Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Episoden aus den Jahren 1876 und 1877

Es waren bedeutungsvolle Jahre für mich. Schon im Juni des Jahres 76 bereitete sich in Genua ein Fest vor, das das demokratische Italien, das zu der Zeit noch einen Teil der idealen Begeisterung besaß, die seine Einheit hauptsächlich zustande gebracht hatte, – in große Erregung versetzte, und auch meine innigste Teilnahme in Anspruch nahm. Es sollte in Genua das Monument enthüllt werden, das die Stadt ihrem edelsten Sohne, Joseph Mazzini, setzte, der vier Jahre vorher, zwar auf heimischer Erde, aber immer noch ein Exilierter und zwar der einzige Exilierte, gestorben war. Das Festkomitee hatte durch ein Manifest die italienische Nation zur Teilnahme aufgefordert und es war zu erwarten, daß besonders von den demokratischen Arbeitervereinen aus allen Gegenden Italiens ein großer Zuzug stattfinden würde. Denn Mazzini war den Arbeitern immer ein wahrer Freund und Lehrer gewesen. Er zeigte ihnen ihre Rechte, aber er forderte von ihnen auch die Erfüllung ihrer Pflichten, und hätte er die Geschicke Italiens lenken können, von der Zeit seines Triumvirats in Rom an bis zu seinem Tod, er hätte sicher den Sinn für Pflichterfüllung und Gesetzlichkeit in seinem Volk geweckt, und es würde heute auf einer höheren Stufe der Moralität stehen, als es jetzt der Fall ist.

In Genua ist Mazzinis Andenken lebendig unter den arbeitenden Klassen, die es wissen, wie sehr er sie im Herzen trug und für die Verbesserung ihres Schicksals bemüht war. Noch bei meinem letzten Aufenthalt dort zeigte mir ein Arbeiter die Reihe guter, reinlicher Wohnhäuser für Arbeiter, die auf Mazzinis Anregung gebaut wurden, und versicherte mir, daß sie treu an seinen Lehren hingen. Dasselbe bekräftigte mir der Kutscher, der mich auf den schönen Kirchhof von Staglieno fuhr, wo die irdische Hülle Mazzinis ruht. Der Ort liegt weit hinaus vor der Stadt und zieht sich einen Berg hinan, von dem man eine herrliche Aussicht genießt. Hier befindet sich auf der Höhe, in den Fels eingehauen, die geräumige Gruft, in der der Sarg steht. Auf einem freien Platz davor ist das Grab seiner Mutter, mit der ihn die innigste Liebe verband. Sie liegt da, wie um ihn, den ihre aufopfernde Mutterliebe im Leben nicht vor der tiefsten Tragik des Schicksals schützen konnte, wenigstens im Tode vor der Tücke des Hasses und Neides sicherzustellen. Seine Ruhestätte könnte nicht schöner sein, aber seine Vaterstadt will das Verbrechen, das Italien an ihm beging, wenigstens durch ein Monument sühnen, das wie das des Kolumbus davon zeugen soll, daß Genua auf seine großen Söhne stolz ist. Das Fest wird glänzend sein, prachtvolle Ausschmückung der Stadt und des Weges bis zum Kirchhof, Vergnügungen für das Volk, Musik, Illumination – nichts wird fehlen. Nur eins wird fehlen: die Erfüllung dessen, was Mazzini für sein Volk gewollt und gehofft hat, und wofür er das lange Märtyrertum des Exils und die unzähligen bitteren Enttäuschungen mit unerschütterlicher Standhaftigkeit getragen hat. Wie es ihm nur um dies hohe Ziel zu tun war und wie er dabei allen Ehrgeiz, allen persönlichen Erfolg hintenan setzte, davon gibt Alexander Herzen eine schöne Schilderung, nachdem er Mazzini, nach dem Krieg von 1859, wiedergesehen hatte. Herzen spricht von den politischen Ereignissen der Jahre 59 und 60, und wie im Schlachtenlärm und Pulverdampf die befreundeten Gestalten der Freiheitskämpfer eine Zeitlang verschwanden, bis sie dem besorgt forschenden Blick der Freunde endlich unversehrt wieder erscheinen. Dann sagt er: »Aber eine Persönlichkeit stand fern von diesem Rauch, diesem Getöse des Krieges, vom Jubel der Sieges-Festlichkeiten und von den Lorbeerkronen, und erreichte im Schatten der Einsamkeit eine außerordentliche Größe. Unter den Verwünschungen aller Parteien, des betrogenen Pöbels, der wilden Priester, der feigen Bourgeoisie, des piemontesischen Gesindels, wie bei den Verleumdungen aller Organe der Reaktion, vom päpstlich-kaiserlichen Moniteur an bis zu dem Eunuchen der Londoner Geldmäkler, der Times (die den Namen Mazzini nie ohne Hinzusetzung eines gemeinen Schimpfwortes aussprach), blieb Mazzini nicht nur unerschütterlich, sondern er segnete freundlich sowohl Freund wie Feind, wenn sie nur seinen Gedanken, sein hohes Ziel ausführen wollten. Man konnte von ihm sagen, was Puschkin von seinem Abbadonna sagt:

Das Volk, das im geheimen du gerettet,
Verhöhnt nun deine heil'gen weißen Haare.

Nur, daß bei ihm nicht Kutuzoff, sondern Garibaldi stand. Durch die Gestalt seines Helden und Befreiers sagte sich Italien doch nicht von Mazzini los. Warum aber gab ihm nicht Garibaldi die Hälfte seines Kranzes? Warum berief sich der römische Triumvir nicht auf seine Rechte? Warum bat er selbst nicht, an ihn zu denken, und warum schwieg der Volksführer, der doch rein war wie ein Kind, und erlog eine Entzweiung? – Darum, weil beide etwas hatten, was ihnen teurer war als die eigene Persönlichkeit, als Name und Ruhm – Italien!

Aber die gemeine Gegenwart verstand sie nicht. Sie war nicht tief genug, um solche Größe zu fassen. Garibaldi wurde immer mehr eine Gestalt des Cornelius Nepos. Auf seiner kleinen Insel erschien er [als] so antike Größe, so einfach und rein wie ein Held Homers, ohne Rhetorik, ohne Dekoration und Diplomatie, im Epos ist das alles nicht nötig. Als die Sache beendet war, entließ ihn der König, wie man den Postillon entläßt, der uns an Ort und Stelle gebracht hat, und war nur verlegen darüber, was er ihm als Trinkgeld geben sollte, und als er erriet, daß seine Undankbarkeit Garibaldi betrübe, schickte er ihm Fasanen, die er geschossen, Blumen aus seinen Gärten und unterschrieb seine Briefe: »Immer Dein Freund Vittorio.«

