Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Das Lebensende einer Idealistin

Nachruf von Gabriel Monod

Malwida von Meysenbug ist zu Rom, am 26. April 1903, in einem Alter von sechsundachtzig Jahren und sechs Monaten gestorben.

Eine ihrer Freundinnen sagte ihr eines Tags: »Ich möchte bei deinem Ende gegenwärtig sein. Du hast das denkbar menschlichste Leben gelebt; dein Tod wird deinem Leben ähnlich sein!« Diese Freundin sprach die Wahrheit. Heute, wo wir dieses lange Dasein in seinem Gesamtverlauf überblicken können, fällt uns eins vor allem auf, seine bewundernswerte Einheit. Sie ist den Gedanken und Grundsätzen, die ihre Jugend geleitet, bis zum letzten Hauch treu geblieben. Auch vermag man jetzt, wo man die Abschnitte ihres Lebens alle kennt, leichter zu beurteilen, was sie im elterlichen Hause gewesen, wie sie unter den Flüchtlingen Londons gelebt, wie sie in Italien zuerst als Erzieherin ihrer Adoptivtochter gewirkt, dann unabhängig und allein jene dreißig Jahre daselbst zubrachte, während denen sie ihre wichtigsten Schriften verfaßt hat.

Einzelne Personen, die nur die Memoiren einer Idealistin, und auch diese nur oberflächlich, gelesen, haben sich ein ungenaues Bild von dem wahrer Charakter Malwidas von Meysenbug gemacht. Diese Verkünderin der Frauenrechte ist ihnen als eine Rebellin erschienen, als ein revolutionäres Gemüt, das vor allem darauf ausging, die bestehende staatliche Ordnung und die alten Traditionen der Familie zu zerstören. Und doch waren es gerade ein tiefes Gefühl der Billigkeit, eine freie, parteilose Auffassung der Dinge, die die Persönlichkeit der Verstorbenen kennzeichneten, Eigenschaften, die trotz des heißen Wunsches, die Menschen in die Bahnen des Fortschritts zu lenken, ihr erlaubten, jegliches Große und Edle in den Überlieferungen einer aristokratischen Vergangenheit zu bewundern. Ihnen entsprang jene innige Treue, mit der sie, mitten unter schmerzlichem Zwiespalt, eine unsträfliche Tochter und Schwester, den Ihrigen angehangen hat; aus ihnen erklärt sich die Gewissenhaftigkeit, mit der sie, während sie den Frauen das Recht des selbständigen Denkens und die Verpflichtung, sich eine Individualität zu erringen, lehrte, doch stets sich gehütet hat, die Rechte des Weibes als ein Recht der Leidenschaft oder der Laune zu betrachten.

Dadurch erklärt es sich, daß diese hochbegabte Frau, die sich mit gleicher Hingebung für den politischen und sozialen Fortschritt zu begeistern wußte, die ein gleiches Interesse für Poesie und Kunst, für Natur und Philosophie empfand, lebhafte Sympathien und warme Freundschaft sowohl bei den Vertretern der Grundsätze der Vergangenheit als bei den kühnsten Anhängern der Revolution gefunden. Dadurch erklärt es sich auch, daß es niemals zu einem wirklichen Bruch kam zwischen ihr und den Ihrigen, deren Lebensideale sie aufgegeben. Wir hoffen später einmal ihren Briefwechsel mit ihrer Mutter zu veröffentlichen. Es wird daraus ersichtlich werden, wie die Verstorbene nicht nur bis zum Tod des Vaters, ja bis ins vierunddreißigste Lebensjahr den Familienkreis nicht verlassen wollte, um die längst erträumte selbständige Stellung sich zu gewinnen, sondern wie sie auch, nachdem sie von der Mutter die Erlaubnis erhalten, die frei gewählte Laufbahn zu verfolgen, ihr die zärtlichste, ehrerbietigste, fast möchten wir sagen die untertänigste Tochter geblieben ist. Mit einer einzigen Ausnahme – als sie von Berlin vertrieben, sich zur Auswanderung nach London entschloß – hat sie der Mutter alle ihre Pläne unterbreitet, und mehr als einmal hat sie auf deren Wunsch auf ihre Ausführung verzichtet.

