Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Gedachtes

Heute wurde über die Tätigkeit von Paul Desjardin gesprochen, und sie wurde verkleinernd kritisiert. Freilich kann er keine neue Religion gründen und ist vielleicht etwas klerikal, aber es ist immer etwas, wenn ein Mensch gut ist, Gutes tut, und seinen Mitmenschen ein hilfreiches Wohlwollen zeigt. Das erwärmt die Herzen und treibt vielleicht mehr als eines, auch gut zu sein. Das Beispiel ist eine große Macht in der Erziehung und dem menschlichen Verkehr. Taten Christus und Buddha im Grunde etwas anderes als das Beispiel einer erhabenen Persönlichkeit geben? Nur die Schwachen und die Ehrgeizigen haben daraus dogmatische Kirchen gemacht. Wer von denen hat es verstanden, warum Christus sagen konnte, daß er Gottes Sohn sei? Sie haben das materialisiert, so wie sie die einfache Größe seiner Lehren materialisiert haben. Gut zu sein, ist so natürlich, so einfach: das ganze soziale Problem bestände darin, die Verhältnisse zu schaffen, die den Menschen erlaubten, gut zu sein. Ja, das ganze Problem des irdischen Lebens wäre gelöst, wenn es einem jeden möglich würde, aus sich selbst alles zu machen, was seiner Natur nach möglich ist; damit wäre alles erreicht, was die Unvollkommenheiten des Daseins auf dem Erdball zu erreichen erlauben.

Was aber die großen Offenbarungen betrifft, die aus den Quellen eines ewigen Lichts zu kommen scheinen, die werden stets nur das Ergebnis der größten Seelen, der reinsten Genien sein. Ja, Beethoven offenbarte eine neue Religion; ich fühle mich immer innerlich auf den Knien, in seiner verklärten Welt, wenn ich ihn höre. Aber das ist zu erhaben für die Masse!

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Das irdische Ich ist auch das Du, die universelle Einheit im Göttlichen, Erhabenen, daher ist auch das Mitleid das wahrhaft Ethische. Das Dichter-Ich ist das auch in anderer Form, d. h. die Welt der Ichs, die der Dichter in sich trägt. Das Ich Nietzsches ist die Verneinung aller Ethik, denn es ist das Ich in seiner impotenten Vereinzelung, der Egoist, sei er auch noch so begabt.

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Herr von Wolzogen sagt bei Gelegenheit einer Besprechung vom Buche des Grafen Gobineau: »Jede Gesellschaftsbildung trägt in ihrem Bildungsferment schon den Todeskeim in sich, etwa wie jede Zeugung nach tief religiöser Auffassung den Samen jener ewigen Schuld des Lebens in sich trägt, auf der nach Schopenhauer die Todesstrafe steht.« Ja, aber die Zeugung muß da sein, damit die Erlösung sein könne. Das ist der Sinn des christlichen Mythus. Christus mußte geboren werden, um Erlöser werden und als solcher sterben zu können.

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Nichts ist so reizend, als das erste Erwachen des forschenden Geistes, sein Erstaunen über die Rätsel des Lebens und der Welt und die ersten Fragen, die er sich stellt. Ich empfand es eben mit inniger Freude, als ich, allein mit Olgas zwei jüngsten Kindern, in Versailles bei meinem jährlichen Sommeraufenthalt ein langes Gespräch mit ihnen hatte. Da müßte die Erziehung ihre höchste Aufgabe sehen und bei solchen Fragen in sokratischer Weise zu eignen Antworten anregen, anstatt mit fertigen Sentenzen den suchenden Intellekt zu ersticken.

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Ich antwortete einem Positivisten, der leugnete, daß die Keime zu geistiger und moralischer Entwicklung a priori in der menschlichen Natur lägen, und behauptete, sie seien nur Folge der Gemeinschaft und Gewöhnung: Gut, geben wir zu, daß das Sittengesetz erst aus der Gemeinschaft entstanden sei und sich dem Kausalgesetz folgend mit der Geschichte entwickelte; für unser Verhalten ist das genügend, denn da gilt der kategorische Imperativ; sobald das Individuum sich einer Gemeinschaft anschließt, übernimmt es die Pflicht, ihren Gesetzen gemäß zu leben. Dazu braucht von keinem metaphysischen Grund die Rede zu sein: der Grund der Verpflichtung ist die Gemeinschaft, und der Begriff der Verpflichtung entwickelt sich weiter im Individuum mit der Entwicklung der Gemeinschaft. Darauf beruht das Gesetz, beruht alles staatliche und gesellschaftliche Leben. Aber der Keim zum Begriff der Sitte muß a priori da sein, ebenso wie der Keim zum Denken da sein muß. Aus nichts kann nichts entstehen. Die Möglichkeit zu geistiger und moralischer Entwicklung ist mit dem Organismus Mensch gegeben. Auf den untersten Stufen entwickelt sich der Keim nur erst in gröbster Weise, er wächst zu dem geistigen Wesen der Menschheit heran, und statt von Gott auszugehen, erhebt er sich zum Göttlichen, d. h. zum Idealen. Doch schon in den höheren Tieren kann man durch Gewöhnung und Erziehung eine gewisse an das Geistige streifende Entwicklung bewirken, zu der der Keim aber da sein muß, sonst könnte es mit aller Mühe nicht dazu kommen. So erzählte mir eine Bekannte, die eine Vorliebe für Katzen hatte, daß, sobald sie eine Katze allein bei sich hatte und sich mit ihrer Erziehung beschäftigte, es durchaus möglich war, einen gewissen Grad von Verständnis und Kultur zu entwickeln. Überließ sie sie aber der Gemeinschaft mit anderen Katzen, so blieb der Keim eben unentwickelt, und die blinden Triebe herrschten vor. Man sprach bei dieser Gelegenheit von Caspar Hauser; eingeschlossen und allein blieb er ein stumpfes, tierähnliches Wesen, aber herausgezogen in die Gemeinschaft entwickelte sich alsbald die ihm innewohnende Möglichkeit. Das konnte ihm doch nicht plötzlich eingeblasen sein. Und die Gewöhnung selbst, woher kommt sie? Sie ist doch nur der sich immerfort entwickelnde und erweiternde Begriff des Unterschieds von Gut und Böse, zu dem der Urgrund da sein muß in den weitesten Urfernen des Daseins, wenn man will, aber doch da sein muß, gerade wie die Wurzel da sein muß, damit die Pflanze komme und wachse. Und das Genie – kann es durch Gewöhnung erzeugt werden?