Für Mazzini existierten die Menschen nicht, für ihn gab es nur eine Sache. Wieviel Fasanen und Blumen ihm auch der König schicken möchte, es würde ihn nicht rühren, er würde sich aber gleich mit ihm, den er für einen gutmütigen aber leeren Menschen hält, verbinden, wenn dieser für die Sache arbeiten wollte. Mazzini ist der Asket, der Calvin, der Procida der Befreiung Italiens; er ist ewig nur mit einer Idee beschäftigt, stets bereit zu handeln und hält, mit derselben Geduld und Hartnäckigkeit, mit der er aus unklaren Menschen und ihren Bestrebungen eine Verschwörungspartei schuf, auch Garibaldi, seine Genossen und das halb befreite Italien wach, indem seine magere, traurige Hand fortwährend nach Rom zeigt. Als ich früher über Mazzini schrieb, verweilte ich nicht besonders auf seinem Zerwürfnis mit Garibaldi im Jahr 54 und auf der Verschiedenheit unserer Ansichten. Ich tat dies aus Zartgefühl, aber ich hatte unrecht, dieses Zartgefühl ist zu klein für Mazzini. Über solche Menschen muß man nicht schweigen, die braucht man nicht zu schonen. Nach seiner Rückkehr aus dem eroberten Neapel schrieb er mir ein paar Zeilen. Ich eilte beklommenen Herzens zu ihm und erwartete ihn traurig und in seiner höchsten Liebe beleidigt zu finden, denn seine Lage war tief tragisch. Ich fand ihn körperlich gealtert, aber geistig geradezu verjüngt. Er kam mir entgegen, faßte nach seiner Gewohnheit meine beiden Hände und sagte: »So ist es denn endlich vollbracht!« Dabei glänzten seine Augen voll Begeisterung, und seine Stimme bebte vor Erregung. Er erzählte mir von den Ereignissen der letzten Zeit, vor und nach der Expedition nach Sizilien. Aus der Wärme und Liebe, mit denen er von den Waffentaten und Siegen Garibaldis sprach, leuchtete seine Freundschaft für diesen auf das innigste hervor, aber er ereiferte sich auch über dessen blindes Vertrauen in die Menschen und seine Unfähigkeit, sie zu beurteilen und zu unterscheiden. Ich dachte, ob ich wohl einen Hauch, einen Ton der beleidigten Eigenliebe entdecken würde – aber nein! Er war nur traurig, traurig so, wie die Mutter, die der verliebte Sohn auf eine Zeitlang verlassen hat. Sie weiß, daß der Sohn zurückkehren wird und daß er glücklich ist, das ist ihr Ersatz für alles. Mazzini ist voller Hoffnung für Italien, er und Garibaldi stehen sich näher als je. Er erzählte lächelnd, wie die neapolitanischen Volkshaufen sein Haus umgeben, und, von den Agenten Cavours aufgewiegelt, geschrien hätten: »Tod dem Mazzini!« Man hatte sie nämlich, unter anderen Dingen, glauben gemacht, daß er ein »bourbonischer Republikaner« sei. »Es waren gerade«, sagte er, »mehrere unserer Leute bei mir, und unter ihnen ein junger Russe, der war ganz erstaunt, daß wir, als das Geschrei vorüber war, unser unterbrochenes Gespräch ruhig fortsetzten. Fürchten Sie nichts, sagte ich ihm, sie werden mich nicht töten, sie schreien nur.«

»Nein, solche Menschen braucht man nicht zu schonen!« wiederholt Herzen, und er hat recht. Getötet haben sie Mazzini freilich nicht, aber den bittern Kelch des niedrigsten Undanks haben sie ihn trinken machen; er mußte, der einzige Exilierte, endlich unter fremden Namen kommen, um auf der geliebten heimatlichen Erde zu sterben am 10. März 1872, und als der Arzt, der den schon Todkranken behandelte, ihn einen Engländer glaubend, sich wunderte, wie gut er italienisch spreche, sagte der Sterbende: »Es hat auch niemand Italien so geliebt wie ich.« Daß sein Volk ihm jetzt das Denkmal dankbarer Erinnerung setzt, ist gut, aber es kann die Schuld nicht sühnen, die man an dem Lebenden beging.

Im Monat Juli desselben Jahres begab ich mich auf die Reise nach Deutschland, zu den ersten Aufführungen im Theater von Bayreuth. So war es nun wirklich geschehen! Der Theaterbau, bei dessen Grundsteinlegung wir, die wir Wagners Idee verstanden und mit Begeisterung erfaßt hatten, voll freudiger Hoffnung zugegen gewesen waren, denkend, daß das deutsche Volk seinem großen Meister mit bereitwilligster Hilfe entgegenkommen werde – wir, die wir dann jahrelang mit tiefem Unmut die dumpfe Gleichgültigkeit von der einen, die gehässige Bosheit und den kleinlichen Neid von der anderen Seite angesehen hatten, so daß wir beinahe am Gelingen des Werks im bitteren Schmerz verzweifelt wären, – wir sahen uns nun am Ziel. Die hohe Gesinnung eines großherzigen Fürsten hatte auch hier wieder helfend eingegriffen, da die Anzahl der gezeichneten Patronatscheine die nötige Summe nicht eingebracht hatte, und die erste Aufführung im Theater von Bayreuth, die Tetralogie der Nibelungen, war gesichert. Mit wahrem Glücksgefühl zog ich der kleinen deutschen Stadt wieder zu, die ich mir zur letzten Heimat hatte wählen wollen, woran mich die Ungunst des Klimas gehindert hatte. Sie prangte nun im festlichen Schmuck und in der Hoffnung einer leuchtenden, ganz einzig dastehenden Zukunft, die ihr der Genius mit seiner Wahl zu verheißen schien. Wie durch einen Zauber war dies vergessene Heim der geistvollen Schwester Friedrichs des Großen, der Markgräfin Wilhelmine, wieder zum Leben gerufen, und zu welchem Leben! Hier sollte ein Kulturwerk entstehen, wie die moderne Geschichte nichts Ähnliches aufzuweisen hatte, ein Kulturwerk im griechischen Geist, wo nur einmal im Jahr, losgelöst von den Fesseln der Alltäglichkeit, das deutsche Volk sich versammeln und im Spiegelbild höchster Kunstschöpfungen, sein eigenes edelstes Selbst verklärt erkennen sollte. So wenigstens hatte ich Bayreuth verstanden, so wenigstens, glaube ich, verstand es Friedrich Nietzsche damals, und verstand es die kleine Anzahl derer, die sich mit Begeisterung von Anfang an um den Meister geschart hatten. Mein Aufenthalt, der für die ganze Zeit der Aufführungen geplant war, verhieß mir in jeder Beziehung ungemein freundlich zu werden, denn meine töchterliche Freundin Olga, ihr Mann, ihre Schwester und ihr kleiner Sohn kamen ebenfalls, die ganze Zeit mit mir zu verbringen; dazu gesellten sich manche liebe Freunde beinahe täglich in dem zu unserer Wohnung gehörigen schönen Garten, Nietzsche, Eduard Schuré aus Paris und andere, so daß Wagner, als er eines Tages zu uns kam, scherzend sagte: »Nun, bei Euch kommt hinter jedem Busch ein Professor hervor,« denn auch Olgas Mann, Gabriel Monod, war ja Professor. Viele der mitwirkenden Künstler kamen und musizierten bei uns, kurz, es war ein fröhliches, genußreiches, geselliges Leben, das die Pausen zwischen den Aufführungen ausfüllte. Nun aber diese selbst! Wer vermöchte den Eindruck, die freudige Rührung und Ergriffenheit zu beschreiben, die man empfand, als sich zum erstenmal die Räume dieses künstlerisch erdachten, so einfach und so edel vornehm ausgeführten Baues öffneten; als man sogleich begriff, wie nur so ein großes Kunstwerk würdig anzuhören sei, indem ein jeder Sitz im Haus nur die Bühne als Augenziel hatte, und nicht eine hell erleuchtete Logenreihe mit geputzten Zuschauern darin; als dann die Lampen erloschen, das unsichtbare Orchester seine wunderbaren Töne wie aus einer Geisterwelt hervorsandte, und als endlich der Vorhang auseinanderging und über den »mystischen Abgrund«, wie Liszt den tiefen Raum zwischen der Bühne und den Zuschauern genannt hatte, hinüber die Szene wie ein Traumbild sichtbar wurde, und Handlung und Musik die Sinne so gefangen nahmen, daß man, der Alltagswelt entrückt, eine ideale Wirklichkeit erlebte! Nur wer ihn miterlebt hat, diesen ersten, entzückenden Eindruck der kaum für möglich gehaltenen Verwirklichung eines idealen Schöpfungsgedankens, kann es begreifen, mit welcher Inbrunst sich das Herz an die Hoffnung hingab, daß eine neue Kulturepoche, so wie unsere größten Geister sie geträumt, für Deutschland emporkeimen werde, daß die materielle, durch die Waffen gewonnene Macht, sich verklären könne in dem, was des deutschen Geistes bestes Erbteil ist. Kein späterer Erfolg des Bayreuther Unternehmens kam jemals wieder dem Glück dieser Hoffnung gleich, denn wie Hohes auch erreicht wurde und noch wird, diese Hoffnung schlug doch fehl, das deutsche Volk blieb hinter seiner Aufgabe zurück.

