Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Indisches Märchen

Diesem in jeder Beziehung höchst befriedigenden Aufenthalt in Rimini entsprang auch eine kleine Dichtung, die ich hier einschalte, da sie mir, einer besonderen persönlichen Beziehung wegen, wert ist. Ich hatte mich im Frühjahr in Rom viel mit indischen Studien beschäftigt, und diese mir sehr sympathische Gedankenwelt umgab mich auch da am Meer noch häufig. So kam es unter anderem in einer Nacht, wo ich das prächtige und phantastische Schauspiel eines Gewitters, das sich über dem Meer entlud, von meinem Fenster aus hatte, daß mir die folgende kleine Erzählung so aus der Feder floß, und da sie recht eigentlich zu den Erlebnissen in Rimini gehört, so möge sie hier ihren Platz finden:

Über die blaue, spiegelglatte Flut des Sees Valmiriki, der sich wie ein uferloses Meer am Horizont silbern flimmernd mit dem Himmel verschmolz, glitt ein kleines Boot, dessen Segel von einem leichten Morgenwind gebläht wurde und das Schiffchen weiterführte. In dem Boote saßen zwei Personen: eine ältere Frau, in weiße Schleier gehüllt, die ihr ernstes Antlitz, von tiefen Leidensfurchen durchzogen, kaum sehen ließen, und ein Jüngling, dessen edle Züge blondes Haar umflatterte. Sie fuhren auf das Ufer zu, an dem ein Wald mächtiger Palmen winkte, die durch Schlinggewächse so eng verbunden waren, daß beinahe völliges Dunkel unter ihnen herrschte. »Dort ist unser Ziel,« sagte die Frau, »in dem Schatten jenes Palmenhains liegt der Tempel, in dem der Urweise, erfüllt von dem göttlichen Licht des Brahm, thront und den Verlangenden den Weg zeigt, den sie zu wandeln haben, um das Ziel ihres Strebens zu erreichen. Du bist ein Verlangender; o, daß er dir hülfe, die rechte Bahn zu finden, auf der du, immer höher steigend, immer mehr in Brahm versenkt, nicht wiedergeboren zu werden brauchst, um von neuem den Kreis des Irrtums, der Lieblosigkeit, des Hasses und der Enttäuschungen aller Art durchzumachen. Glaube mir, der Erfahrenen, die kurzen Augenblicke des Erdenglücks wiegen die unzähligen Leiden und Häßlichkeiten der Erscheinung nicht auf. Du bist ein Erwählter des ewigen Lichts, dem das heilige Feuer in die Seele gelegt ward, damit es in reinen Flammen das Irdische verzehre. Wenn ich dich von deinem Gott ergriffen sehe, wenn du der Harfe Töne entlockst, die aus dem Wohnsitz der Ewigen zu stammen scheinen, dann denk' ich oft: was tut es, wenn er schon bald entrückt wird in das Reich reiner Geister? Eine Blüte, zu schön, um auf irdischem Boden hinzusterben, strahlt er dort in unverwelklicher Schöne in Gemeinschaft der Erlesenen, die, vor ihm geschieden, in der Seligkeit des Nirwana vereint sind.«

Ein Lächeln flog über das Antlitz des Jünglings und er sagte: »Dein Wunsch ist seltsam! Gönnst du mir das Leben im fröhlichen Glanz der Erdensonne nicht?«

»Für mich wäre es Schmerz, dich vor mir scheiden zu sehen, wie schon so viele der Edlen; aber noch höher achte ich das Glück, einmal den Sieg eines Genius über alles irdische Wollen, das immer mit dem Staub verwandt ist, zu sehen,« erwiderte die Frau.

Inzwischen aber war der Kahn am Ufer bei dem Palmenhain angekommen. Der Jüngling band ihn an einen Baumstamm und folgte seiner Gefährtin in das Walddunkel. Sie wandelten wie auf einem Teppich, über weichem Moosboden, auf dem Blumen in Fülle blühten, während sich über ihnen Kränze von blütenbedeckten Schlingpflanzen, würzige Düfte spendend, hinzogen und oben auf den schlanken Palmenzweigen Vögel ihr buntes, schillerndes Gefieder in stillem Selbstgenügen wiegten. Beide Wanderer schritten schweigend vorwärts, ergriffen von dem feierlichen, inneren Beben, mit dem man dem Erhabenen entgegengeht.

»Wir sind am Ziel,« sagte endlich die Frau. Der Jüngling erhob den Blick, den er bisher, ganz in sein inneres Schauen verloren, zu Boden gesenkt hatte, und sah nun, hell aus dem Dunkel der Bäume hervorglänzend, einen Tempel aus weißem Marmor, von hehrer Form und Größe, gleich der Wohnung eines Gottes anzusehen. Hohe Stufen führten zu der Eingangspforte; als sie diese erstiegen hatten, klopfte die Frau dreimal mit dem an der Tür befindlichen goldenen Hammer an. Das Tor öffnete sich, und ein Mann in langem, weißem Gewand trat heraus und fragte nach ihrem Begehr.