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Meine Antwort an einen Zweifler, der mir schrieb, es sei eigentlich unnütz, zu schaffen, da doch alles dem Nichts verfalle: Nein, teilen Sie die Werke in zwei Hälften; die eine Hälfte, die nur von der Welt der flüchtigen Erscheinung handelt, verfällt dem Nichts wie alles, was nur Erscheinung bleibt, auch die Menschen. Die andere Hälfte aber, in der der Funke ewiger Schönheit glüht, verfällt nicht dem Nichts; sie hat sich eingereiht in den Akkord der großen Symphonie, die im Grunde der Dinge tönt, die die wahren Künstlerseelen von fern in ihren Träumen ahnen und die sie hören werden, wenn die Form zerbrochen ist und sie es erreicht haben, nicht mehr wiedergeboren werden zu müssen. Die Inder haben das alles schon gewußt.

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In der Ironie befreit sich das Individuum von seiner Entrüstung über die Unnatur der Welt, im Humor erhebt sich das Individuum über sich selbst. Beide sind sittliche Äußerungen; jene hat es nur mit der Lüge und den Kontrasten von Schein und Wesen, dieser mit der Versöhnung von Schmerz und erhabener Heiterkeit zu tun. Daher ist in jener Bitterkeit, in diesem verzeihende Güte.

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Im Juni 1890, als ich im Begriff war, Italien für den Sommer zu verlassen, war ich noch einmal in der Villa Mattei, wo ich wonnevolle Stunden der Einsamkeit im Frühling zu genießen pflegte, da ich durch die Güte des Besitzers immer freien Zutritt darin hatte. Es kostete mir jedes Jahr einen großen Entschluß, Italien zu verlassen, dessen zaubervolle Schönheit mich dann erst ganz in ihrer Vollendung umfing, wie ich denn auch der Ansicht bin, daß die meisten Reisenden Italien nur halb kennen, weil sie fortgehen, wenn der Höhepunkt der Schönheit anfängt. An jenem Morgen nun umfing mich wieder die Macht, von der Hafis sagt:

»Denn daß der Schönheit Alkoran
Allmächtig sei, das ist kein Wahn«

und umflutet von dem reinen Licht und still beglückt von dem Einssein mit dieser seligen Natur, schrieb ich folgende Verse in mein Tagebuch:

»Teures Lichtland, deinen Frieden
Senkst in meine Seele du;
Wenn ich fern von dir geschieden.
Seh ich träumend deine Helle,
Trägt mich der Erinnrung Welle
Deiner heil'gen Ruhe zu.

Mit der unnennbaren Milde,
Wie sie Phidias erfand
Für die göttlichen Gebilde,
Ruhst du in der Schönheit Wonne
Unbekümmert gleich der Sonne,
Ob dein Segen auch erkannt.

Stille wird des Geistes Sehnen,
Ruhe ich an deiner Brust;
Nein, Vollendung ist kein Wähnen,
Was wir im Symbol hier sehen,
Wird einst Wirklichkeit erstehen,
Voll erkannt und voll gewußt.

*

In eben dieser Villa Mattei schrieb ich am Charfreitag: Wie fern ist Christus! Nie habe ich es so gefühlt! Eine rührende Gestalt der Legende und der Kunst, aber als Wirklichkeit fern und sein Opfertod nur als Symbol noch nahe! Heiliger Frieden der Natur heute, wie viel bedeutsamer und schöner, als das Gewühl in den Kirchen.

Ich habe auch einst am Fuß des Kreuzes das Gefühl der Gemeinschaft, die weltüberwindende Kraft der Entsagung und der aufopfernden Liebe gesucht, und das Bild des erhabenen Märtyrers am Kreuz ist mir teuer und tief bewunderungsvoll geblieben. Aber den historisch gewordenen Kirchen mit ihren Dogmen kann ich nicht mehr beipflichten, so wenig wie man jetzt noch den Dionysos-Kultus mitfeiern könnte, trotzdem der Dionysos-Mythus gewiß einer der schönsten ist und noch immer das vollkommenste Bild für unsere Einsicht in das Wesen der Welt gibt. Zu dem Gekreuzigten der Kirchen, dem Gottessohn, gehört der dogmatische Vater, gehört die Hierarchie der Kirche, Staat, Gesellschaft. Der einfache Sohn des Zimmermanns von Nazareth, der Schüler der Essäer, die indische Weisheit in den semitischen Monotheismus hinüberbrachten, wollte nichts weniger als eine bloß mystische Gleichstellung der Menschen; er bekämpfte den jüdischen Hochmut mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter; er demütigte die Überhebung der Pharisäer und Schriftgelehrten bei unzähligen Gelegenheiten, er sagte dem reichen Jüngling, der nur Geisterschaum schlürfen wollte, ohne wirklich zu entsagen: »Gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, dann folge mir nach.« Als er sah, daß der Kelch nicht an ihm vorübergehen konnte, daß es gestorben sein mußte um seiner Überzeugung willen, da starb er, indem er seinen Schülern sein Beispiel zur stärkenden Erinnerung hinterließ. Um seine Gestalt schuf die gläubige verehrende Liebe, die dichtende Phantasie und das Bedürfnis, die Idee zu inkarnieren, den Mythus und das Symbol. In den ersten Liebesmahlen und dem Glaubensmut des ersten Märtyrers kamen Mythus und Symbol zum ergreifenden Ausdruck. Dann aber baute die egoistische weltliche Berechnung des Priestertums die Kirche mit ihren irdischen Tendenzen darauf auf und machte Mythus und Symbol zur Lüge. Anstatt die Menschen in der Annahme zu bestärken, daß Einer ein für allemal die Erlösung der Menschheit vollzogen habe, sollte man es immer aufs neue und immer eindringlicher lehren, daß jeder sich selbst erlösen muß von Sünde und böser Neigung, jeder aus sich selbst das Höchste machen muß, dessen seine Natur fähig ist, und auch den andern, den Schwachen, mit Güte und Beispiel helfen, es zu tun. Das war die Religion, die Jesus meinte, mit der nicht bloß ein einziges Volk, mit der die Menschheit sich durchdringen und sich zu ihrem idealen Ausdruck erheben sollte. So steht seine Gestalt in ihrer Vollendung vor uns und fordert uns zur Nachahmung auf. Er hat es ausgesprochen, das große eine Wort, das alles in sich schließt: Nicht im Tempel, nicht auf dem Berge, im Geist und in der Wahrheit beten, leben und sterben. Christliche Welt, betest und lebst du so?