Damals aber störte nichts den holden Traum; jede kleine Kritik verstummte, der Neid und die Bosheit bemühten sich umsonst, Gift in den Freudenbecher zu mischen, und was etwa noch mangelhaft blieb bei der Ausführung, wurde kaum gefühlt in der Glorie des Ganzen. Und wie befestigte sich da mein lang gehegter Gedanke, daß das Theater zu einem der edelsten Kulturmittel für das Volk werden müßte, statt daß es heutzutage beinahe ein Mittel der Korruption geworden ist. Theaterbauten, dem zu Bayreuth ähnlich, sollten sich an verschiedenen Orten Deutschlands erheben, das Geld fände sich schon, wenn man ernstlich wollte, warum findet es sich z. B. für die vielen neuen unnützen Kirchen, die man baut, oder für die ungeheuren Militärausgaben in Friedenszeit? Ebenso wie für das Musikdrama müßte für das rezitierende Drama gesorgt werden; höchstens zweimal im Jahr vollendete Aufführungen der edelsten Meisterwerke, und zwar mit so billigen Preisen, daß auch die Unbegüterten daran teilnehmen und durch den Einfluß hoher Kunst zur Gesittung geführt werden könnten. Das wären Kulturaufgaben für die Regierungen, die besser wirken würden gegen Roheit und Verbrechen, als Gefängnisse und Zuchthäuser.

Damals glaubte ich noch an die Möglichkeit, solche Dinge ins Leben zu rufen, jetzt ist die Hoffnung wieder entflohen, weit in eine nebelhafte Zukunft – ach wie weit!

Die schönen Tage aber gingen froh zu Ende; wir hatten Herrliches erlebt und gingen mit Schätzen der Erinnerung im Herzen fort. Am Schluß der Aufführungen vereinte noch einmal ein großes Bankett das ganze zuletzt gebliebene Publikum, wobei Wagner eine herrliche Rede hielt, die mit den viel zitierten, oft mißverstandenen Worten schloß: »dann haben wir eine deutsche Kunst«. Nach ihm sprach Liszt, den er gerührt als einen der edelsten Förderer seines Werks gepriesen, mit der ihm eigenen Grazie und Feinheit der Bildung wenige aber schöne Worte und sagte, wie er sich vor Dante Alighieri und vor Michelangelo beuge, so beuge er sich nun vor dem Genius, dessen Tat wir erlebt hätten. Die Umarmung der zwei Männer, jetzt sich auch verwandtschaftlich so nahe, war ein schön bewegter Schluß eines Kulturfestes von der allerhöchsten Bedeutung. Leider war die Welt noch nicht reif genug dafür.

Nach einem Aufenthalt im Verein mit Olga in einem deutschen Badeort ging ich im Herbst nach Italien zurück, und zwar noch nicht zu bleibendem Aufenthalt nach Rom, sondern zunächst nach Neapel zur Ausführung eines Planes, der von mir erdacht, sich dort verwirklichen sollte. Die Gesundheit Friedrich Nietzsches, mit dem mich nun schon seit dem Jahre 72 warme Freundschaft verband, hatte sich nämlich in solchem Maße verschlechtert, daß er für nötig fand, einen längeren Urlaub von der Universität in Basel zu erbitten, um sich einmal ganz auszuruhen, und zwar zog es ihn nach dem Süden, da es ihm schien, als müßte die wonnevolle Natur dort ihn, den schönheitsdurstigen Griechen, ganz herstellen können. Er hatte aber vorsorgliche Umgebung und Pflege nötig, und da weder Mutter noch Schwester ihn damals begleiten konnten und ich mir noch kein festes Asyl in Rom gegründet hatte, so bot ich ihm schriftlich an, mit ihm zusammen nach Sorrent zu gehen, um den Winter da zu verbringen und im glücklichen dolce far niente des Südens Erholung, ja Genesung zu suchen. Er antwortete: »Verehrteste Freundin, ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen für das in Ihrem Briefe Ausgesprochene und Angebotene danken soll; später will ich Ihnen sagen, wie zur rechten Zeit dies Wort von Ihnen gesprochen wurde und wie gefährlich mein Zustand ohne dieses Wort geworden sein würde; heute melde ich Ihnen nur, daß ich kommen werde« usw. – In einem späteren Brief schrieb er dann noch: »Ungefähr alle acht Tage habe ich meinen Leiden (Kopf- und Augenschmerzen) ein dreißigstündiges Opfer zu bringen, deshalb vertröste ich mich ganz und gar auf das Zusammensein mit Ihnen am Golf von Neapel. Wir wollen dort schon die Gesundheit erzwingen. An dieser Hoffnung hat mich bisher nichts irre gemacht.«

Ich hatte bereits vorbereitend eine Fahrt nach Sorrent gemacht und eine Wohnung gefunden, wie sie für die kleine Kolonie paßte, zu der unser Duo angewachsen war. Nietzsche hatte nämlich einen von ihm sehr geschätzten Freund, Dr. Paul Rée, und einen seiner Schüler, einen jungen Basler, Brenner mit Namen, zum Mitgehen nach Sorrent vorgeschlagen, und da ich nichts dagegen hatte (ich kannte nur den letzteren, da er seiner Gesundheit wegen in Rom gewesen war), so wurde auch auf Wohnen in demselben Hause Rücksicht genommen. Es fand sich eine unbesetzte, von einer Deutschen eingerichtete Pension, mitten in einem Weingarten, wo im ersten Stock sich Zimmer für die drei Herren, mit Terrassen, im zweiten Stock Zimmer für mich und meine Jungfer, und ein großer Saal zum gemeinschaftlichen Gebrauch vorfanden; von den Terrassen hatte man die herrlichste Aussicht über den grünen Vorgrund des Gartens hinweg auf den Golf und den eben damals sehr aufgeregten, abends Feuersäulen emporsendenden Vesuv. Nachdem ich so für Unterkommen gesorgt hatte, ging ich nach Neapel zurück, meine Gefährten zu erwarten. Sie kamen zu Schiff von Genua her, und Nietzsche war etwas enttäuscht, weil ihm die Seefahrt und die Ankunft in Neapel mit dem schreienden, lärmenden, zudringlichen Volk sehr unangenehm gewesen waren. Gegen Abend jedoch lud ich die Herren zu einer Fahrt auf den Posilip ein. Es war einer jener Abende, wie man sie nur dort erlebt, Himmel, Erde und Meer schwammen in einer Glorie von Farbentönen, die man nicht beschreiben kann, die aber die Seele durchdringen mit dem Zauber einer wonnevollen Musik, einer Harmonie, in der sich jeder Mißton auflöst und verschwindet. Ich sah, wie Nietzsches Gesicht sich in freudigem, beinahe kindlichem Staunen aufhellte, wie ihn innige Rührung überkam, und endlich brach er in einen Jubelausruf über den Süden aus, den ich als eine gute Vorbedeutung für seinen Aufenthalt begrüßte.