So begreift sich auch ihre leidenschaftliche Bewunderung für Goethe, den höchsten Vertreter jener Freiheit des Gedankens und der Kunst, die sich den ewigen Gesetzen des Wahren und des Schönen unterwirft. Malwida von Meysenbug hatte eine ganz besondere Vorliebe für das Goethesche Sonett Natur und Kunst; sie gefiel sich in der Wiederholung seiner Worte:

»Vergebens werden ungebundene Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.«

Und wie Goethe es aussprach:

»Das Gesetz nur kann uns Freiheit geben«

so sagte auch Malwida von Meysenbug:

»Freiheit ist das strengste Gesetz.«

Ihr ganzes Leben kann gleichsam als Erläuterung zu diesem Wort dienen. Ihre Freiheit hatte sie zurückgefordert, freiwillig sich den ernsten Regeln eines Daseins zu unterwerfen, innerhalb dessen sie untadelige Frauenwürde und Zartgefühl mit gleicher Kühnheit des Denkens und des Handelns zu vereinigen wußte und in das sie aus der Jugendzeit alle die Verfeinerung aristokratischer Sitte herübergerettet hatte, die Rettung verdiente.

Die Entwicklung ihrer philosophischen und religiösen Gedanken ist nicht minder anziehend. Mit den Dogmen der protestantischen Kirche, in deren Schoß sie auferzogen, hatte sie gebrochen, und gewisse Ausdrücke ihrer Memoiren könnten dazu verleiten, anzunehmen, sie habe das rein negative und fast materialistische System der äußersten Hegelschen Linken zu ihrem Glaubensbekenntnis gewählt; aber so war es nicht. Es lebte in ihr ein viel zu mystisches und der Ideale bedürftiges Gemüt, als daß sie sich mit einer Verneinung begnügt hätte und ihren Blick nicht über die sinnliche Welt hinaus nach einem höheren Horizont gerichtet hätte. Wenn sie für die Materie des Kosmos und das sichtbare Weltall eine Würde in Anspruch nahm, die die traditionelle Glaubenslehre ihnen versagt, so war es nur deswegen, weil sie ihr als Hülle und äußere Offenbarung des allein wirklich lebenden und ewigen Geistes vor Augen traten. Dieser Glaube an die Einheit und Ewigkeit des Geistes, dieser idealistische Monismus wurde ihr allgemach zur bewußten und entwickelten Doktrin, je gründlicher sie Schopenhauer, die indische Philosophie und die Theorien der modernen Wissenschaft studierte, die mehr und mehr alle Phänomene auf Kraft und Bewegung zurückzuführen bestrebt ist. Diese Überzeugung fand ihren letzten, vollständigen und großartigen Ausdruck im Nachwort des Lebensabends einer Idealistin. Im Anblick des köstlichen Bildes, das der gestirnte Himmel und das Meer vor ihren Fenstern zu Nettuno ausbreiten, im Aufblick zu den wilden Herbststürmen, die das Weltall zum ursprünglichen Chaos zurückzuführen scheinen, vernimmt sie »die Stimme des Urprinzips, vor dessen Größe unsere Seele sich in tiefster Andacht anbetend niederwirft und selig aufjauchzt, da sie sich sagen darf: es wirkt auch in mir. Dieses ewig Eine, schaffende Prinzip kann nur der Geist sein, und unsere Seele ist ein vereinzelter Strahl des ewigen Geistes«. Und mit pietätvoller Begeisterung hat sie das Göttliche, das Ewige, »nimmer vollendet in dir«, in jenem Augenblick gepriesen, da sie der Welt ein dankbares Abschiedswort zugerufen, jener Welt, die für sie »die Welt des forschenden Geistes« gewesen.

Es waren dies keine Worte, wie man sie wohl in Zeiten des Frohsinns und der Gesundheit niederschreibt, um sie später in Stunden des Leidens und des Grams, im Augenblick des Todes zu vergessen; sie waren der Ausdruck tiefster Überzeugung, und die Erfahrung sollte zeigen, daß Malwida von Meysenbug in dieser Überzeugung die seltene Seelenstärke schöpfte, die sie zuerst im Leben aufrecht gehalten, und ihr dann auch den Qualen der Krankheit und des langsamen Absterbens nicht allein mit Resignation, sondern mit einer Art freudigem Heroismus zu trotzen die Kraft gab.