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Wie wenig Menschen sind Schatzgräber!

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In dem trefflichen Buche Oldenbergs über Buddha findet sich folgende Stelle über das Nirwana: »Das Denken, will Sâriputta sagen, ist hier an einem unergründlich tiefen Geheimnis angelangt. Nach seiner Enthüllung soll es nicht verlangen; der Mönch, der nach seiner Seelen Seligkeit strebt, hat anderes, dem er nachforschen mag.« Wer aber eine Zukunft scharf und klar verneinte, würde anders reden. Vor dem Denken, das ein ewiges Sein als ein begreifliches, zu bejahendes, anzunehmen zögert, flüchten sich das Verlangen und die Hoffnung eines Seins, das höher ist als Vernunft und Begreifen, hinter den Schleier des Mysteriums.

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In der Republik Venedig verurteilte man selten auf Grund von Anklagen über Vergehen gegen die Religion. Einmal erschien ein der Ketzerei Angeklagter vor dem Rat der Zehn; er war beschuldigt worden, daß er ketzerische Ansichten über die Dreieinigkeit hege. Er gestand, daß er sehr wohl den Gott-Vater und den Gott-Sohn begreife, daß er aber den heiligen Geist nicht verstehen könne. »Geh nach Hause,« sagten ihm die Richter. »Du verstehst doch wenigstens zweie, wir verstehen keinen einzigen.«

Hätten alle Richter diese edle Aufrichtigkeit, wie viel besser würden viele Urteile ausfallen.

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Eine Atheistin, die im höchsten Sinn eine ausübende barmherzige Schwester ist, und ein ohne Christentum unter furchtbaren Leiden heroisch, schön und versöhnt Sterbender – was könnten selbst die Orthodoxen mehr verlangen? Ich kenne beide.

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Edle Naturen machen eine Stunde des Irrtums wieder gut, voll, rein, ganz, wenn es sein muß, selbst mit dem Leben. Edle Naturen verzeihen aber auch ganz, voll, rein, ohne Hinterhalt.

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Die nationalen Einheiten sind jetzt der Traum und das Motto der Staatsmänner und Volksbeglücker. Aber ist diese Einheit an sich solch ein Glück? Macht sie nicht den Egoismus in der Politik noch viel schärfer, als er es außerdem schon ist?

Dagegen ist die Einheit des Charakters mit sich selbst das letzte Ziel alles Strebens.

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Ich ging eben im Frühling spazieren und fühlte das Regen des Genius in mir und daß allein der Umgang mit ihm beseligt. Die Schönheit empfinden ist das Lächeln des Genius im Traum. Denken ist sein Erwachen. Nie flieht der Genius vor der Erkenntnis; im Gegenteil, ihn dürstet nach der Wahrheit, weil er durch sie erst die Poesie der Dinge, das innere Gesetz ihrer Bewegung, ihren Rhythmus, verstehen lernt, was im letzten Grunde eins ist mit ihm selbst, nämlich: universelles Leben, das in jeder Erscheinung sich auf sich selbst besinnt. So war der Dämon des Sokrates. Die Rechten haben es von jeher gewußt. Es hat ein jeder seinen Dämon, nur verstehen ihn die meisten nicht. Das Dämonische ist die zwingende Unruhe im Geist, wenn ein bisher noch Unbewußtes ins Leben treten will. Vor diesem Zwang erschrecken aber die meisten, verstecken sich oder laufen davon.

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In dem Liebesverhältnis zweier Weltkinder stellte sich gegenseitiges Mißtrauen ein, und da sie beide leidenschaftlich waren, verwandelte sich dies Mißtrauen bald in Haß.

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In der sogenannten vornehmen Gesellschaft gibt es Zuschauer, Beobachter, Mitspielende oder besser: Schauspieler.

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O menschliche Schwäche! Die gute Meinung der Welt zu erkaufen durch Geld, Namen, Rang oder Ruhm!

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O Stille! Gesegnete! Du, die du allein würdige Stimmungen erzeugst!

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Die Deutschen haben es an sich, über alles und jedes in Italien, besonders in Neapel, zu schimpfen, alles schlecht zu finden, den Schmutz haarsträubend, den Lärm unerträglich, die Hotels gräßlich, die Cafés widerwärtig, die Menschen gemein und dumm. – O dagegen bei uns zu Haus! Die herrliche Heimat! Und doch – kommen sie alle Jahre wieder!

Mit der Liebe für die Reinlichkeit soll man sich ebensowenig brüsten, wie mit der Liebe für die Tugend. Beide gehören zu einem ordentlichen Menschen, man übt sie, ohne viel davon zu reden. Wer aber in Italien nur immer über den Mangel an Reinlichkeit klagt, anstatt sich über die Schönheit, die alles überstrahlt, zu freuen, der verdient Italien nicht. Ist es denn schöner in den ewig mit Wasser übergossenen, nüchternen, deutschen Stuben als z. B. in Zimmern in Neapel, die allerdings den Staub oft etwas zu lange aufbewahren, aber daneben eine Loggia oder eine Terrasse haben, von wo man die Wunder der Sonnenuntergänge über einem der herrlichsten Meere der Erde sieht? Ach menschliche Kleinlichkeit! Denn es gibt auch eine kleinliche Reinlichkeit und eine kleinliche Tugend.