In Sorrent nun richtete sich das Leben ganz behaglich ein. Am Morgen fanden wir uns nie zusammen, ein jeder blieb in völliger Freiheit bei seiner eigenen Beschäftigung. Erst das Mittagessen vereinigte uns, und zuweilen am Nachmittag ein gemeinschaftlicher Spaziergang in der zauberischen Umgebung, zwischen Orangen- und Zitronengärten hin, deren Bäume, hoch wie unsere Äpfel- und Birnbäume, ihre von goldenen Früchten beladenen Äste über die Gartenumzäunung herüber, den Weg beschattend, hängen ließen, oder hinauf auf die sanften Höhen, oft an Bauernhöfen vorüber, wo anmutige Mädchen in heiterem Zusammensein die Tarantella tanzten, nicht die gekünstelte, wie sie jetzt von geputzten Banden für die Fremden in den Gasthöfen getanzt wird, sondern in ursprünglicher, von natürlicher Grazie und Sittsamkeit begleiteter Art. Oft zogen wir auch zu weiteren Ausflügen auf Eseln aus, die dort für die unwegsameren Bergtouren bereit gehalten werden, und da gab es meist viel Lachen und Spaß, besonders mit dem jungen Brenner, dessen lange Beine beinahe mit denen des Esels zugleich auf der Erde fortliefen, und dessen noch etwas ungeschickte schülerhafte Art die Zielscheibe gutmütiger Scherze wurde. Am Abend vereinte uns aufs neue das Abendessen und nach diesem im gemeinschaftlichen Salon angeregtes Gespräch und gemeinsame Lektüre.

Der erste Monat wurde noch durch die Anwesenheit von Wagner und seiner Familie verschönt, die nach den Anstrengungen des Sommers während der Aufführungen durch eine Reise in Italien Erholung suchten. Sie wohnten im Hotel, wenige Schritte von uns, und ich verbrachte natürlich den größten Teil meiner Zeit mit ihnen, besonders mit der von mir so innig geliebten und hochgeschätzten Cosima, mit der das Zusammensein mir stets geistig und gemütlich den höchsten Genuß gewährte. Wagner las dort mit großem Interesse die Geschichte der italienischen Republiken von Sismondi und rief Cosima und mich oft herbei, um uns eine oder die andere Episode, die ihm besonders gefiel, vorzulesen, so unter anderen eine, die er nachher in Rom dem damals noch lebenden, sehr begabten italienischen Dichter Cossa zu dramatischer Bearbeitung empfahl, die aber nicht zustande kam. Öfters wurde auch unser Quatuor abends zu Wagners geladen; es befremdete mich allerdings dabei, in Nietzsches Reden und Benehmen eine gewisse gezwungene Art von Natürlichkeit und Heiterkeit zu bemerken, die ihm sonst ganz fremd war; da er sich aber nie mißfällig über oder widerstrebend gegen den Verkehr äußerte, so kam mir der Verdacht nicht, daß eine Änderung in seinen Gesinnungen vorgegangen sein könnte, und ich gab mich mit ganzem Herzen diesem Nachgenuß von Bayreuth im Verein mit so ausgezeichneten Menschen hin. Das Glücksgefühl, in solcher geistigen Intimität zu leben, gab mir eines Abends, als wir alle dort zu Tisch waren, Gelegenheit, einen von mir sehr geliebten Spruch von Goethe zu zitieren: »Selig wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt, einen Freund am Busen hält und mit dem genießt, was von Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt bei der Nacht.«

Wagners kannten den Spruch nicht, waren aber entzückt davon, und ich mußte ihn wiederholen. Ach wie wenig ahnte ich da, daß die Dämonen, die auch im Labyrinth der Brust bei der Nacht wandeln und das göttliche Geheimnis der Sympathie zwischen edlen Geistern feindlich betrachten, bereits am Werk waren, um zu entzweien und zu trennen.

Wagners schieden Ende November, und nun begannen erst recht unsere Lese-Abende. Wir hatten eine reiche und vorzügliche Auswahl von Büchern mit, aber das Schönste unter dem Mannigfaltigen war ein Manuskript, nach den Vorlesungen von Jakob Burckhardt über griechische Kultur, in Basel an der Universität gehalten, von einem Schüler Nietzsches geschrieben und diesem auf die Reise mitgegeben. Nietzsche gab dazu mündliche Kommentare, und gewiß hat kaum je eine herrlichere und vollkommenere Darlegung dieser schönsten Kulturepoche der Menschheit stattgefunden, als hier schriftlich und mündlich, durch diese beiden größten Kenner des griechischen Altertums. Meine Vorliebe für jene herrliche Blütezeit des menschlichen Geistes steigerte sich dadurch zu höchster Begeisterung. So entzückte mich die Definition Burckhardts über das Wesen des griechischen Volks: »Pessimismus der Weltanschauung und Optimismus des Temperaments.« Gewiß eine treffliche Mischung, um ein vollendetes Volk zu schaffen. Der Pessimismus der Erkenntnis verhindert die falschen Anschauungen und Schlüsse im Leben, und das optimistische Temperament treibt dessenungeachtet zu Taten und zur Idealisierung der als schlecht erkannten Welt. »Die allgemeine Weltanschauung, die sich im Mythos der Heroen offenbart,« sagt Burckhardt ferner, »ist wieder die, daß die Welt schlecht ist, aber es ist gar nicht die Reflexion, sondern das innerste Träumen und Sinnen der Griechen, das den Mythos schafft. Und zwar wird die Welt immer schlechter; Mord, Haß, Neid herrschen im Heroentum; dazu kommt die schreckliche Denkweise der mythischen Frauen, Medea, Klytämnestra und andere. Die letzte Ermahnung des Amphiaraus an seine Söhne ist: ›Ermordet eure Mutter‹. Die seltenen, herrlichen, reinen Gestalten, wie Achill, Antigone usw., müssen früh sterben.«

Der Mythos ist also das ewige Bild der Nation, in der der Grieche seine Vorzeit und sich selbst mit all seinen Gedanken, seiner Philosophie, seinen Eigenschaften, seiner Lebensauffassung anschauen wollte. So hat auch Wagner seine Nibelungen zum Mythos des deutschen Volkes geschaffen, nicht bloß, indem er die Vergangenheit im alten Mythos wiederholte, sondern indem er das ewige Wesen des deutschen Volks darin bespiegelt.

Wie tief und herrlich erschien mir dann wieder folgende Betrachtung, als Burckhardt von der Religion sprach und sagte, es sei ein ewig denkwürdiges Schauspiel, diese uralte Tradition zu sehen, die, von der prachtvollsten Phantasie getragen, niemals durch eine Theologie korrigiert worden sei. Als die Philosophen es endlich hätten versuchen wollen, sei es zu spät gewesen. Die griechischen Götter, obgleich herrliche Wesen, seien wenig geachtet worden, der Kultus, obgleich riesengroß, habe es doch nicht vermocht, die trübsten Gedanken über das Erdenleben zu beschwören. Diese Widersprüche, meint er, würden wir wohl nie bis zur völligen Klarheit entwirren können, und doch würden wir dies schöne Rätsel nicht los werden bis ans Ende der Tage. Dem ähnlich sei es auch mit dem Heroenkultus; das heroische Zeitalter wäre durchaus nicht das goldene gewesen, sondern habe in vollem Maße das Böse gekannt. Die Perser, die Ägypter, selbst die Inder hätten ein Heroentum gehabt, doch bei allen habe sich darüber eine Theologie entwickelt, nur die Griechen seien davon frei geblieben. Ihre Heroen stammten von den Göttern, waren aber zugleich gewaltige Menschen, die wieder nach oben rangen. Die Griechen waren überzeugt, daß das Große und Herrliche nicht langsam ansetzt, wie der Kristall in der Felshöhle, und daß die Vögel es nicht auf ihren Fittichen zusammentragen, sondern daß es dazu großer Individuen bedarf, ohne die nichts geschehen kann.