Bis zum Herbst 1901 war ihre Gesundheit, wenn auch die Körperkräfte abgenommen, eine merkwürdig zufriedenstellende für ihr hohes Alter geblieben; ihre Arbeitskraft war ungetrübt geblieben. Damals veröffentlichte sie ihr letztes Werk Individualitäten. Während der Monate Juli bis Oktober, die sie in Sorrent und Amalfi zubrachte, erfreute sie sich noch mit Hochgenuß der Schönheiten des Golfs von Neapel. Aber gerade damals war es, daß die ersten Anzeichen des Übels, das sie hinwegnehmen sollte, eine krebsartige Geschwulst der Eingeweide, sich offenbarten; glücklicherweise hat sie niemals über die Natur ihres Leidens genauere Kunde erhalten. Bei ihrer Rückkehr nach Rom fühlte sie sich zu sehr ermattet, um neue Arbeiten vornehmen zu können; sie begnügte sich damit, für ihre Adoptivtochter ihre bedeutenderen Gedichte zu sammeln und eine längere Novelle umzuarbeiten, »Die Improvisatrice« (heute unter dem Titel: »Himmlische und irdische Liebe« veröffentlicht), auf die sie hohen Wert legte. Sie fühlte sich angegriffen genug, um zu befürchten, daß ihre Lebenstage gezählt seien, und drückte den Wunsch aus, stets ein Mitglied der von ihr an Kindesstatt angenommenen Familie um sich zu haben. Sie besaß übrigens auch in Rom selbst hingebende Freunde, deren Gegenwart für sie ein Trost, eine tägliche Freude war und die ihr Interesse am Leben wach hielten. So kam der eine häufig, um sich mit ihr über seine Studien, die Umbildung des religiösen Gefühls betreffend, zu unterhalten; sie nahm lebhaften Anteil an der Ausarbeitung seines Werkes und setzte ihre Unterhaltung darüber mit ihm bis wenige Tage vor ihrem Hinscheiden fort. Eine andere Freundin unterstützte sie ununterbrochen in allen Einzelheiten ihres Hauswesens und nahm ihr die Sorge um alles Geschäftliche ab. Eine dritte ging dem Arzt zur Hand, der Fräulein von Meysenbug behandelte, und widmete sich ganz der Pflege, die ihr Gesundheitszustand erforderte. Eine letzte endlich, die ihr eine wahrhaft kindliche Anhänglichkeit bewies, widmete sich ihr mit aufopferndster Hingebung, so daß ihre letzten Lebensjahre nicht allein dadurch erleichtert und verschönert wurden, sondern wohl auch die Lebensfrist selbst durch alle diese tägliche treue Pflege verlängert worden ist.

So weit es ihr möglich war, verbarg sie jedoch gern vor ihrer Umgebung den Ernst der Lage. Nie war sie lebendiger und munterer in ihren Gesprächen als im Frühjahr 1902. Mit der Zähigkeit des Willens, von dem sie so viele Beweise während ihres Lebens gegeben, hielt sie daran fest, ihre gesamte Tätigkeit in gewohnter Weise fortzuführen, bis der Tag kam, an dem ihre Kräfte sie verließen. Obgleich sie seit Januar 1902 auf die ihr lieben Wagenfahrten verzichten mußte, beschäftigte sie sich nach wie vor ohne fremde Beihilfe mit ihrer stets sorgfältig gepflegten Toilette und ihrem Haushalt, erhielt sich auf dem Laufenden über alles, was Politik, Literatur oder Kunst betraf, und führte einen weitverzweigten Briefwechsel nicht allein mit ihren Freunden, sondern auch mit Unbekannten, die sich bei ihr Rat und Trost holen wollten. Jeden Tag widmete sie eine Spanne Zeit der geistigen Arbeit, eine andere dem Gespräch mit vertrauten Freunden.