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Man erzählte abends bei mir in Rom von einer Besteigung des Vesuvs und von dem Grauen, das man empfände, in den feurigen Schlund hinabzuschauen. Es fiel mir darüber ein, ob wohl die christliche Idee der Hölle nicht dadurch entstanden sei? Der Hades war doch etwas ganz anderes, etwas psychologisch Feineres; wieviel seelischer war diese Qual des vergeblichen Tuns und Schaffens, als die brutale Strafe in den Flammen.

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Das immerwährende Unterliegen im Abgrund der Leidenschaft in den Romanen von Gabriele d'Annunzio ist gar nicht interessant. Nur der Sieg des höheren Wollens über die Leidenschaft ist interessant. Ich verabscheue diese ewige Vivisektion der Wollust und der ungesunden Triebe, die den Mann zum Schwächling und die Frau nur zu einem Instrument der Korruption macht.

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Das größte Leiden ist die Abwesenheit des Ideals.

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Ein Ausspruch von Rabelais, als von diesem herkommend, fiel mir auf: »Die Natur hat im Menschen Verlangen, Durst und Wunsch zu wissen und zu lernen hervorgebracht, und zwar nicht bloß die gegenwärtigen Dinge, sondern besonders die zukünftigen, weil deren Kenntnis höher und bewundernswerter ist. Weil wir nun in diesem vergänglichen Leben nicht zur Vollendung des Wissens kommen können und die Natur nichts ohne Grund gemacht, oder ein trügerisches oder verderbtes Verlangen gegeben hat, so folgt daraus, daß ein anderes Leben nach diesem sein muß, wo jener Durst gestillt wird.«

So kommen auch die skeptischen Menschen, ohne daß sie selbst wissen, wie sehr sie sich widersprechen, immer auf ein geistiges, vernunftgemäß ordnendes Prinzip zurück, mögen sie es nun Natur oder Gott nennen.

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Nachdem ich den Roman von Paul Bourget, »La terre promise«, der mir mißfiel, wie die meisten Werke dieses Autors, gelesen hatte: das Heiligende, Idealisierende in der Ehe ist das schöpferische Element, das bei der rohen unbewußten Natur bloß sinnlich und brutal und ohne die erlösende Seite bleibt. Was für entwickelte geistige Naturen den tierischen Akt verklärt, ist das Bewußtsein, Schöpfer zu sein, innerhalb der Materie ein Geistwerdendes zu schaffen, gerade wie es dem Genius auf der höchsten Stufe des schöpferischen Prinzips Seligkeit ist, das im Geist Empfangene zu gebären.

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Der französische Kritiker Brunetière sagt in einem Artikel über Bourget, das Hervorragende in dessen Romanen sei l'étude de la vie. Ja, die gehört freilich überhaupt zum Roman, aber sie muß sich durch dessen Personen ausdrücken und nicht durch psychologische Analysen und Abhandlungen.

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Wir sprachen am Abend in Versailles (wo ich alljährlich von 1884 an bis 94 den Sommer bei Olga zubrachte) über die Heuchelei. Ich faßte im Scherz mein Urteil in einem Syllogismus zusammen: die Heuchelei ist ein abscheuliches Laster, die moderne Gesellschaft bringt die Heuchelei auf allen Gebieten hervor, also ist es eine lasterhafte Gesellschaft. – M. dagegen meinte, die Heuchelei in der modernen Welt sei eher ein Beweis ihrer Moralität, da man, aus Achtung vor der Tugend, das Laster nicht öffentlich zu bekennen wage.

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Ich freute mich, als ich die letzten Worte Renans hörte, den ich einst so gut gekannt und sehr geschätzt habe, denn sie beweisen, daß seine Heiterkeit, die man ihm so oft als Ironie und Oberflächlichkeit vorgeworfen hat, echt war und sich auf ein festes Bewußtsein gründete. Am letzten Tage seines Lebens sagte er: »Man muß den Gesetzen der Natur folgen; der Tod ist nichts, ein Übergang, die Erde und der Himmel bleiben.« Auf sein Grab verordnete er zu schreiben: »Ich habe die Wahrheit gesucht.«

Papst Leo XIII., als er hörte, daß Renan keinen Priester gerufen habe, sagte: »Ich bin darüber zufrieden, es wäre eine Heuchelei gewesen. Gott vergibt den Menschen, die redlichen Willen haben, so wird er auch Renan vergeben.« Das ist auch schön, das Oberhaupt der Kirche, das einen abtrünnigen Priester so edel-menschlich beurteilt! Sie können sich im Paradies als Freunde begegnen.

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Der sichere Trost unseres Erdendaseins ist doch der, daß wir durch Wort und Tat unsterblich sind in der Reihe der Geschlechter, denn wenn auch die Geschichte uns nicht mit Namen nennt, so wuchert der Samen des Guten, das wir getan, doch unzerstörbar fort von Seele zu Seele und gehört mit in die große Kette, deren Anfang und Ende in der Ewigkeit liegen. So erklärt sich wenigstens das warum, wenn auch das woher und wohin Fragezeichen bleiben. Eine sehr hübsche Hypothese ist die eines unlängst verstorbenen liebenswürdigen alten Franzosen, Monsieur Surell, der das Rätsel der Existenz folgendermaßen zu lösen meinte, indem er die Möglichkeit hinstellte, daß alles geistig von uns ausgeht, an irgendeinem Punkt des Weltalls wieder zusammentreffe und unsere geistige Individualität herstelle. Dies widerspricht weder der Vernunft noch selbst der Experimentalwissenschaft, denn geistige Erzeugnisse unseres Wesens sind sicher größere Realitäten, als die zufälligen Kombinationen der Atome, die unsere leibliche Existenz ausmachen.

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Am 16. Juni 1890 in der Villa Mattei, nach einem schmerzlichen Erleben:

Ziehet, eilende Wolken, den schwärzlichen Schleier
Über die strahlende Welt!
Alles ist eitel, schwindender Schein nur,
Auch die Sonne ist Täuschung sowie das Glück,
Die Rosen vergingen, die Träume vergingen,
Freunde vergingen und endlich – vergehest auch du!