»Führe uns zu dem Urweisen,« erwiderte die Frau. »Ich bringe ihm einen Verlangenden und bitte, daß er uns jetzt vorläßt, denn wir kommen von drüben über dem See und möchten nicht heimkehren, ohne seinen Rat empfangen zu haben.«

»Du bist erwartet, Ehrwürdige,« versetzte der Mann und verneigte sich vor ihr, »der Urweise, dessen Blick das Zukünftige sieht, wußte dein Kommen und befahl mir, dich zu ihm zu geleiten.«

Sie traten ein, und hinter ihnen schloß sich die Pforte von selbst. Der Mann schritt ihnen voraus durch lange Gänge, von Marmorsäulen getragen, zwischen denen Götterbilder standen, die auf die Vorübergehenden bald ernst, bald freundlich niederblickten. Zugleich vernahmen diese eine leise, sanfte Musik, wie von Äolsharfen. Endlich standen sie vor einer großen Tür, von herrlicher Arbeit in Marmor umrahmt und mit einem Vorhang von schwerem Goldstoff verschlossen. Der Führer sagte: »Tretet ein!«

Der Raum, der sich vor ihnen öffnete, war von einem blauen Duft erfüllt, so daß es schien, als schwebe man im Äther; bezaubernder Wohlgeruch durchdrang alle Nerven mit Wonne. Nachdem das Auge sich in dem blauen Luftmeer zurechtgefunden hatte, erblickten die Eingetretenen auf einem Thron aus Elfenbein einen Greis, von dessen Antlitz ein milder Glanz wie von einer Abendsonne ausstrahlte. Ein langer, weißer Bart hing auf sein faltiges Gewand herab, in seinen Händen hielt er eine Schriftrolle mit Aussprüchen der Upanischad. Die Frau nahte sich ihm voll Ehrfurcht und beugte sich, um seine Hand zu küssen; er aber wehrte ihr und sprach: »Nicht so, meine Schwester; du bist der Geprüften eine. Bei denen, die überwunden haben, gibt es Rang und irdische Unterschiede nicht mehr; sie sind gleich, Brüder und Schwestern, denn in ihnen leuchtet das Licht des Ewigen über allem Erdendunkel. Aber wen bringst du mir? Einen Verlangenden?«

»Ja, einen, den es dürstet, am Quell der Wahrheit zu trinken, dem Schaffenskraft in die Seele gelegt wurde, damit er ein verklärtes Spiegelbild der Welt in seiner Phantasie erstehen lasse. Auch ist er ein Meister der Töne, und seine Hand entlockt den Saiten Klänge, in denen man die Ursache alles höchsten Seins zu hören meint, jene tiefe Liebeshymne, die durch das Weltall tönt und die Gestirne in ihre Bahnen zieht. Lehre ihn, frei von den Lockungen der Sansâra die jugendliche Bahn zu wandeln, bis er aufsteigt in das Reich des reinen Geistes.«

Der Greis heftete die milden Augen auf den Jüngling, und sein Blick schien durch die irdische Hülle bis tief in den Grund der Seele zu blicken. Was er da sah, mochte ihm gefallen, denn ein sanftes Lächeln überflog sein Antlitz, und er sprach: »Was ist dein Verlangen, Freund?«

»Ich verlange danach, den Weg zu kennen, der zur Erkenntnis der Wahrheit führt. Die Welt verwirrt mich, die Lehren der Männer draußen zeigen mir nur künstliche Gerüste eines großen Weltenbaues, ich aber möchte wissen, welches der Gedanke ist, der diesen Bau schuf und in ihm wohnt; denn mich befriedigt nicht die Form allein, ich will das kennen, was die Form im Innern bewegt.«

»Dein Verlangen ist gerecht, o Jüngling,« versetzte der Greis. »Alle Form ist nur Hülle des Wesens, vergänglicher Einschluß des Unvergänglichen.«

»Aber das Unvergängliche, was ist es?« fragte der Jüngling.

»Das Unvergängliche ist Brahm, die große Weltenseele, die Ureinheit, die in allem webt, von der alles Sichtbare nur eine vorübergehende Ausstrahlung ist. Du, nach dem Reinen, nach der Wahrheit Verlangender, mach' dein Herz zum Bogen, deinen Verstand zum Pfeil und Brahm zum Ziel, und richte den Bogen nach dem Ziel, so daß dein Verstand gleich dem Pfeil in das Ziel eindringt: so wirst du Form des unvergänglichen Wesens werden.«

»Welches aber ist der Weg, den ich gehen muß, um an das Ziel zu gelangen?« frug der Jüngling abermals. »So wie wir, um hier zu dir zu gelangen, den Weg hätten gehen können, der durch glänzende Städte und blumengeschmückte Auen führt, statt dessen aber durch einsame Wälder und über den blauen, schweigenden See kamen, so führen sicher auch mehrere Wege zu dem Ziel, das du mir nennst, das ich aber noch nicht begreife, nur ahne und glaube, weil du es mir sagst. Genügt es, daran zu glauben, ohne es zu kennen? Werde ich Brahm durch den bloßen Glauben an ihn?«

»Nein, nicht durch den Glauben, sondern durch die Erkenntnis wird der Mensch erlöst,« versetzte der Greis feierlich. »Zwei sind der Wege, zwischen denen du wählen kannst: der eine ist der Weg der reinen Erkenntnis, des inneren Schauens, auf dem die Seele schon mehr und mehr aus der sichtbaren Form heraustritt und sich in Brahm versenkt. Diejenigen, die die Sinne mit festem Zügel an sich ziehen, sehen ihn mit dem Lichte des Geistes, sein Licht wird auch in ihnen leuchtend. Sie können ihn mit dem Auge nicht sehen, mit der Sprache nicht erklären, aber sie können sich mit dem reinen Erkennen ihm nahen.«

»Und der andere Weg, welcher ist es?« forschte der Jüngling weiter.