Nietzsche sagte, daß die eigentliche Blütezeit des griechischen Volkes die drei Jahrhunderte nach dem heroischen Zeitalter bis zu der Schlacht bei Marathon gewesen seien, die Zeit des Agon, des Wettkampfes, wo ein jeder der erste sein konnte, weil die Eifersucht des großen Strebens es nicht litt, daß einer zu hoch emporrage. Er hatte dies Thema schon früher einmal in einem Aufsatz, »Homers Wettkampf« betitelt, berührt und erwähnt, daß die vorhomerische Zeit eine Zeit äußerster Grausamkeit gewesen sei, die den Mord und die Kinder der Nacht, der grausamen Eris entsprungen, erzeugt habe, daß aber auch die hellenische Blütezeit Neid und Haß angenommen habe, doch als Kinder einer anderen milderen Eris, die alle ruhmreichen schönen Taten veranlaßte, indem sie den Wettkampf hervorrief. Dieser entsprang dem glühenden Streben, kein einzelnes hervorragendes Genie aufkommen zu lassen, sondern ein ganzes Volk gleichbegabter, in Vorzüglichkeit miteinander wetteifernder Menschen zu bilden, wo das Beispiel des einen den andern zu gleich herrlichen Taten anfeuern sollte. Das erklärt auch in mildernder Weise den Ostrazismus, der gerade die bedeutendsten Menschen traf, weil ihre hervorragende Größe bedenklich wurde. Diesen Neid gegen die Größe einzelner Sterblichen fühlten selbst die Götter; so verblendeten sie z. B. die Sinne des Miltiades, weil er nach Marathon von zu hohem Ruhm umstrahlt war, damit er in der Liebe für eine Priesterin entbrenne, bei Nacht die heiligen Tempelmauern übersteige, um ihr zu nahen, dann aber von Grauen ergriffen zu Boden stürze; verwundet wurde er gefangengenommen und verurteilt.

Welch ein Feuer der Größe mußte in diesen griechischen Seelen brennen, daß sie auch selbst die Tyrannei des Genius nicht ertragen konnten! Denn es war ja nicht das Niveau der Mittelmäßigkeit, das sie erstrebten, sondern Neid und Haß waren ihnen Tugenden, die dem Streben nach dem Höchsten Nahrung gaben. Vielleicht kann man es aber auch so erklären, daß sie es nicht ertragen konnten, einen Flecken an ihren Heroen zu sehen, und wenn eine heller strahlende Persönlichkeit plötzlich eine Schwäche zeigte, eine Nachtseite der Natur, so verbannten sie diese rasch, um sich das göttergleiche Lichtbild nicht verdunkeln zu lassen.

Wie viele Seiten geistvoller Auffassung der Lebensvorgänge bei den Griechen kamen da zur Sprache. Ich erzählte, daß es mir kürzlich bei einem Besuch im Museum in Neapel aufgefallen sei, wie anmutig und fein die Griechen die aufsteigende Stufenleiter lebender Organismen darzustellen gewußt hätten, ohne der Affentheorie zu bedürfen. Ihre Satyren, Kentauren, Faune sind doch nur Halbmenschen, Übergangsgeschöpfe, denen der schöne Mensch und zuletzt der Halbgott folgt. Aber wie reizend ist diese Übergangswelt gezeichnet. Wer würde nicht fröhlich, wenn er die tanzenden Faune ansieht, jene unschuldig sinnlichen Naturkinder, die im heiteren Licht des Tages noch nicht viel über der Genußfähigkeit des Schmetterlings, der von Blume zu Blume fliegt, stehen. Der Neapolitaner aus dem Volk ist noch ganz der antike Faun; es sind dieselben Bewegungen beim Tanz, dasselbe tierische glückliche Lächeln, das Wesen, das, wie das Kind und das Tier, nur Gegenwart kennt, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Wie feinfühlig aber mußten sie auch sein, um die leisesten Übergänge im seelischen Leben zu charakterisieren. So stellte der Künstler Skopas den Himeros, die Sehnsucht, und Pothos, das Verlangen, in einer Gruppe mit Eros dar. Wie fein mußte er empfinden, um diese nahen Verwandten zu unterscheiden. Und wieder ein anderes Beispiel: Mars hieß der Leuchtende, und war ursprünglich eins mit Apoll bei Griechen und Italikern; wurde erst später Gott des Kriegs. Dionysos hingegen war der Dunkle, und war eins mit Orpheus. Wie geistvoll ist das: Der Krieg entzündet sich am Tag, an der leuchtenden Helle, am Schein, der die Menschen in die Leidenschaften des Wahns verstrickt. Die Musik steigt aus den dunklen Tiefen der Seele auf, deshalb muß Orpheus in das Reich der Nacht hinab, um die verlorene Liebe durch Töne wieder zu erringen. Die Nacht gebiert die Musik, den Ausdruck des tiefsten wahren Lebens, außerhalb alles Scheins. In der Nacht, der für uns scheinbaren Nacht, ruht also das eigentliche harmonische Dasein, das, von dem uns die Musik in Ahnungen redet.

Nachdem wir die Vorlesungen Burckhardts beendet hatten, lasen wir Herodot und Thukydides. Der letztere riß mich zu höchster Bewunderung hin. Seine Schilderung vom Untergange Athens durch die Niederlage bei Syrakus, wo zum erstenmal dessen bis dahin unbesiegte Seemacht unterlag, die Flotte zerstört, das glänzendste Heer vernichtet wurde, ergriff mich tief durch ihre furchtbare Tragik. Thukydides nennt es das größte Ereignis der griechischen Geschichte. Mir schien es der tragischeste Untergang einer Weltgröße in der ganzen Weltgeschichte, denn alle die, die da untergingen, wußten es, daß mit ihnen das Vaterland unterging, und ich empfand den Schmerz des alten, edlen Nikias mit ihm; hatte er es doch vorausgesagt und gegen den kühnen Alkibiades vom Kriege abgeraten. Was mich aber besonders am Thukydides rührte und ergriff, das war die unendliche Einfachheit, mit der die Menschen das Höchste sagen, als wär' es nur das Gewöhnliche, das dem Menschen Angemessene. In der modernen Welt sagt man das Höchste mit Pathos als etwas Außergewöhnliches, weil man gewöhnlich trivial spricht.

Am Morgen des ersten Januars 1877 machte ich allein mit Nietzsche einen schönen Spaziergang längs des Meeres, und wir setzten uns auf einen Felsvorsprung, der weit in die tiefblaue Flut hineinragte. Es war schön wie ein Frühlingsmorgen; laue Luft wehte und von den Ufern grüßten die goldenen Früchte der grünen Orangenbäume. Wir waren beide in der friedlich-harmonischsten Stimmung, liebliche, bedeutende Gespräche standen im Einklang mit dem glückverheißenden Anfang des Jahres, und wir kamen schließlich überein, daß das wahre Ziel des Lebens sein müsse, nach Weisheit zu streben. Nietzsche sagte, daß dem rechten Menschen alles dazu dienen müsse, auch das Leiden, und daß er insofern auch das letzte leidenvolle Jahr seines Lebens segne. Ja, sagte ich, für alle diese höchsten Wahrheiten hat doch auch die Bibel immer ein schönes Wort, das im Grunde dasselbe meint, was wir meinen; sie drückt es nur so aus: Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.