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Alle Religionen sind aus dem der Menschheit innewohnenden Bedürfnis hervorgegangen, etwas Höheres, Mächtigeres, Vollendeteres als sich selbst zu suchen. Dieses Bedürfnis ist der Adelstitel des Menschen und unterscheidet ihn vom Tier. Ob es sich in minder oder mehr vollkommener Weise offenbare, immer ist es zu achten und gelangte es auch nur zur Anbetung eines Fetisch. Aber sobald dies Bedürfnis absolute Formen annimmt und sich für die ein für allemal gegebene Wahrheit ausgibt, zur dogmatischen Kirche wird, versteinert sich der Geist, der ewiges Streben ist, und wird bloß äußere Form, die den lebendigmachenden Odem nicht mehr enthält. Der beste Beweis dafür ist, daß die bestehenden Kirchen sich untereinander anfeinden, weil jede allein die Wahrheit zu besitzen glaubt.

Wir, die wir die Geschichte dieses Bedürfnisses nach Idealität vor Augen haben, wie es sich in den verschiedenen dogmatisch-positiven, konstituierten Kirchen verloren hat, wir können nicht mehr zurückkehren in eine beschränkte Form, die dem Gedanken, der nach immer reinerer Wahrheit dürstet, verwehrt, seinen freien Flug zu nehmen. Die Philosophie hat uns dazu geführt, Gott nicht mehr außer uns zu suchen, sondern ihn in uns, in allem, was da ist, zu erkennen und es als unsere Aufgabe zu betrachten, ihn in uns und um uns lebendig zu machen.

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Das Leben ist nichts anderes als ein großes Schlachtfeld, und die einzige Tugend besteht darin, trotz aller Wunden bis zuletzt zu kämpfen und als Sieger, mit den Waffen in der Hand, zu sterben.

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Wie rasch sind doch die Übergänge im Menschen von Niedergeschlagenheit, Trauer, Resignation, zu Hoffnung, Mut und Freude oder umgekehrt. Was ist dies feine Uhrwerk, das so entgegengesetzte Bewegungen im Gemüte hervorbringt? O ihr Physiologen und Männer der »matière grise«, könnt ihr es erklären? Keine Spur!

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Der einzige Schmerz, der unversöhnbar ist, ist der Schmerz des Egoismus. Die selbstlose Tugend hat Frieden auch in der tiefsten Trauer. Sie ist das wirkliche Selbst mit der rechten Würde ohne Anmaßung. Der Egoismus ist das schlechte Selbst, das ewig Verwundbare. (Ich unterscheide hier scharf Egoismus von Individualismus.)

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N. hatte die wahre Natur der gefallenen Engel; sie glaubte allem durch den hochmütigen Stolz Trotz bieten zu können, anstatt alles Widerstrebende durch die Liebe zu besiegen.

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Ich las eben von der sonderbaren Hinneigung Napoleons I. zum Aberglauben, wie ihn sein Verkehr mit der Lenormand beweist. Aber dunkle, ehrgeizige Gemüter werden immer abergläubisch sein. Weil das Ideal ihre Seele nicht erleuchtet, suchen sie Hilfe in dunklen Gewalten, daher stammen wohl die Teufelslegenden, die Hexenprozesse, noch heutzutage im Süden die Zauberweiber und endlich der Spiritismus besonders in der modernen höheren Gesellschaft, wo er weiter nichts ist, als die Rache des Geistes an der Frivolität.

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Schaffen muß man in der Einsamkeit, da wo der laute Lärm des Tages nicht stört, aber der Charakter erprobt sich doch erst ganz im Zusammenleben, in der Art, andere zu behandeln, auf sie zu wirken und sie zu ertragen. Freilich, ein großes Leiden einsam heroisch tragen, ist auch ein Prüfstein des Charakters, doch ein noch schwererer ist's, dem einsamen Umgang mit dem Gott in uns aus erbarmender Liebe zu entsagen, und zwar nicht im Zorn und Ärger, sondern mit dem milden Lächeln derer, die es wissen, daß sie ein Heiligtum in sich tragen, in dem sie glücklicher wären, als in dem Samariterdienst des Herzens. Ja, am Kreuz besiegte der Nazarener die Welt!

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Die Definition des Genies ist es, daß dieses Individuum, dieser Mikrokosmos zugleich den ganzen Kosmos in sich trägt, alle Tradition, das Unendliche, und dabei die Fähigkeit hat, die ganze Welt, die in ihm ist, auszusprechen und zu gestalten. Es ist ein Beweis dafür, daß die universelle Einheit sich nur zuweilen eine individuelle Form wählt, um sich durch diese kund zu geben.

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Man hat so viel Arbeit, um etwas zu sein, daß keine Zeit bleibt, noch etwas zu scheinen. Es ist auch verlorene Mühe, man ist eben, was man ist, wem es nicht gefällt, mag's bleiben lassen.

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Ich war einmal wieder einige Wochen in Deutschland und fuhr dann frühmorgens am Rhein hinunter, wie alljährlich Olga in Frankreich zu besuchen.

Wieviel tausend Erinnerungen stiegen da herauf an Jugendtage und Jugendträume, an die frühe Liebe zu dem alten, stolzen, heiligen, deutschen Strom! Und es überkam mich ein unendliches Mitleid mit dem armen Vaterland. Ich verstand nun, was ihm fehlt: der heitere Himmel und die Grazie!

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Das Schöpferische, das Tun, die Tat, war da vor dem Wort, wie beim Genius der Tatmoment, die Geburt im Geist, dem Wort und der Gestaltung vorangeht.

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Auch beim größten Dichter ist das Wort, das er wählt, die Art seines Ausdrucks, sein Stil, ein Teil seines Wertes.

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Äschylos rühmte von sich, daß in keinem seiner vierundachtzig Dramen die Liebe vorkomme. Käme man in der modernen Welt nur auch einmal so weit.

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Die Reue ist keine Kraft, sagte ein Freund. Ja, sie ist doch eine, wenn es die wahre Reue ist, sagte ich, denn sie ist der Anfang des Wiedergutmachens.

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»Getrost, das Unvergängliche, das ist das ewige Gesetz, wonach die Ros' und Lilie blüht.« Nun, und ist es nicht ein großer Trost, nach diesem ewigen Gesetz zur Geistesblüte berufen gewesen zu sein?