»Der andere Weg ist der Weg der Sansâra, der Welt der lockenden Erscheinung, der Hoffnung, das Ziel auch im reizvollen Wechsel des sichtbaren Lebens zu erreichen. Auch auf ihm ist Brahm zu finden, denn er ist überall und in uns selbst, aber der Weg ist länger, wechselvoller und vielen Täuschungen ausgesetzt. Es sind Abgründe neben diesem Weg; man muß sich hüten, nicht zu fallen; zuweilen wird es auch dunkel in der Seele, und das Licht, das innen leuchtet und nichts anderes ist als Brahm, scheint erloschen; aber dem Mutigen, der sein Ziel im Herzen behält, kann die Welt schließlich nichts anhaben. Er wahre seine äußeren und inneren Sinne und habe in jeder Sache, an jedem Ort und zu jeder Zeit Brahman vor Augen und in Gedanken, so wird er dennoch ein glückliches Leben führen und der Qual entgehen, wiedergeboren werden zu müssen, sei es als Mensch oder als Tier. Jetzt aber geh hinaus in den Hain und halte Rat mit dir selbst, und hast du entschieden, so komm und verkünde mir deine Wahl; denn jeder muß den Weg gehen, wie es ihm in die Seele geschrieben ist.«

Der Jüngling verneigte sich ehrfurchtsvoll und eilte hinaus in den Palmenhain, stürmisch bewegt von den Worten des Greises und von den wogenden Empfindungen und Wünschen, die sein Herz erfüllten. Alles in ihm war edel und rein; sah er aufwärts, so war es ihm, als schwebe ein Genius mit weißen Flügeln über ihm und winke ihm hinauf zu immer ätherischeren Höhen; sah er aber abwärts in sich, so glühte es wie im Innern eines Vulkans, und ein unruhvolles Sehnen, dem er keinen Namen zu geben wußte, verursachte ihm zugleich Pein und Ahnung von unbekannten Wonnen. Ohne zu innerer Klarheit kommen zu können, warf er sich endlich unter einen Magnoliabaum auf den Moosteppich nieder, wo die Zweige der Gebüsche, mit süß duftenden Blüten beladen, sich schattend über sein Haupt senkten. Ein unendliches Gefühl von Wollust des Daseins kam über ihn, und eine sanfte Müdigkeit schloß seine Augenlider. So lag er eine Zeitlang im Halbschlummer, in dem gaukelnde Traumbilder ihn umschwebten. Aber plötzlich erwachte er von einem leichten Geräusch neben sich, und als er aufschaute, sah er ein Antlitz von wunderbarer Schönheit über sich gebeugt und zwei dunkle Augen, feurig leuchtend, auf ihn niederblicken. Es war ein junges Mädchen, das neben ihm stand; ein Schleier von durchsichtigem Silbergewebe, unter dem schwarze Locken sich in Fülle hervordrängten, bedeckte ihr Haupt und verhüllte zum Teil die schlanke, jugendliche Gestalt, die in weiße Seide reich gekleidet war. An einer roten, seidenen Schnur hielt sie eine junge Gazelle, deren sanfte Augen den unerwarteten Fremdling mit Erstaunen betrachteten.

Als das Mädchen nun dem Blick des Jünglings begegnete, überzog ein leichtes Rot ihre Wangen und sie wollte rasch entfliehen. Aber der Jüngling hatte sich aufgerichtet und rief flehend: »O verschwinde nicht, holdes Bild! Sag' mir, ob du ein Traum bist, den Brahman mir sendet, oder die wonnigste Wirklichkeit? Nie sah ich deinesgleichen!«

»Du scheinst mir edel, Fremdling, und gern will ich dir Rede stehen,« erwiderte das Mädchen und ihre Stimme klang ihm wie Harfenton. »Mein Vater ist der Oberste der Brahminen; seine Wohnung liegt unfern von hier, und dieser Teil des Waldes, der an den Tempelhain stößt, ist sein Eigentum. Da wandle ich ohne Furcht allein umher und spiele mit meinen Tieren oder pflege meine Blumen. Nun sage mir aber auch du, wer du bist und wie du hierher kamst, wo ich noch nie einem Fremdling begegnete. Deshalb erschrak ich, als ich dich hier so unvermutet antraf.«