Wie milde, wie versöhnlich war Nietzsche damals wie sehr hielt seine gütige, liebenswürdige Natur noch dem zersetzenden Intellekt das Gleichgewicht. Wie heiter konnte er auch noch sein, wie herzlich lachen, denn bei allem Ernst fehlten doch auch Scherz und Heiterkeit nicht in unserem kleinen Kreise. Wenn wir so abends beisammen saßen, Nietzsche gemütlich im Lehnstuhl hinter seinem Augenschirm, Dr. Rée, unser gütiger Vorleser, beim Tisch, wo die Lampe brannte, der junge Brenner am Kamin mir gegenüber und mir helfend Orangen schälen für das Abendbrot, da sagte ich oft scherzend: »Wir repräsentieren doch wirklich eine ideale Familie; vier Menschen, die sich früher kaum gekannt, kein verwandtschaftliches Band haben, keine gemeinsamen Erinnerungen, und nun in vollkommener Eintracht, in ungestörter, persönlicher Freiheit, ein geistig und gemütlich befriedigtes Zusammenleben führen.« Auch fehlte es bald nicht an Plänen für eine Erweiterung des so glücklich gelungenen Experiments. Ich erhielt damals gerade besonders viele Briefe von Frauen und Mädchen aus der unbekannten Menge, die mir infolge meiner »Memoiren einer Idealistin« ihre Sympathie kund gaben, wie dies übrigens auch in der langen Reihe folgender Jahre zu meiner innigsten Freude und Befriedigung fortwährend der Fall gewesen ist. Diese Tatsache gab einer Idee Nahrung, die bei mir entsprungen war, und die ich meinen Gefährten mitgeteilt hatte, nämlich eine Art Missionshaus zu gründen, um erwachsende Menschen beiderlei Geschlechts zu einer freien Entwicklung edelsten Geisteslebens zu führen, damit sie dann hinausgingen in die Welt, den Samen einer neuen, vergeistigten Kultur auszustreuen. Die Idee fand den feurigsten Anklang bei den Herren; Nietzsche und Rée waren gleich bereit, sich als Lehrer zu beteiligen. Ich war überzeugt, viele Schülerinnen herbeiziehen zu können, denen ich meine besondere Sorge widmen wollte, um sie zu edelsten Vertreterinnen der Emanzipation der Frau heranzubilden, damit sie helfen, dieses so wichtige und bedeutungsvolle Kulturwerk vor Mißverständnis und Entstellung zu bewahren und in reiner, würdevoller Entwicklung zu segensvoller Entfaltung zu führen. Wir suchten schon nach einem passenden Lokal, denn in dem herrlichen Sorrent, in der wonnevollen Natur, und nicht in städtischer Enge sollte die Sache zustande kommen. Wir hatten unten am Strand mehrere geräumige Grotten, wie Säle innerhalb der Felsen, offenbar durch Arbeit erweitert, gefunden, in denen sogar eine Art Tribüne wie expreß für einen Vortragenden bestimmt zu sein schien. Die dachten wir in heißen Sommertagen als sehr geeignet, um unsere Lehrstunden da zu halten, wie denn überhaupt das ganze Lehren mehr ein gegenseitiges Lernen nach Art der Peripathetiker, und im allgemeinen mehr nach griechischem als modernem Muster sein sollte. Dieser Plan beschäftigte uns oft, und wir hielten die Ausführung nicht für unmöglich, hatte ich doch einst in Hamburg in der Hochschule schon Ähnliches mit dem schönsten Erfolg gekrönt erlebt. Und dennoch scheiterte auch dieses wieder, wie so vieles Ideale, an den Verhältnissen, die störend dazwischen traten, besonders von Seiten der Herren.

Unsere gemeinschaftlichen Lektüren nahmen jetzt einen anderen Charakter an. Wir verließen das schöne griechische Altertum, und es kam ein Gemisch von neueren, doch stets bedeutenden Sachen an die Reihe. Rée hatte eine besondere Vorliebe für die französischen Moralisten und teilte diese auch Nietzsche mit, der sie vielleicht schon früher gelesen hatte, deren nähere Bekanntschaft aber sicher nicht ohne Einfluß auf seine spätere Entwicklung geblieben ist und ihn namentlich zu dem Ausdruck seiner Gedanken in Aphorismen geführt hat, wie ich später Gelegenheit hatte zu bemerken. Auch beeinflußte ihn offenbar die streng wissenschaftliche, realistische Anschauungsweise Dr. Rées, die seinem bisherigen, immer von dem ihm innewohnenden poetischen und musikalischen Element durchdrungenen Schaffen beinah etwas Neues war und ihm ein fast kindlich staunendes Vergnügen machte. Ich bemerkte das öfter und sagte es ihm auch scherzend als Warnung, da ich Rées Anschauungen nicht teilte, trotz meiner hohen Achtung für seine Persönlichkeit und meiner Anerkennung seiner gütigen Natur, die sich besonders in seiner aufopfernden Freundschaft für Nietzsche zeigte. Sein Buch »Über den Ursprung der moralischen Empfindungen« erregte mir nur den entschiedensten Widerspruch, und ich nannte ihn im Scherz »chemische Kombination von Atomen«, das er sehr freundlich hinnahm, während uns im übrigen herzliche Freundschaft verband.

Wie sehr seine Art, die philosophischen Probleme zu erklären, auf Nietzsche Eindruck machte, ersah ich aus manchen Gesprächen. So kam es einmal auf einem Spaziergang zwischen Nietzsche und mir zu einem philosophischen Streit, indem er das Gesetz der Kausalität leugnete und sagte, es gäbe nur ein Nacheinander von Dingen und Zuständen, aber nicht als Wirkung der einen aus den anderen; was wir als Ursache und Wirkung empfänden, seien unerklärte Tatsachen. Die griechischen Philosophen, die Eleaten hätten zwar das Seiende, das Unveränderliche für die alleinige Ursache und die wahre Realität erklärt, dem widerspräche aber in jedem Augenblick die Welt als ein ewig Werdendes und Wandelbares. Ich entgegnete ihm, daß sicher das Seiende, das Unveränderliche die wahre Realität sei, das Ding an sich, das sogenannte Metaphysische. Wir müßten uns nur nicht fürchten, das anzuerkenen. Die scheinbar ewig werdende Welt sei nur die Erscheinung des Seins, nur für uns sei sie Wechsel, für unsere beschränkten Sinne. Aber in all dem Wandel, in Leben und Tod, in Werden und Vergehen offenbare sich das All-Eine, das Sein. Die Inder wußten es schon: »tat wam asi«, das bist du. – Ein anderes Mal in einem Gespräch über Schopenhauer äußerte er, es sei der Irrtum aller Religionen, eine transzendentale Einheit hinter der Erscheinung zu suchen, und das sei auch der Irrtum der Philosophie und des Schopenhauerischen Gedankens von der Einheit des Willens zum Leben. Die Philosophie sei ein ebenso ungeheurer Irrtum, wie die Religion. Das allein Wertvolle und Gültige sei die Wissenschaft, die allmählich Stein an Stein füge, um ein sicheres Gebäude aufzuführen. Die beiden ersten hielten die Menschen auf in ihrem Gang zur Wahrheit, sie drückten nur die Tendenz unseres Geistes aus, die Lösung des Lebensrätsels ein für allemal finden zu wollen.

Ich wendete ihm ein, daß mir das gerade ein Irrtum schien, diese Einheit als etwas Transzendentales anzusehen, während sie doch gerade das alles Ausfüllende, in der Erscheinung sich Kundgebende sei. Weil die Beschränktheit unseres Erkenntnisvermögens der Hilfsmittel von Raum und Zeit bedürfe, so hätten wir doch nicht das Recht, das außerhalb Liegende transzendental zu nennen, nur unsere Wahrnehmungsfähigkeit reiche nicht daran. Dennoch sei es ein logischer, vernunftgemäßer Schluß, daß das außer unserer Wahrnehmung Liegende dieselben Bedingungen in sich trüge, und sich nach denselben Gesetzen bewege, wie das uns Erkennbare, daß also da nicht von transzendental die Rede sein könne. Und um wie viel weniger noch sollten wir die herrliche Macht des Gedankens in ein unhaltbares transzendentales Gebiet verweisen, der, eine enge Form nach der anderen abwerfend, siegreich durch die Nacht der Zeiten vorwärtsschreite zu immer größerer Klarheit. Es scheine mir das nur der alte Hochmut der Menschen zu sein, der, nachdem die Theorie der Abstammung vom Affen die der Einblasung göttlichen Odems zerstört habe, sich nun in die vornehme Abweisung des Metaphysischen, Transzendentalen flüchte, und sich nur an das Experiment halte – an die oft so armselige Tatsache!

