seinen guten Mund, den der 107 Schrecken rund geöffnet hatte wie bei einem Karpfen. Ob wohl Karpfen immer vorbereitet sind auf Hechte, und nicht eher umgekehrt? Vorbereitet pflegt zu sein, wer frißt. Unvorbereitet, wer gefressen wird.

»Und was ich noch erwähnen wollte, Herr Kollege: Immer eine Nutzanwendung, bitte. Vergleiche aus dem Tierreich ohne Nutzanwendung für die Jugend wären für die Katze. Und wie gesagt, ich bin nicht da – beginnen Sie!«

Der Inspektor, der nicht da war, füllte den Kathedersessel, wie Gewitterwolkenbäuche eine Landschaft füllen. Der Lehrer, welcher da war, aber sich nicht stören lassen sollte, stand zwischen Pult und Bänken wie ein Rehlein, das sich bekanntlich auch nicht stören läßt, wenn es der Wolf verspeist.

»Hecht und Karpfen, ein Vergleich und eine Nutzanwendung?« dachte er angestrengt. Da fiel ihm etwas Hübsches ein.

Ob wir wüßten, welcher Unterschied bestünde zwischen dem Verstand und dem Instinkt?

Den wußten wir. Instinkt war unbewußter dumpfer Trieb, Verstand dagegen ein Produkt bewußten Denkens.

»Und des Lernens,« ergänzte mit Nachdruck der Inspektor, der nicht da war.

Ob Fische Instinkt hätten?

Ja, den hätten sie, nickte die Klasse.

Ob wir ein Beispiel wüßten?

Eine Klasse weiß immer Beispiele, es sei denn, der Inspektor wäre da. Dann ist sie auf den Mund geschlagen.

Dann wolle er, der Lehrer, eins erzählen, das 108 er selber einmal ausprobiert: »Denkt euch einen Fischbehälter. Links ein Karpfen. Rechts winzige Mollusken. Der Karpfen ist voll Hunger. Er fährt auf die Mollusken los –«

»Aus?« rief der Inspektor uns zu, »aus?«

Wir sahen uns an.

»Aus was?« schrie der Inspektor.

Wir schwiegen.

»Zum Donnerwetter, aus Instinkt natürlich! Warum gabt ihr keine Antwort, he?«

»Aus Inschtinkt,« sagte langsam in der ersten Bank der lange Kapfer, der sich angeredet glaubte, »der Herr Inschbektor hänt ja gsait, wir solle uns nit störe losse und Sie wäre gar nit do.«

Der Lehrer bekam einen roten Kopf, der Inspektor einen blauen. Krampfhaft fuhr der Lehrer weiter: »Nun denkt euch die Molluskenecke abgeschlossen durch ein quergestelltes Glas, das der Karpfen, weil es Wasserfarbe hat, nicht sehen kann. Was tut der Karpfen?«

»Sei Mul breit schlage an der Glasscheib,« sagte der Lange.

»Gut, wie lange?«

»Alleweil, weil er koin Verstand hett.«

»Und nichts lernt,« ergänzte der Inspektor mit Bedeutung.

»Nun denkt euch statt des Karpfens einen Hecht, der von seiner Nahrung durch das quergestellte Glas geschieden ist. Was tut der?«

»Aach drauf los fahre.«

»Gut, wie lange?«

»Bis sei Mul ihm weh tut.«

»Dem Karpfen tat es auch weh.«

»Bis er kapiert hett, daß er nix verwische ka.«

109 »Also weil er was gelernt hat,« unterstrich der Herr Inspektor, »weiter, Herr Kollege.«

Unser Lehrer schien verlegen: »Eigentlich ist die Geschichte aus.«

»Hm, eigentlich, Herr Kollege, ist das Experiment nur halb. Ein Forscher, wie es doch ein jeder Lehrer sein soll, hätte dann die Glaswand neuerdings herausgenommen.«

»Tat ich,« sagte der Lehrer etwas gepreßt.

»Aha,« triumphierte der Inspektor, »aus dem Gegenexperiment ergibt sich erst die rechte Nutzanwendung. Was meint ihr, Kinder, daß der Karpfen bei wieder herausgenommener Glasscheibe tat?«

»Niwwerschieße, weiterfresse,« sagte unser Langer.

»War's so, Herr Kollege?«

Der Lehrer nickte.

»Seht ihr, Kinder,« triumphierte der Inspektor weiter, »wir brauchen das Experiment gar nicht. Uns sagt's der Verstand. Damit wollen wir für heute schließen –«

»Und der Hecht?« schrie der Lange.

»Hm, der Hecht?« sagte der Inspektor nachdenklich, »ich denke, Herr Kollege, das erzählen Sie den Kindern einmal später.«

»Braucht's nit, mir wisset's scho!« schrie der Lange.

»Na, dann sag es, was der Hecht tat,« sagte der Inspektor ärgerlich.

»Bliwwe is er, wo er war.«

»Stimmt das, Herr Kollege?«

»Allerdings.«

110 »Schön, dann lassen wir ihn drüben und wollen jetzt –«

»Mir wisset aach, warum er driwwerbliwwe is, Herr Inschbektor!« rief der Lange, »weil er sich denkt hett, ich tät mir doch bloß 's Mul verschlage, noi, mich stimmt ihr nit, ihr Malefiz!«

»Schon gut, es ist jetzt ein Uhr und –«

»Und dann ist er gestorwe, der Hecht, vor Hunger, und wisset Sie aach, warum, Herr Inschbektor?« rief er dem plötzlich Eiligen nach, »wenn er nit so arg viel g'lernt hett, wär er noch am Lewe wie der Karpfe, Herr Inschbektor . . .!« 112

 


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