Im Sommer war es ihr nicht mehr möglich, in ihre Lieblingsvilleggiatur nach Sorrent zurückzukehren. Sie mußte sich mit dem Meeresstrand von Nettuno, nahe bei Rom, begnügen, und dort war es ihr noch einmal vergönnt, mit Wonne die Schönheit des italienischen Himmels und die Grazie des lustigen und naiven Völkchens, das unter ihren Fenstern in den bläulichen Fluten des Mittelmeeres herumplätscherte, zu genießen. Aber schon erzeugte der Fortschritt ihres Leidens tägliche Schmerzenskrisen und zwang zu fortwährender und peinlicher Pflege. Auch waren ihre Gedanken meist ernster Natur, denn sie fühlte die rasche Abnahme der Kräfte, und so nahm sie denn auch täglich ihre philosophische und moralische Gewissensprüfung vor und bereitete sich mit heiterer, ja mit freudiger Ergebung darauf vor, aus dieser Welt des Scheines abzutreten, um im Schoße der ewigen Wirklichkeit zu vergehen. Ihre Gedanken nahmen oft von selbst eine poetische Form an und sie hat diese in einer Reihe mehr oder minder ausgearbeiteter Gedichte zum Ausdruck gebracht. Einen der am häufigsten wiederkehrenden hat sie in ausgeprägtester Weise in die vier Zeilen zusammengefaßt:

»So versöhnt nun mit den vielen Fehle
Der Erscheinungswelt, mit dem Geschick,
Laß uns heimwärts ziehen, liebe Seele,
Nur das alte Kleid bleib' hier zurück!«

Im Augenblicke, da sie von Nettuno schied, schrieb sie ein anderes Gedicht nieder, das sie noch überarbeiten wollte, das aber in seiner ersten ursprünglichen Form mit wundervoller Anmut und Tiefe des Gefühls ihren Seelenzustand schildert:

Der Tag ist hin. In tiefem Frieden ruht
Die weite Wasserfläche unbewegt;
Im Westen färbt den Himmel milde Glut,
Und rosa Wölkchen ziehen um den Mond.

Verstummt sind all die hohen Stimmen just,
Die aus dem Wasser erst heraufgeschallt,
Von froher Jugend übermütiger Lust
Die da im Wasser Scherz und Frische fand.

Nur in dem Mondlicht schwebt noch geistergleich
Ein weißes Segel, eine Seele scheint's,
Die losgebunden von dem irdischen Reich
In ihre Heimat hinzieht, die Unendlichkeit.

Es ist mein Bild. Ich liege hier allein,
Verstummt ist auch für mich der laute Tag,
Ich fühl's, ich scheide bald!

Und bin ich fern, das Leben setzt sich fort
Ganz wie es war, in buntem Vielerlei.
Man war einmal nur.

Blieb nichts von mir auf dieser Erdenwelt,
Doch in den Herzen, die mich treu geliebt,
Wie der Mondglanz jetzt im Wasser,
So lebt mein Bild Erinnerung.