»Ja, dann aber setze dich zu mir und laß uns miteinander reden, als kennten wir uns schon lange. Mir ist es auch plötzlich, als hätte ich dich immer gekannt und als hätte dich nur ein Nebel meinen Blicken verborgen, der nun gewichen ist.«

Sie sah ihn lächelnd an und ihr Blick machte ihn mit einem Freudenschauer erbeben. Dann sagte sie: »Ich traue dir,« und setzte sich an seine Seite. Der Jüngling erzählte nun, wer er sei, wie er hierher gekommen und wie ihm der Urweise Zeit gegeben habe, sich zu prüfen und seine Wahl zu treffen. »Vielleicht,« so schloß er seinen Bericht, »hat mich der weise Mann nur hierher gesandt, um dir zu begegnen und so meine Wahl zu bestimmen, denn nun weiß ich, daß es nur eine Wahl gibt.«

»Und was wird deine Wahl sein?« frug sie, indem ihre Glutaugen ihn verlangend ansahen und ihre rosigen Lippen ihm entgegenlächelten.

»Bei dir sein, ewig mit dir vereint oder sterben!« rief er in leidenschaftlichem Entzücken erglühend, dann aber plötzlich erbleichend, fuhr er fort: »Du aber bist vielleicht schon einem reichen Fürstensohn verlobt? Ich bin arm und habe bis jetzt nichts als mich selbst.«

»Und wenn mir das nun gerade lieber ist als alle Schätze Indiens,« sagte sie schmeichelnd, »sieh, mein Vater hat mich schon mehrere Male mit den ersten Fürstensöhnen des Landes vermählen wollen, aber ich sagte immer: ›Nein, der Rechte ist noch nicht gekommen; Brahm wird ihn mir zur rechten Stunde senden.‹ Als ich nun vorhin mit meinem lieben Tierchen in den Wald kam, da zog mich das sanfte Geschöpf immer nach dieser Seite, wohin ich sonst selten gehe; ich dachte, vielleicht haben die Ewigen ihm ein Zeichen gegeben, daß mir da etwas Außerordentliches begegnen soll, und folgte ihm. Als ich dann aus dem Gebüsch trat und dich hier sah, da wußte ich, daß mir der Rechte gesandt sei! . . .«

Stunden waren vergangen, da riß sich plötzlich voll Schreck das Mädchen aus seinen Armen, die sie umschlungen hielten, und rief: »Weh' mir! Wenn sie mich hier finden mit dem Fremdling, ich müßte vor Scham vergehen! Aber von dir scheiden ist bitterer als der Tod!«

»Das kann auch nimmer sein!« rief er voll Leidenschaft und drückte sie von neuem an sein Herz; »uns hat die Gottheit zusammengeführt und nichts kann uns mehr trennen. Auch ich muß jetzt fort und dem Urweisen meine Wahl verkünden. Aber dann komme ich, dich von dem Vater zum Weib zu begehren. Zwar bin ich noch arm und nicht angesehen vor den Menschen, aber ich fühle Kräfte in mir, Großes, Würdiges zu vollbringen.«

»O, ich bin reich genug für uns beide, und es wird mein Glück sein, mit dir zu teilen!«

Nun umschlang sie ihn wieder, nahm mit einem langen, heißen Kuß von ihm Abschied und verschwand mit ihrer Gazelle im Dickicht des Waldes, während er den Weg zurück zum Tempel suchte.

Er fand seine Führerin und den Urweisen versenkt in Gespräche über das wahre Wesen der Dinge.

»Wir waren in dem Upanischad, in der Innenwelt,« sagte der Urweise, »dort, wo die Sonne nicht scheint, noch der Mond, auch jene Blitze nicht, die dort am Gewitterhimmel zucken, wo aber alles Licht ist, das von Brahman ausströmt, und wir waren glücklich, daß auch wir Brahman sind, denn das ist unsere Krone und unser Stolz: sobald diese Erkenntnis der Seele in uns lebendig geworden ist, sind wir frei von den Gesetzen, die die Form der Sansâra sind, und leben im reinen Äther des Geistes. Du aber, o Jüngling, sprich nun, laß uns wissen, was sich in deiner Seele bewegt hat. Hat sich dein Verlangen dafür entschieden, mit uns am unverfälschten Quell der Erkenntnis zu trinken und so den Irrungen der Erscheinungswelt zu entgehen, oder wählst du den dunkleren Pfad, der mit seinen von tausend Sonnen strahlenden Momenten des Glücks, doch nur ein Spiegel deines Innern ist und sich oft trübt und verdunkelt, wenn die Lichtgestalten, die du im Glanze deiner Seele sahst, dir plötzlich ihr wahres Wesen enthüllen und eher Dämonen gleichen als verklärten Wesen. Sprich ohne Scheu, denn du bist frei, zu wählen.«

»So vernimm, Ehrwürdiger,« versetzte der Jüngling nicht ohne einiges Bangen, »ich zeige dir mein Herz in Wahrheit. Mir ist in diesen Stunden das Geheimnis offenbar worden, das das andere, das dunklere Verlangen war, das neben jenem nach dem Lichte des Brahm, unruhvoll in meiner Seele wogte, ich weiß nun, wo es gestillt wird. So habe ich gewählt und beschlossen, das Leben der Menschen durchzumachen mit all seinen Freuden und Leiden und dafür zu kämpfen, daß Brahm lebendig werde in den Seelen der Menschen.«