Und was doch gerade die frühere Schrift Nietzsches »Schopenhauer als Erzieher« so hoch stellte, war, daß er es darin aussprach, die Kultur habe einen metaphysischen Zweck!

Mit dem beginnenden Frühjahr schieden Rée und Brenner, um ein jeder in seine Heimat zurückzukehren. Nietzsche und ich blieben allein, etwas in Not wegen unserer Abende, da wir beide, augenleidend, nun unseres trefflichen Vorlesers beraubt waren. Aber Nietzsche sagte fröhlich: »Nun, da wollen wir desto mehr zusammen reden.« Und so geschah es auch, denn es fehlte nie an reichem Stoff zu Gesprächen. So sprachen wir unter anderem einmal über die »Braut von Korinth« und Nietzsche bemerkte, Goethe habe dabei an die alte Sage vom Vampyr gedacht, die antik und schon von den Griechen gekannt gewesen sei, und habe es damit versinnlichen wollen, wie die Sitten und Sagen des Altertums sich in der christlichen Welt zu spukhaften Dingen verdunkelten, und wie die finstere Wendung, die das Christentum sehr bald nach seiner Entstehung nahm, die schöne freie Sinnenwelt der Griechen verunstaltete und das blühende natürliche Leben in Moderdurst und Gerippenkultus verkehrte. »Ja,« sagte ich, »man muß nur auch immer daran denken, daß das historische Christentum in den Katakomben geboren ist.«

Ein anderes Mal sprachen wir über »die natürliche Tochter« von Goethe und ich sagte, ich fände es darin so wunderschön, daß in den Dialogen ein jeder immer den höchsten Inhalt von seinem Gesichtspunkt aus erfasse und verteidige, weshalb eigentlich ein jeder recht habe, wie z. B. im Gespräch des Herzogs und des Weltgeistlichen, in dem der Eugenie und des Mönchs usw. Nietzsche sagte, daß Goethe es bei Sophokles gefunden hätte, dessen Personen sprächen alle so schön und würdevoll, daß sie uns alle überzeugten.

Bei Gelegenheit einer Unterhaltung über Goethe und Schiller meinte Nietzsche, Goethe habe in Schiller die gewaltige ihm höhere Natur geehrt, und Schiller in Goethe den gewaltigen ihm höheren Künstler. Ich gab nicht zu, daß Goethe die minder hohe Natur gewesen sei, nur war er die glücklichere, zur Harmonie gelangte, während wir in Schiller die hohe sittliche Kraft verehren, die mit dem Leiden ringt und sich siegend aus ihm erhebt.

Noch an einem anderen Abend kam das Gespräch auf Don Quichote. Nietzsche tadelte es, daß Cervantes die eigentlich ideale Figur, den Menschen mit idealem Streben, zum Spott der Alltagswelt werden läßt, anstatt dem Gegenteil, und meinte, das Buch habe wohl nur einen literarischen Zweck gehabt, dem Lesen schlechter Ritterromane Einhalt zu tun. Ich dagegen verstand das Buch dahin, daß der Mensch mit idealen Bestrebungen, wenn er sie in einer anachronistischen Form vorbringt, ganz natürlich in der Alltagswelt, die die idealen Absichten überhaupt nicht versteht, zum Narren und zur Karikatur wird. Und andererseits schien es mir auch, daß das Buch aus der ungeheuersten Menschenverachtung hervorgegangen ist, aus der hohnlächelnden Ironie, mit welcher der, der die Welt versteht, auf den armen Idealisten sieht, der glaubt, in einer solchen Welt Ideale verwirklichen zu können.

Zuweilen gelang es uns doch, auch ein wenig zusammen zu lesen, so eines Tages die Sakuntala, die Nietzsche noch nicht kannte. Er hatte bei den ersten vier Akten viel einzuwenden, fand zunächst die tragische Motivierung zu leicht, und das Verdienst des Dichters zu gering, da der ganze Hintergrund von Blumen, Tierleben und Büßerhainen usw. Indien angehöre und nicht ihm. Aber wäre es nicht eher ein Fehler, wenn ein dramatisches Werk des lokalen Hintergrunds entbehrte, keine lokale Färbung hätte? Ist es besser, wenn der Dichter das alles mit der Phantasie schaffen muß, was Kalidâsa aus eigener Anschauung kannte und es ganz natürlich darstellte, so duftig, zart und farbenprächtig wie Indien selbst? Ferner fand Nietzsche das Schuldmotiv zu leicht. Aber spricht sich darin nicht gerade das tiefe, zarte seelische Empfinden der Inder aus? Sakuntala liebt zu sehr, vergißt in ihrer Liebesekstase die heiligste der Pflichten, die der Gastfreundschaft, und dafür trifft sie der Fluch der Gekränkten; der Sinn des Königs wird mit Blindheit geschlagen, so daß er sie nicht mehr kennt, und sie muß nun im Leiden ihre Liebe von aller Selbstsucht reinigen und ihre Heiligung vollbringen. Dann ist der Fluch gelöst und sie darf das Glück vollendeter Seelen genießen. Hat die griechische Tragödie das Schuldmotiv tiefer gefaßt? Antigone verletzt auch wie Sakuntala das Gesetz aus Liebe und muß dafür sterben. Ethisch ist hier vielleicht die indische Auffassung noch die höhere, denn sie gewährt die Vollendung durch die Buße.

Wir sprachen über den Spruch Schillers: »Gemeine Naturen zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, was sie sind,« und kamen auf Dichter im allgemeinen und auf Mazzini. Aber Mazzini zahlte, und Dichter zahlen auch mit dem, was sie tun, nur mit dem Unterschied, daß der Dichter sein Tun auf seine tragischen Personen überträgt, in ihnen fühlt, handelt, leidet, während Mazzini die tragische Persönlichkeit selbst war, die um der idealen Tat willen das herbste Leiden auf sich genommen hatte. Nietzsche sagte, daß er unter allen Leben am meisten das Mazzinis beneide, diese absolute Konzentration auf eine einzige Idee, die gleichsam eine gewaltige Flamme werde, an der das Individuelle verbrenne. Der Dichter befreit sich von der Tatgewalt, die in ihm ist, indem er sie in Gestalten inkarniert und Tun und Leiden außer sich setzt. Er ist wie der Wille selbst, er muß sich objektivieren, den Drang zur Tat in Erscheinungen ausströmen; jedes Gefühl, jede Leidenschaft ist in ihm als Fähigkeit da, daher kann er alle Verschiedenheit der Wesen darstellen, nachdem er ihre Not, ihre Schuld, ihren Schmerz mit durchgemacht hat. Er erlöst sich wie der Wille, indem er sich objektiviert. Mazzini objektivierte sich durch sein Leben, das eine unausgesetzte Tat der edelsten Individualität war.