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Es gibt nur zwei Arten, das Leben nach großen Schmerzen würdig zu führen: entweder mit der großen Resignation, die sich immer höher hebt über das Erlebte und heilig wird oder mutvoll tätig sein und das Leben besiegen durch die Tat.

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Das Schicksal war insofern stets gütig gegen mich, als es mir nach all den schmerzlichen, teils durch Entfernung, teils durch den Tod herbeigeführten Trennungen aus der Mitte der zahlreichen, mehr oder minder gleichgültigen Besucher meines kleinen, einsiedlerischen Heims in Rom immer wieder einzelne Gestalten herbeiführte, mit denen das geheimnisvolle Etwas, das Geister zusammenbindet, jener Ton aus der großen Weltensymphonie, die immer nur wenige hören und verstehen, sich einfand und alsbald zu einem näheren Seelenbunde den Grund legte. Es ist merkwürdig, wie auf solchem Grund allein wahrhaft ideale und dauernde Beziehungen sich entfalten und entwickeln können, gleich edlen Pflanzen, die das rechte Erdreich gefunden haben, und nun, immer neue Blüten treibend, höher und höher wachsen. Nach Warsbergs Tod dachte ich, die Lücke würde jetzt unausgefüllt bleiben und das Pantheon des Herzens, in dem die Nischen alle mit geliebten Bildern besetzt sind, würde geschlossen sein. Von Venedig war ich, wie jeden Sommer seit zehn Jahren, zu Olga nach Versailles gegangen, wo ich, in dieser Familie der freien Wahl, stets Monate herzlichsten Zusammenlebens genoß. Ich hatte mich aber, auch außerhalb dieser Häuslichkeit, immer des freundlichsten Begegnens von Seiten der Franzosen, mit denen ich in Berührung kam, zu rühmen und kann in Wahrheit sagen, daß nie ein beleidigendes Wort gegen Deutschland in meiner Gegenwart laut wurde. Mit großer Anerkennung aber bemerkte ich auch die vorteilhafte Wirkung der empfangenen harten Lehre vom Jahre 70 in der französischen Jugend, die ich zu beobachten häufig Gelegenheit hatte, da Olgas Gatte, Gabriel Monod, der geliebte und verehrte Lehrer der Jünglinge an zwei der höheren Institute in Paris war, der école des hautes études und der école normale. Die Mitteilungen Monods bestätigten mir auch meine eigenen Bemerkungen über den Lerneifer und die auffallend ernste Richtung all der jungen Leute, die seiner Obhut anvertraut waren, was zum Teil in der Trefflichkeit des Lehrers seinen Grund haben mochte, aber sicher auch die Folge ernster Betrachtung der Ereignisse war. Es schien dies wieder ein Beleg zu der Lehre, die die Geschichte schon so häufig geliefert hat, daß sehr oft, nach schweren Niederlagen im Kriege, die Besiegten moralisch die Sieger bleiben, indem sie in sich gehen, die Ursachen ihres Unterliegens zu ergründen und entdeckte Mängel mit Ernst zu verbessern suchen. War es doch in Deutschland auch so nach den Kriegen mit Napoleon, und wohl den Völkern, denen das Unglück eine Schule der Weisheit wird.

Unter den Schülern Monods, die ich in seinem Hause kennen lernte, war einer, den er mir besonders empfahl, da dieser auf zwei Jahre nach Rom in das dortige archäologisch-historische Institut (das Frankreich gleich Deutschland und Österreich dort hat) nach vollendetem vorzüglichen Examen in der école normale kommen sollte. Er besaß unter anderen bedeutenden Vorzügen auch eine seltene Begabung für Musik, und ich versprach mir dadurch eine lang entbehrte Freude, nämlich öfter bei mir in der Ruhe meines Heims Musik zu hören. Musik war von frühester Jugend auf für mich ein Lebensbedürfnis gewesen. In meinem elterlichen Hause gehörte Musik zu den unentbehrlichsten Freuden des Daseins. Mehrere meiner älteren Geschwister waren musikalisch, und es hatte sich ein sogenanntes Kränzchen gebildet, an dem sie teilnahmen und dessen Vereinigungen in unserem Hause stattfanden. Die obere Leitung wurde von dem damals sehr berühmten Komponisten Louis Spohr, der Kapellmeister in Kassel war, geführt, und musikalisch bedeutende Persönlichkeiten, wie unter anderem der Liederkomponist Curschmann, nahmen daran teil. So hörte ich schon als Kind im Hause selbst bedeutende musikalische Aufführungen; außerdem sah meine Mutter, eine geistvolle, mit hohem Kunstsinn begabte, durchaus freisinnige Frau, gern und oft die ersten Künstler des damals vortrefflich besetzten Theaters in Kassel bei sich, wo besonders an der Oper Sterne erster Größe glänzten, die mit den herrlichsten Leistungen ihrer Kunst den geselligen Verkehr belebten und schmückten. Später, als ich selbst Klavier spielte, wurde mir die Musik immer mehr Seelenbedürfnis, obgleich ich in der Ausübung weit hinter meiner jüngeren Schwester zurückblieb; mich zog dagegen der Gesang mächtig an, die Möglichkeit, da ich eine gute Stimme besaß, noch viel unmittelbarer und persönlicher dem musikalischen Empfinden, das in der Seele wogte, Ausdruck zu geben. Dazu wollte ich, wie immer, nicht an der Oberfläche stehen bleiben, sondern auch die Gesetze kennen lernen, die die Welt der Töne beherrschen. Es hatte mich gleich wunderbar erstaunt, zu sehen, wie diese unkörperliche, man könnte fast sagen metaphysische Kunst den strengsten mathematischen Regeln unterworfen und wie das scheinbar Freieste von einem inneren Gesetz gebunden ist, was freilich auch das Vorrecht der Entwicklung hat, wie alles Geistige, aber innerhalb dieser stets die organische Notwendigkeit seiner Erscheinung verfolgen muß. In der kleinen Residenz Detmold, wo meine älteste Schwester verheiratet war und meine Mutter sich mit meiner jüngeren Schwester und mir endlich niedergelassen hatte, weil das Wanderleben, das mein Vater mit seinem Jugendfreund, dem alten Kurfürsten von Hessen nach dessen Thronentsagung führte, uns auf die Länge doch unbehaglich wurde, fand sich reichlich Gelegenheit, gerade nach dieser Seite hin zu lernen. Ein tüchtiger Musiker, Schüler Spohrs, der das wirklich ausgezeichnete Orchester dirigierte, gab meiner Schwester und mir Unterricht im Generalbaß, und so sehr wurde ich von diesem Studium angezogen, daß ich alsbald anfing, kleine Arbeiten für Orchester zu schreiben, was mir die Achtung und Freundschaft seiner Mitglieder zuzog. Dies brachte uns die herrlichsten Folgen, denn nicht nur erfreute uns das Quartett, das sich aus den besten Künstlern gebildet hatte, häufig des Abends bei uns mit Leistungen der schönsten Meisterwerke, sondern es kam auch nicht selten vor, daß wir mitten in der Nacht durch die Klänge eines Mozartischen oder Beethovenschen Quartetts aus dem Schlaf geweckt wurden, indem die wackern Musiker auf der Straße unter unseren Fenstern sich niedergelassen hatten, um unsere Seelen in nächtlicher Stille mit dem zu erfreuen, was, wie sie wußten, uns das Höchste war.