»Ich wußte es, wie du entscheiden würdest,« sagte der Greis lächelnd, »es war zu früh, dich den Entsagenden zugesellen zu wollen. Noch flutet der heiße Lebensstrom des Werdens in dir und will sein Recht. Aber du bist in der Stunde der Geburt von Brahman gesegnet, denn wem er das köstlichste Geschenk, den Genius, in die Seele legte, der kann nie unterliegen in der Welt der Sansâra, und wenn er seine Aufgabe hier erfüllt hat, empfängt ihn die Geisterwelt zu höherer Vollendung. Geh nun hin und vergiß nicht, daß Erkenntnis die Quelle der Glückseligkeit und daß die vollkommene Glückseligkeit die ist, zu sich selbst zu gelangen, denn in uns ist Brahm, und also gelangen wir zu ihm.«

Der Jüngling neigte sich ehrfurchtsvoll vor dem Greise und wendete sich zu seiner Gefährtin. Sie hatte ihr Antlitz mit dem Schleier verhüllt und weinte.

»Du weinst, wenn dein Freund das höchste Glück gefunden hat?« sprach er vorwurfsvoll.

»Wer kann wissen, ob es das höchste Glück ist, was dir jetzt, durch den Schleier der Maya hindurch gesehen, so erscheint,« erwiderte die Frau. »Alles, was wir durch jenen glänzenden Schleier sehen, kann trügen, denn es ist an die Bedingungen des Erdenlebens, an Leidenschaft und Wechsel gebunden. Das wirklich höchste Glück aber, das einzig Wandellose ist, Schöpfer sein. Brahman selbst hat keine andere Seligkeit als diese. Wem er sich nun, wie dir, inniger vereint und einen heller leuchtenden Teil seiner selbst, das, was man auf Erden Genius nennt, mitgegeben hat, der hat die Möglichkeit, dieses höchsten Glücks teilhaft zu werden. Ich hielt dich für einen Auserwählten und dachte, dies Glück würde dich so erfüllen, daß das Verlangen nach einem andern nicht mehr in dir erwache. Und diesem höchsten Glück verstehend zuzusehen, darüber zu wachen, daß es dir ungestört bleibe, das war die letzte Erdenfreude, die mir zu blühen schien. Auch mir hatten die Ewigen Schöpferkraft in die Seele gelegt, und es bleibt mein größter Lebensschmerz, daß ich, durch Erdenschicksale gehindert, mich nicht ganz in die Seligkeit des Schaffens habe verlieren können. In dir hoffte ich die Vollendung des eigenen, Stückwerk gebliebenen Schöpfungsdranges zu sehen – nun ist's vorbei! Du hast das Leben der Sansâra gewählt, andere Sterne werden dir leuchten, andere Einflüsse auf dich wirken . . . Du wirst immer edel sein, immer schaffen, aber es wird nicht das erhabene Glück des lichtumstrahlten Kämpfers sein, der, über alle Dämonen siegend, aufsteigt in das Lichtland des Brahman. Jetzt ist dein Pfad breit und eben, du brauchst nicht zu kämpfen. Leb wohl! Wir scheiden nun auf immer. Ich gehe, meine einsame Bahn zu vollenden.«

Am Abend des Tages fuhr der Nachen zurück über den mondbeglänzten See, es saß nur eine Frau darin; ihr Auge blickte auf die silbern glitzernden, leichten Wellen, die die Oberfläche des Sees kräuselten, und stille Tränen fielen darein, das letzte Opfer der Seele, die Brahman in sich erkannt, an die Welt der Maya . . .

Im Hause des Brahminen aber erschallte der Hochzeitsreigen.