Eines Tages kam Nietzsche mit einem großen Paket beschriebener Blätter in der Hand und sagte mir, ich möge sie doch einmal lesen, es seien Gedanken, die ihm auf seinen einsamen Spaziergängen gekommen wären, besonders bezeichnete er mir einen Baum, wenn er unter dem stände, fiele ihm immer ein Gedanke herunter. Ich las die Blätter mit großem Interesse, es waren herrliche Gedanken darunter, besonders solche, die sich auf seine griechischen Studien bezogen, es waren aber auch andere, die mich befremdeten, die gar nicht zu Nietzsche, wie er bisher gewesen, paßten und mir bewiesen, daß jene positivistische Richtung, deren leise Anfänge ich schon im Laufe des Winters beobachtet hatte, anfing Wurzel zu fassen und seinen Anschauungen eine neue Gestalt zu geben. Ich konnte nicht umhin, ihm etwas darüber zu sagen, und bat ihn herzlich, diese Sachen noch ruhen zu lassen, um sie nach längerer Zeit wieder durchzusehen, ehe er sie in den Druck gäbe. Ich sagte ihm, daß er, besonders was die Frauen beträfe, noch keine endgültigen Aussprüche fällen dürfe, weil er noch viel zu wenig Frauen wirklich kenne. Die französischen Moralisten hätten das Recht gehabt, positive, durchaus gültige Urteile auszusprechen, weil sie die Gesellschaft, in der sie lebten, bis auf den Grund kannten, und ihre Bemerkungen wohl auch nur auf diese anwendeten; aber ohne eine solche langjährige genaue und vielseitige Beobachtung sei es nicht ratsam für höhere Intelligenzen, sich über psychologische Vorgänge so bestimmt und ein für allemal auszusprechen. Ich zitierte ihm einen Ausspruch Rées aus dessen früher erwähntem Buch, der mir sehr zuwider und sicher falsch sei, daß Frauen immer die Männer vorzögen, die ihr Leben schon mannigfach genossen hätten. Nietzsche lächelte über meine Entrüstung und sagte: »Aber glauben Sie denn, daß es einen einzigen jungen Mann gibt, der anders denkt?« Ich war recht böse und betrübt, das von ihm zu hören, und sagte ihm auch, daß mir das ein neuer Beweis sei, wie er die Frauen doch nur oberflächlich kenne, und daß ihm daher noch kein allgemeines Urteil zustehe. Doch kamen wir nachher wieder in unser griechisches Fahrwasser, und waren gute Freunde wie zuvor. Leider fand ich jene Sätze nur zu bald veröffentlicht in einer Schrift »Menschliches, Allzumenschliches« betitelt; aber mein Glaube an Nietzsches hohe Begabung war zu fest, um dies alles anders als wie als vorübergehende Phasen seiner Entwicklung anzusehen, aus denen seine Idealität siegend hervorgehen werde.

Unendlich traurig aber war es, daß seine Gesundheit sich in nichts gebessert hatte, ja, daß die Anfälle seines Leidens, die schrecklichen Kopf- und Augenschmerzen mit der zunehmenden Wärme noch häufiger wurden und ihn oft nötigten, Tage und Nächte hindurch in endlosen Qualen zu Bett zu liegen. Sein Vertrauen auf den Süden erlosch, und mit derselben Inbrunst der Zuversicht, wie er dieser Reise entgegengesehen hatte, sah er nun der Rückkehr in die Eisregionen der Alpenwelt entgegen und beschleunigte seine Abreise. Ich war schmerzlich bewegt um dieser fehlgeschlagenen Hoffnung willen, konnte ihn aber doch nicht zurückhalten, da sich auch die liebevollste Sorge als ohnmächtig gegen die Gewalt des Übels erwiesen hatte und man also mit ihm hoffen mußte, daß Veränderung doch vielleicht Besserung bringen könne.

So schied er, und ich blieb allein zurück, verlebte noch einige herrliche Wochen in der zauberischen Einsamkeit des paradiesischen Ortes und entschloß mich schwer, zu gehen. Ich blieb noch ein paar Tage in Neapel, um einen lang gehegten Wunsch auszuführen, nämlich den Vesuv zu besteigen, freilich nur bis zum Observatorium, da ich mich allein doch nicht bis zum Krater wagen wollte. Aber auch dies war schon hoher Eindruck und Genuß. In dieser schwarzen Lavawelt regte die Phantasie mächtig ihre Flügel; man schien sich in einem Bereich versteinerter Höllenungetüme zu befinden, Riesenschlangen, Molche und Skorpione lagen da in chaotischem Durcheinander, wie von einem plötzlichen Machtgebot erstarrt; die Vegetation hatte dies grausige Gebiet geflohen, nur der Ginster wuchs zwischen den Schlacken empor und erhob seine goldfarbigen Blüten tröstend über dem Leichenfeld. Oben aber auf dem Observatorium breitete sich die Herrlichkeit der Welt zu meinen Füßen aus. Vor mir lag der wundervolle Golf, von den Gluten des Abendhimmels übergossen, seitwärts sah man in die Gebirgswelt hinein, in der die herrlichsten Farbentöne im Wechsel der Lichter und Schatten erschienen; alles war Leben, Licht, Farbe, Freude, und der Mensch, überwältigt von der siegenden Schönheit, schmiegt sich immer von neuem an das Herz des wonnigen Verräters, den goldigen Erdentraum, aller Gefahr vergessend, immer aufs neue zu träumen.

In freudiger Rührung, der Schönheit des Daseins huldigend, stieg ich hinab, verließ Neapel, eilte durch Italien, um mich in die Schweiz zu begeben, wohin Olga mit ihrer Familie zum sommerlichen Rendez-vous zu kommen versprochen hatte. Ich wählte diesmal den Weg über den Splügen, da ich die meisten Alpenübergänge schon kannte, hielt mich einen Tag in Chiavenna auf, nahm mir einen Wagen und begab mich mit meiner treuen Dienerin auf die Fahrt über die eisigen Höhen. Es war nicht schön da oben, eine freudlose Öde, an den weiten Schneefeldern vorüber, kein sonniger Tag und keine großartige Aussicht. Es war Ende Juni, aber so kalt, daß ich, um mich zu wärmen, eine Zeitlang zu Fuß ging. Da fand ich am Rand des Eises eine weiße Alpenrose, die seltener sind als die roten; ich pflückte mir das arme Kind der Eisregion zum Andenken, und, ergriffen von dem ungeheuren Kontrast, den ich in kaum acht Tagen durchlebte, schrieb ich in mein Tagebuch:

»An dem Saume ew'ger Eisgefilde
Lag ich stille träumend
In der Knospe Schoß.
Doch den Kelch erschloß mir
Langsam, Sonne dein Strahl,
O warum mich wecken
Zu dem kurzen Dasein?
Nicht mit holder Röte
Färbst du mein bleiches Antlitz.
Nicht zu seliger Liebe
Gibst du heilige Glut mir,
Nahe bei der Vernichtung
Starrendem Eise wohn ich,
Trage seine Farbe,
Und vergebens küssest
Du mir matt die Stirn.
Ach aus schönem Traume
Hast du mich gestört,
Fern auf sonniger Höhe,
Sah ich glänzend leuchten
Goldenen Ginsters Pracht,
Der an Feuersbrüsten
Flammennahrung sich trank
Und mit strahlenden Sonnen
Liebende Schwüre getauscht.
Ihm zu Füßen die Welt
Lag in göttlicher Schöne;
Lächelnde Fülle des Seins
Nahm dem Tod selbst den Stachel,
Denn ihm droht auch ein Grab;
Schwarze Todesgeburten
Starren mahnend ihn an.
Aber sie deckten mit Nacht
Eine Welt, die gelebt,
Die geliebt und genossen
Höchsten Daseins Entfaltung.
Ja im holden Wahnsinn
Seliger Täuschung vergehen –
O beneidenswert Los!
Aber des Nichts graunvollem Abbild
Ewig ins Antlitz zu schauen –
Matter sonniger Strahl
Warum wecktest du mich?
Ist dies hier die Wahrheit?
O so gib mir die Lüge,
Gib mir nur einen Tag,
Wo im Geist und der Liebe
Sich mir Vollendung genaht –
Und dann lösch eilig die Fackel. –

Hinunter kam ich an die Via mala, an den jugendlichen, rauschenden Rhein, und das erhaben Düstere und doch Belebte dieser grandiosen Straße erfrischte mich wieder, und heiter eilte ich dem Thuner See zu, um mich mit den geliebten Freunden zu vereinen.


 << zurück weiter >>