Kaum war sie nach Rom zurückgekehrt, als die Krankheit entscheidende Fortschritte machte. Nur wenige Monate noch, glaubten die Ärzte, würde sie leben; sie selbst fühlte sich zwar schwächer und schwächer werden, glaubte es aber nur mit einem akuten Leiden zu tun zu haben, das zur abschließenden Krisis drängte, möglicherweise aber mit Willenskraft zu überwinden sei. Diese seltene geistige Kraft war es wohl, die dem abgematteten Körper, weit über das von der ärztlichen Kunst gesteckte Ziel hinaus, Widerstand zu leisten vermochte. Ich kann hier nicht auf die Einzelheiten ihrer letzten Lebensmonate eingehen, wo es glücklicherweise ihrer Adoptivtochter, deren Gemahl und Tochter vergönnt war, ohne Unterbrechung ihr zur Seite zu verweilen. Die Krankheit hatte sich in schrecklicher Weise gesteigert, die Schmerzen wurden eben so heftig, als die Krisen sich häuften, und konnten nur durch Einspritzungen von Morphium gelindert werden; die Ernährung wurde schwierig, und die fortwährende Sorge des Reinhaltens, die für eine so feinfühlige und früher so ganz selbständige Kranke doppelt peinlich sein mußte, nahm eine täglich wachsende Summe von Stunden in Anspruch. Und doch wollte sie sich nicht selbst aufgeben und besorgte selber noch, was sie nur konnte; an jedem Tag empfing sie wenigstens einen Freund und schrieb einige Briefe, hielt sich auch betreffs der politischen Neuigkeiten auf dem Laufenden. Sie las noch von Zeit zu Zeit, sei's den Beethoven ihres jungen Freundes Romain Rolland, sei's die Feldzüge de Wets, des heroischen Burenführers, dessen Taten sie mit begeisterter Teilnahme verfolgt hatte; sie fuhr fort, sich selber anzukleiden, bis mehrfach erfolgtes Hinstürzen der geschwächten Greisin ihr auch dieses verwehrte. Im Januar 1903 gelang es ihr noch, des Morgens in ihrem Bette mit zitternder Hand das Nachwort des Lebensabends niederzuschreiben, so kraftlos schon, daß sie nur mehr fünf bis sechs Zeilen täglich aufzeichnen konnte. Dabei klagte sie niemals; sie erklärte sich glücklich, uns, dank ihrer Krankheit, um sich versammelt zu sehen und bekannte, daß sie kein Recht habe, gegen das Schicksal zu klagen, das ihr gestattet, ein gut Teil alles dessen zu Ende zu führen, was sie einst zu vollbringen geträumt habe. Sie machte uns freundschaftliche Vorwürfe darüber, daß wir uns zu sehr mit ihrer körperlichen Pflege abgäben und uns nicht häufig genug mit ihr über die höheren Sphären des Geistes unterhielten.

Anfangs April sagte sie zu mir: »Ich glaube ein guter Prophet zu sein; gegen Ende des Monats wird's mit meiner Krankheit zu Ende gehen; wenn dann meine Kräfte noch ausreichen, kann ich vielleicht wieder aufstehen; aber sie werden nicht ausreichen!« Sie hatte bereits aller Lektüre, allem Briefschreiben entsagen müssen, und ihr ganzes geistiges Leben beschränkte sich auf die paar Augenblicke traulichen Gesprächs, die sie jeden Tag noch einem ihrer näheren Freunde zu gewähren vermochte. Doch ward ihr noch in diesen letzten Zeiten eine große Freude zuteil; sie hatte den Enkel ihrer Adoptivtochter mit dessen Mutter nach Rom kommen lassen, ein entzückendes Kind von vier Jahren, dessen Gegenwart ihr Herz beglückte. Man konnte nichts Reizenderes sich denken, als sie mit ihm plaudern, spielen und lachen zu sehen, und wie sie ihn mit zitternden Händen kleine Gegenstände und Tiergestalten aus Lehm zu modeln lehrte.

Acht Tage erst vor ihrem Ende verstand sie sich dazu, dauernd im Bett zu bleiben und des Nachts eine Wärterin zu dulden, sowie jeder Sorge des Hauswesens zu entsagen. Von dem Tage an nahm sie auch keine Nahrung mehr zu sich und sprach auch fortwährend von ihrem nahen Tode. Dienstag, den 21. April, der sogenannten Nascita di Roma, dem traditionellen Datum der Gründung der ewigen Stadt, hatte die Freundin, von der ich oben sprach, einen vorzüglichen Künstler kommen lassen, um ihr auf seiner Geige eines ihrer Lieblingslieder zu spielen. Doch sie konnte die Nervenaufregung dieser Musik nicht ertragen und bat, wir möchten uns alle um ihr Lager versammeln, auch die Wärterin und die Dienstboten herbeirufen. Dann hieß sie das Knäblein auf ihr Bett setzen, und ihm die Hand aufs Haupt legend, sagte sie: »Ich segne dich, mein Engel; du wirst den andern allen meinen Segen bringen!« Und darauf sprach sie drei Stunden lang, von neun Uhr bis Mittag, mit uns, wie in froher Verzückung, von ihrer Liebe zu uns, von den großen philosophischen Hoffnungen allen, mit denen sie eintrete in das unbekannte Land des Todes. Sie glaubte und hoffte, daß ihre letzte Stunde geschlagen, und erwartete, inmitten dieses Gespräches in unsern Armen zu verscheiden. Es sei, so sagte sie zu uns, der Tag und die Geburtsstunde von Rom, es sei auch der Tag ihrer neuen Geburt, denn Leben und Sterben sei eins. Zu jeglichem unter uns sprach sie Worte zärtlicher Liebe, jedem nach seiner Art dankend für die erwiesene Freundschaft, für die mannigfache Sorge um sie, sich glücklich schätzend also, inmitten aller ihrer Teuren. Sie könne niemandem ein schöneres Ende wünschen, als das ihrige. Und doch unterbrachen sie fast in jedem Augenblick schmerzliche Krämpfe, aber sie sagte bloß: »Erschreckt nicht, es ist ja nichts, nur Krämpfe sind's und nicht ich leide, sondern nur mein armer Körper. Die Materie ist nichts, der Geist allein besteht!«