*

Nur ungern trennte ich mich von dem herrlichen Meeraufenthalt, der mir physisch, geistig und gemütlich wohlgetan hatte. Mir die Gestalt Sigismund Malatestas in ein milderes, sicher gerechteres Licht gesetzt zu haben, als das ist, in dem die meisten Historiker ihn sehen und das Bädeker leider in seinem Fremdenführer den Reisenden als das unfehlbare zeigt, war mir eine Genugtuung, denn jene Heldengestalten der Renaissancezeit wollen von einem anderen Standpunkt aus beurteilt sein, als unsere modernen Heerführer. Gemütvoll erquickend aber war mir der Umgang mit dem Volk gewesen, das ein besseres Los verdiente, als ihm seine Regierungen bis jetzt bereitet haben. Das Volk dort in der Romagna sowohl wie in der Lombardei ist sehr klug, viel mehr republikanisch als monarchisch und urteilt oft mit einer geistreichen Ironie über die Verfügungen der oberen Behörden. Die sehr abscheulichen Vorgänge an der Banca romana – die wie ein Echo auf die französischen Panama-Ereignisse folgten, nur noch gemeiner und häßlicher, da es sich rein nur um Gewinn und Wucher handelte, während dort, wenigstens im Anfang, eine große Idee zugrunde lag – fielen gerade in jene Zeit. Der Prozeß, der den Vorstehern der Bank gemacht wurde, die jahrlang in der sogenannten »guten Gesellschaft« geglänzt hatten, war im Gange, und man erwartete mit Recht ein strenges Urteil. Auch mir fiel das Zeitungsblatt vor Unwillen und Erstaunen aus der Hand, indem ich das Verdikt am Ende des Prozesses las, das sämtliche Angeklagten freisprach; als ich dann später einem meiner guten Freunde aus dem Schiffervolk des Hafens begegnete und ihn fragte, was er dazu sage, erwiderte er mir mit dem feinen, ironischen Lächeln, das den dunkelgebräunten Gesichtern des meist schönen Menschenschlages dort so gut steht: »Ich habe nichts anderes erwartet; wenn einer von uns ein Brot stiehlt für sein hungriges Kind, so steckt man ihn ins Gefängnis; die vornehmen Diebe spricht man frei.« Wie sehr der Mensch recht hatte, sollten die folgenden Jahre noch eindringlicher beweisen. Diejenigen, die an der Spitze der Staatsverwaltungen stehen, unterschätzen den gesunden Verstand und die Urteilsfähigkeit des Volkes viel zu sehr, und wenn endlich der Augenblick kommt, wo das lang unterdrückte Gefühl des Unrechts, das am Volk begangen wird, hervorbricht und zu Gewalttaten treibt, so behauptet man, es sei nur das Werk einzelner Aufwiegler und Egoisten, die für sich selbst im Trüben fischen wollen, und schreitet ein mit dem Mittel der Despotie, mit Waffengewalt, anstatt liebevoll vorsorgend den Bedürfnissen menschlicher Existenzen entgegenzukommen und vor allem anstatt strenge Gerechtigkeit in gleichem Maß zu üben gegen hoch und niedrig, gegen reich und arm.

Es ist seltsam, wie wenig die Menschen aus der Geschichte lernen; wie der Egoismus und die Verlockungen der Macht immer wieder zu dem Irrtum führen, als könne der nur auf das Vergängliche gestützte Erfolg dauern und die ewigen Ideen der Gerechtigkeit, Güte und Wahrheit in Schranken halten, um den selbstsüchtigen Zwecken einzelner Ehrgeiziger und Despoten zu dienen. Und doch ist dem nicht so! Die Geschichte hat hundertmal das Gegenteil bewiesen; Ideen sind mächtiger als menschliches Wollen; schlagt sie in Ketten, die Ketten fallen ab, wenn der Genius in den Kerker tritt und sie zur Freiheit führt, wie der Engel den Petrus auf dem herrlichen Fresko Raffaels im Vatikan. Aber freilich ist es traurig, wie lange die Verirrung einzelner das Schicksal von Tausenden beherrschen und dem Abgrund des Elends nahe führen kann. Italien erlebte es in jenen Jahren und leidet noch an den Folgen der unseligen Katastrophen, die Ehrgeiz und Unfähigkeit einzelner über es verhängten. Ob die Sucht der Kolonialpolitik, die sich Europas bemächtigt hat in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, eine segensreiche, kulturfördernde sei, bleibe noch eine unbeantwortete Frage; jedenfalls war es für Italien viel zu früh, sich diesem Zuge der europäischen Großmächte anzuschließen, und es bleibt als eine Schuld in der Geschichte des Ministeriums Depretis-Mancini zu verzeichnen, ihr Land auf jenen Weg geführt zu haben, wenngleich die schlimmsten Folgen dieses Schrittes einem späteren Ministerium zuzuschreiben sind. Italien war ein junger Staat, kaum als eine Einheit geboren, und ungeheure Aufgaben lagen vor ihm im Innern, die mit Einsicht und Beharrlichkeit ergriffen, es zu Wohlstand, Ordnung und sittlicher Entwicklung hätten führen können; dann, innerlich erstarkt, einig und frei geworden, hätte es daran denken können, in dem Kreis der Großmächte eine achtunggebietende Stellung einzunehmen. Cavour, der einsichtsvolle Staatsmann, der ihm leider zu früh entrissen wurde, begriff die Bedeutung einer solchen Tendenz vollkommen und lehnte den Vorschlag Napoleons III. ab, der das nördliche Afrika zwischen den lateinischen Rassen zu verteilen, Spanien Marokko und Italien Tunis zuzuteilen, träumte. Cavour fürchtete den Eifer der Italiener, das Vaterland fest zu gründen, durch eine Richtung nach außen abzuschwächen und erwiderte: »Italien sei nicht reich genug, um sich ein tunesisches Algier zu erlauben.«

Dieser weisen Zurückhaltung vergessend, kam es dann später doch dahin, daß Italien in Afrika festen Fuß faßte. Eine Bekannte, die die ersten italienischen Truppen sich nach Afrika hatte einschiffen sehen, schrieb mir, sie habe Tränen freudiger Rührung geweint, die Söhne des neugewonnenen Vaterlands hinausziehen zu sehen, um Kulturaufgaben unter den Barbaren zu erfüllen. Ich antwortete ihr, ich wünsche von Herzen, daß diese Aufgaben nicht kulturfeindlich für das eigene Land werden möchten, und ich glaube, daß jene Armen, die waffentragend zu wilden Völkern zögen, segenbringender zu nützlicher Feldarbeit daheim verwendet sein würden. Leider gab mir die Folge mehr als recht.