Wenn mein späteres Leben in großen Zentren mir auch öfter die Möglichkeit gab, größeren und oft sehr vorzüglichen Aufführungen beizuwohnen, so war der intimere Genuß, wie ich ihn in der Kindheit schon im elterlichen Hause und nachher in der Jugend in unserem Heim in Detmold gehabt hatte, nun fast ganz vorbei. Mein Leben hatte so ernste Aufgaben bekommen, daß sie alle meine Kräfte in Anspruch nahmen, und ich hatte gar nicht immer ein Instrument zu meiner Verfügung, wie in der Hochschule zu Hamburg, wie während meiner Lehrtätigkeit in England, und dazu kam, daß meine immer schwachen Augen, durch andere Arbeit schon zu sehr angestrengt, das Notenlesen nicht mehr vertragen konnten, so daß mein einsames Musizieren sich fast nur auf Gesang beschränkte. Aber in meiner Seele wogten unablässig Harmonien und Gesänge, und ich erinnere mich keiner Epoche meines Lebens, wo ich nicht innerlich immer Musik gehört hätte, auch bei den heterogensten äußeren Beschäftigungen. In Rom empfand ich es als einen der größten Mängel, daß man so wenig gute, wahrhaft vollendete musikalische Aufführungen zu hören bekam. Zuweilen ereignete es sich ausnahmsweise, daß ein glücklicher Zufall es herbeiführte, in Privatkreisen Vorzügliches zu hören, so, wie schon früher erwähnt, in den Wintern, die Liszt noch bleibend hier zubrachte, und in den musikalischen Vereinigungen bei einer jungen russischen Fürstin, wo er seine eigenen symphonischen Dichtungen mit jener zauberischen Vergeistigung vortrug, die das Spiel des alten Mannes noch weit über das des gefeierten Virtuosen in seiner Glanzperiode hob.

Aber solchen Ausnahmezeiten folgten wieder Perioden äußerster Dürre in musikalischen Beziehungen, wo ich eben nur auf die Tonwelt, die in meiner Erinnerung lebte, angewiesen war. Um so angenehmer wurde ich überrascht, in dem obenerwähnten jungen Franzosen, der nun nach Rom kam, einen Musiker ersten Ranges von tief ernstem Verständnis und geläutertem Geschmack zu finden, der mir gleich in liebenswürdiger Weise sein herrliches Talent zur Verfügung stellte. Stundenlang hörte ich jetzt wieder Mozart, Bach, Beethoven und Wagner bei mir ertönen und genoß in andächtiger Stille ganz allein den Verkehr mit jenen großen Seelen, die mir in ihrer metaphysischen Sprache göttliche Offenbarungen verkündeten und mir Stunden reinster Wonne bereiteten.

Aber nicht nur in musikalischer Hinsicht erwuchs mir aus der näheren Bekanntschaft mit diesem Jüngling hohe Freude. Es gibt gewiß gerade im vorgerückten Alter keine edlere Befriedigung, als in jungen Seelen denselben Drang der Idealität, dasselbe Streben nach den höchsten Zielen, dieselbe Verachtung alles Gemeinen und Trivialen, denselben Mut im Kampfe für die Freiheit der Individualität zu finden, wie dies alles die eigene Seele von früh auf erfüllt hat und noch am Lebensabend, wo schon so viele Illusionen zerflossen sind, soviel um uns Dagewesenes und uns Liebes verschwunden ist, als das tiefste, ewige Element des Daseins in uns waltet. Wie ganz verschwindet dabei auch das Vorurteil der wesentlichen Unterschiede der Nationalität. Der innerste Grund der menschlichen Natur ist sicher nicht abhängig von Rasse, oder Erdteil, oder Abstammung, sondern davon, wie Klima, Tradition, Verhältnisse, Erziehung die eine oder andere Seite der Fähigkeiten in der Menschenseele stärker entwickeln und nach und nach durch Vererbung zu einem anscheinend besonderen Typus heranbilden. In diesem jungen Franzosen fand ich dieselbe Idealität, dieselbe Hoheit des Strebens, dasselbe innerste Verständnis für jede Äußerung geistiger Größe, wie ich sie bei den auserwählten Seelen anderer Nationen gefunden hatte. Er war ein inniger Bewunderer Tolstois, er liebte, wie schon gesagt, Mozart, Bach, Beethoven über alles, war begeistert für Wagner, entwickelte sich hier im Studium, besonders im Anschauen der Meisterwerke der Renaissance und unter den Einflüssen der herrlichen südlichen Natur wie eine Blüte, die ihren rechten Boden gefunden hat. Dies gab mir wieder einen Beleg für das oben Gesagte, das längst meine Überzeugung gewesen war, daß nämlich die Verschiedenheiten der Nationalitäten oder der Rassen auf etwas ganz anderem beruhen, als auf einer ursprünglichen Verschiedenheit der Menschenseele.