Und dieses Wort der Geist kam immer wieder auf ihre Lippen, mit den andern Worten Amore und Pace, die sie fortwährend wiederholte. Dann sprach sie noch: »Ihr werdet mich bis zur Pforte des Paradieses begleiten, aber die Pforte wird vor euch geschlossen werden, und man wird zu euch sagen: Kehrt zurück auf die Erde, noch seid ihr nicht bereit, ihr habt noch zu wirken und zu schaffen! Ich aber bin bereit; ich kann nicht mehr wirken,« fügte sie mit einem Seufzer hinzu. Sie sagte noch: »L'amore fù al principio di tutto. L'ho sempre pensato, ma oggi lo so meglio che mai.« Eigentümlich war es, daß inmitten dieser Abschiedsszenen und trotz der Tränen, die die Umstehenden vergossen, sie selbst nicht weinte, ja daß ihre Augen wie in mystischer Freude erglänzten. Einmal nur entfloß ihnen eine Zähre, da sie von dem Tag sprach, an dem sie dreißig Jahre vorher von ihrer Adoptivtochter am Tag von deren Vermählung Abschied genommen.

Dieses Gespräch sollte das letzte sein. In den folgenden Tagen erlaubte ihr die wachsende Schwäche nur noch, von Zeit zu Zeit ein Wort des Dankes oder ein Wort der Liebe an die sie umgebenden Personen zu richten. Sie wollte von allen ihren Freunden in Rom Abschied nehmen. Ihr Geist blieb ungetrübt, ihr Sinn auf die großen Fragen des Lebens gerichtet; noch am Donnerstag sagte sie zu einem ihrer Ärzte, den sie zum letztenmale sah: »Sie sind ein treuer Sohn Italiens; arbeiten Sie für Italien!« Das letzte Wort, das ich aus ihrem Munde vernahm, am Vorabend ihres Todes, war das Wort Amore.

Samstag nachmittags vermochte sie nicht mehr zu sprechen; in der Nacht vom Samstag auf Sonntag wurde ihre Schwäche so groß, daß wir, ihres letzten Atemzuges gewärtig, uns um ihr Bett versammelten. Es war kein Leiden mehr, kein letzter Kampf, kein Todesröcheln. Um zwei Uhr nach Mittag, am 26. April, verlöschte sie sanft, ohne daß ein anderes äußeres Anzeichen als die Leichenblässe des Gesichtes davon Kunde gegeben, daß sie zu leben aufgehört und daß nun endlich der Wunsch erfüllt, den eine der letzten Zeilen, die sie niederschrieb, aussprach:

»Sie ruht im Vollbesitze ewigen Lebens.«

Nach ihrem Wunsch sind die Überreste von Malwida von Meysenbug im Campo Verano verbrannt worden. Ihre Asche ist in einer Urne nach dem Modell einer Vase, von ihrem Adoptiv-Enkel Edouard Monod modelliert, auf dem Kirchhof von Monte Testaccio dicht bei dem Grab von Goethes Sohn aufbewahrt.

Sie hatte bei ihrem Begräbnis keine kirchliche Begleitung und keine Rede gewollt. »Ich gehöre,« hatte sie geschrieben, »keiner orthodoxen Kirche mehr an, sondern der großen Gemeinde derer, die das Gute, Hohe, Schöne lieben und sich bemühen, es in sich und um sich zu verwirklichen.«

 


 


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