Mit unendlicher Liebe an dies schöne Land gebunden, an die apollinischen Zauber seiner Natur, die das tiefe Bedürfnis der Seele nach Schönheit, in mir von Kindheit auf mächtig, wenigstens nach einer Seite hin befriedigen, konnte ich nicht umhin, auch mit dem wärmsten Interesse die Schicksale dieses Landes beobachtend zu verfolgen, und sah mit Trauer, wie weit sich die heutige Politik von den Idealen jener trefflichen Männer, die ich im Exil gekannt hatte, entfernte. Vorgänge wie jene schon erwähnten der Banca romana, wie die Veruntreuung von Geldern, die auch von auswärts her für die schrecklichen Unglücksfälle der Erdbeben, Überschwemmungen usw. einliefen und den schwer Betroffenen kaum halb zuteil wurden, Veruntreuungen an öffentlichen Kassen und anderes zeigten einen Abgrund moralischen Elends, der etwas Erschreckendes hatte. Dazu in den höchsten Kreisen der Verwaltung der ungebändigte Ehrgeiz einzelner, teils von unfähigen, teils von unredlichen Werkzeugen Umgebener, das waren die Zustände, in denen Italien sich befand, die wie dunkle Gewitterwolken an seinem hellen Himmel standen und sich immer drohender zusammenzogen, bis dann die schreckliche Katastrophe in Afrika kam, die Trauer und Verzweiflung über das Land verbreitete. Freilich fiel nach der Schlacht von Adua das Ministerium Crispi, dem mit Recht die Hauptschuld an den begangenen Irrtümern und deren Folgen zugeschrieben wurde, aber das Unglück war nicht gut zu machen. Die kräftigen, jugendlichen Leben, die auf dem Schlachtfeld von Adua vernichtet lagen, die Tränen, die in Italien um sie flossen, die Millionen, die unnütz dort vergeudet waren, während in der Heimat Hunger und Armut herrschten, die furchtbaren Einblicke, die man in die skandalöse Immoralitat der den Häuptern der Regierung zunächststehenden Personen tat, in das Gewebe schmutziger Intriguen, Bestechungen und Lügen, was in den Kreisen einheimisch war, die dem Volke hätten als Vorbild dienen sollen – das alles wird als ein ewiges Verdammungsurteil auf dem Ministerium Francesco Crispis in der Geschichte lasten bleiben und das Urteil Mazzinis über den Mann rechtfertigen. Die einzelnen Tatsachen dieser traurigen Zeit sind zu bekannt, um sie zu wiederholen; aber wer sie miterlebte, wie ich, der konnte nicht umhin, sich traurig zu fragen, was für ein dunkles Rätsel sich hinter diesen Erscheinungen der Weltgeschichte berge, wenn nach einem großen, begeisterten Aufleuchten edelster Gesinnung, hohen Strebens, freudigsten Opfermutes dann plötzlich eine Zeit, nicht des Stillstandes und Ausruhens – das wäre erklärlich –, sondern tiefer Korruption folgen kann, in der alle häßlichen Elemente der menschlichen Natur wie aufgewühlt erscheinen und aus ihren dunklen Höhlen heraufsteigen an das Licht, um sich der Frucht des vom Idealismus errungenen Siegs zu bemächtigen und sie mit dem Gift des verderblichsten Egoismus zu durchdringen. Das italienische Volk fühlte sehr wohl, was ihm für Unheil zugefügt war, aber es ist ein unglaublich geduldiges Volk, läßt viel über sich ergehen und begnügt sich lange mit seiner Armut, ehe es zur Empörung schreitet. Die Minorität der redlichen Männer der gebildeten Klassen aber, die tieftraurig, einsichtsvoll den Ereignissen gegenübersteht, leidet, ohne sich gegen das vorhandene Übel handelnd aufzulehnen. Es ist das eine Schwäche der italienischen Natur, die in sonderbarem Kontrast steht mit der feurigen Raschheit im Blut, die ohne Überlegung das Messer in die Brust des Nebenmenschen stößt.

Es würde mich weit über die Grenzen des mir in diesen Blättern vorgesteckten Ziels hinausführen, wollte ich suchen, die Ursachen offen dazulegen, die den heutigen Zuständen zugrunde liegen, obwohl sie mir ziemlich klar sind; ich fasse sie nur in eins zusammen, nämlich in die vollständige Abwesenheit jedes Ideals. Es gibt wohl kaum ein Volk in Europa, das weniger wahrhaft religiös wäre, als das italienische; es ist teils skeptisch, teils indifferent und in den untersten Ständen aus Gewohnheit kindisch und abergläubisch. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war es das politische Ideal, die Befreiung vom Fremdjoch, was die Seelen mit Begeisterung und Tatkraft füllte; nun es verwirklicht war, stellte sich eine Leere ein, in der alles Unkraut, dessen Keime sich unter den schlechten Regierungen, die so lange das Verhängnis Italiens gewesen waren, gebildet hatten, emporwuchs und die Oberhand gewann, während, wie gesagt, die redlich Wollenden sich entmutigt zurückzogen.