Zwei Jahre des edelsten geistigen Verkehrs wurden mir durch die Anwesenheit dieses Jünglings zuteil, der mir auch das wieder bestätigte, daß für das wahre Seelenleben es kein Alter gibt, daß demnach die Seele etwas sein muß, was am ewigen Quell der Jugend teil hat und in voller Frische fortlebt, auch wenn die irdische Hülle altert und dem Lose des Vergänglichen anheimfällt. Wie schon erwähnt, war es nicht nur die musikalische Begabung des jungen Freundes, die mir die so lang entbehrte Wohltat brachte, aus dem fast immer verschlossen gewesenen Piano die Geister all der hohen Meister der Tonkunst heraufzubeschwören. Auch auf allen anderen Gebieten des geistigen Lebens fand ich ihn einheimisch und zu voller Entwicklung strebend, so wie ich dagegen, in der beständigen Anregung, die Jugend des Gedankens und die volle Intensität des Interesses für alles Schöne und Poesievolle in mir wiederempfand. Auf diesem letzteren Gebiet, dem der Poesie nämlich, entdeckte ich denn allmählich auch die schöpferische Begabung des Genannten, und zwar in überraschender Weise durch eine dramatische Dichtung, die mir alsbald die Hoffnung eingab auf eine Erneuerung der besonders in Frankreich so tief gesunkenen dramatischen Kunst. Diese hatte ja leider, zufolge des der menschlichen Natur innewohnenden Nachahmungstriebs, auch in andern Ländern eine gar trübselige Richtung genommen. Von jeher hatte mich die Idee des historischen Dramas lebhaft beschäftigt. Ich hatte mich immer gefragt, ob man geschichtliche Personen auf die Bühne bringen dürfe, da es unmöglich ist, sie genau so hinzustellen, wie sie gewesen sind, und man also in Gefahr ist, sie tun oder sagen zu lassen, was ihnen absolut nicht homogen gewesen wäre. Indem ich nun in Gedanken die edelsten Gestalten des deutschen historischen Dramas durchging, wie Götz, Egmont, Don Carlos, Wallenstein und andere, fand ich, daß sie gewiß keine naturgetreuen Porträts wären, aber so wie wir wünschen könnten, daß sie gewesen seien. Vielleicht liegt darin das Entscheidende; die Poesie hat das Wesentliche dieser Gestalten ergriffen und in ihm das ausgedrückt, was die Mitte und die Zeit, in der sie lebten, charakterisiert, so z. B. in dem herrlichen Gegensatz der Naturen von Egmont und Oranien, der in dem ersten die liebenswürdige, vertrauensvolle Offenheit des Flamländers, und in dem zweiten die ruhige, kalte Besonnenheit und Vorsicht des Holländers kennzeichnet. So schafft man gleich Typen, charakteristisch für die Umgebung und dennoch dramatisch persönlich und wirkungsvoll tätig. Jedenfalls ist es das erste Erfordernis des historischen Dramas, daß die Zeit, in der es spielen soll, vollkommen empfunden und ausgedrückt ist, so daß man die Luft von damals zu atmen scheint und die Gestalten sich in der ihnen gemäßen Mitte bewegen. Dies unentbehrliche Erfordernis des historischen Dramas fand ich nun im höchsten Grad vorhanden in einer Schöpfung meines jungen Freundes, die ihm hier unter dem unmittelbaren Eindruck der Kunstepoche der Renaissance, in deren Studium er sich durch das Anschauen ihres Nachlasses versenkt hatte, entstanden war. So durchdrungen war er vom Geiste jener Zeit, den er in den Gestalten auf der Leinwand erkannt hatte, daß sie in seiner Phantasie ins Leben zurückgekehrt waren und nun lebendig handelnd dastanden, wie sie es zu ihrer Zeit getan haben würden. Nichts kann interessanter sein, als der Entwicklung eines schöpferischen Geistes zu folgen, der ungehindert von außen dem inneren Machtgebot folgt, sich zur Klarheit der Anschauung und Ausführung durchringt und, indem er die in ihm sich bildende Welt zur Erscheinung bringt, zugleich den höchsten und unabänderlichsten Gesetzen künstlerischen Schaffens genugzutun bemüht ist.

Das zweite Jahr des Aufenthalts des jungen Mannes in dem französischen archäologischen Institut ging nun zu Ende, und er mußte in die Heimat zurück, seine bürgerlichen Pflichten zu erfüllen und sich eine Stellung zu gründen. Ich konnte nur wünschen, daß es eine solche sei, die ihm erlauben würde, seine vorwiegend künstlerische Begabung ungehindert zu entfalten. Als Abschiedsgruß jener hohen Freuden, die mir sein musikalisches Talent bereitet, schrieb ich ihm folgende Zeilen:

»Ärmer wurde die Welt und immer ärmer und ärmer,
Öde und Einsamkeit wurde es rings um mich her.
Wenn die Frühlinge wieder aufs neue erschienen,
Frische Blüten der Flur brachten mit lächelndem Gruß,
Schied mir ein Freund, ein Bruder, die liebe Verwandte
In die dunkele Fern', aus der keiner zurückkehrt.
Immer stiller wurde das Herz in ruh'ger Entsagung,
Harrend des Rufs, der mir, jenen zu folgen, ertön.
Da erklangen mit eins Harmonien wie Grüße von oben,
Führten die Seele mir in ihre Heimat zurück.
Geister, Begnadete ihr, die einst schon ich liebend verehrte,
Wieder spracht ihr zu mir des Trostes erhabenes Wort,
Hobt den Schmerz auf Flügeln in jene seligen Fernen,
Wo er, versöhnt und befreit, göttlichem Glück sich vereint,
Und ich lauschte und lauschte, in Andacht versunken,
Auf den Knien liegend im Geist, ewiger Offenbarungen Klang.

Deine Hand war's, mein Freund, die jene Klänge entlockte
Und mit herzlichem Dank mich dir in Freundschaft verband;
Scheid' ich, folgt nun dein Bild vereint mit jenen Großen,
Von Harmonien umtönt, in die Ferne mir nach.«


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