Der hohe Vorzug dieses wunderbaren Landes aber ist es, daß, während die menschlichen Verhältnisse so viel zu wünschen übrig lassen, die gütige Natur hier so verschwenderisch mit ihren Gaben ist, daß die Seele sich ihr trostreich in die Arme legt und in ihrer Schönheit ausruht, in der Zuversicht, daß auch diesem liebenswürdigen, begabten Volk der Tag der Auferstehung kommen wird.

Da mein Alter mir nun nicht mehr weite Reisen erlaubte, so kam es dahin, daß Olga im Sommer mit den Ihren über die Alpen kam und daß wir uns in Nord-Italien an einem der vielen gesegneten Orte dort zu längerem Aufenthalt zusammenfanden, mehr wie je in Liebe vereint. In Rom aber war mir inzwischen wieder eine teure, liebe Beziehung nahe gekommen, die schon in früheren Jahren während einiger Winter mein Leben freundlich erhellt hatte und zu einem festen Herzensbund geworden war. Es war dies die Beziehung zu der Tochter von Donna Laura Minghetti, die jetzt, als die Gemahlin des deutschen Botschafters, Bernhard von Bülow, in Rom festen Wohnsitz nahm. Die Liebe, die mich an dies von der Natur mit allem edlen Liebreiz geschmückte Wesen band, gab meinem Leben in Rom wieder die Befriedigung einer persönlichen Zuneigung, die auch von der anderen Seite, trotz der großen Altersverschiedenheit, auf das lieblichste erwidert wurde. Es öffnete sich durch die Gegenwart des ausgezeichneten, noch so jungen Paares in dem schönen Palast der deutschen Botschaft in Rom ein lang entbehrtes, deutsches Heim, so wie es vor Zeiten durch Humboldt, Niebuhr, auch noch Bunsen, da gewesen sein mag, das in Bernhard von Bülow den durch edle klassische Kultur gebildeten Repräsentanten, in seiner Gattin die holde Erscheinung der Vereinigung südlicher Natur mit deutscher Bildung fand. Wohl mag die Mitte, die jene Vertreter deutscher Bildung in Rom gefunden hatten, die Herstellung eines bedeutenden geistigen Zentrums erleichtert haben, besonders auch dadurch, daß die römische Gesellschaft damals nicht die vielen schroffen Gegensätze enthielt, die sich heutzutage in ihr finden. Für die aber, die Bülows gemütlich näherstanden, war es das Aufblühen einer schönen Hoffnung, für längere Zeit ein Asyl zu haben, wo Geist und Herz gleich befriedigt wurden und wo, insbesondere durch die große musikalische Begabung der Frau von Bülow und ihren der Musik geweihten Kultus zu erwarten stand, daß sich endlich wieder ein würdiges musikalisches Leben entwickeln lassen würde, da in dieser Beziehung ein schmerzlich fühlbarer Unterschied zwischen der Zeit, wo ich zuerst in Rom war, vor etwa dreißig Jahren, und der Jetztzeit stattfand. Damals herrschte Liszt noch in voller Manneskraft im römischen Leben; ich hörte seine »Beatitudine«, von ihm selbst dirigiert, im großen Saal des Kapitols in vollendeter Weise aufführen; ihn umgaben einige ausgezeichnete Schüler, die auch in das Privatleben ein wertvolles, musikalisches Streben einführten. Man hatte noch nicht die furchtbare Qual zu erdulden, beinahe aus jedem Haus ein geist- und sinnloses Geklimper ertönen zu hören; überhaupt ein dunkler Fleck in unserer modernen Kultur, der geradezu einen moralisch verderblichen Einfluß hat, denn was können so gemeine Rhythmen, so widerwärtig ordinäre Weisen, millionenmal hintereinander wiederholt, einer Seele sagen? Jede nützliche Handarbeit wäre da vorzuziehen und ersparte dem Nachbar, dem die Musik die heiligste der Künste ist, die unsägliche Pein, sich bei seiner geistigen Arbeit oder bei seiner stillen Erholung durch ein solches aufdringliches, gemeines Umherfahren auf dem Instrument gestört zu sehen.

 

Es waren im Palast Caffarelli, dem Sitz der deutschen Botschaft, gerade mehrere ausgezeichnete musikalische Talente, und so fing wenigstens im engeren Kreis dort schon ein genußreiches Musizieren an. Dazu kam nun im Frühjahr die mich innig erfreuende Nachricht, daß Siegfried Wagner, der eben seine erste Kunstreise gemacht hatte, auch nach Rom kommen wollte, um daselbst ein Konzert zu dirigieren. Es war eine doppelte Freude, die mir dadurch zuteil wurde; zunächst den Sohn des großen Meisters und Freundes, den ich von Kindheit auf gekannt hatte, nun als erwachsenen, schon selbständig sich betätigenden Menschen wiederzusehen und dann, unter seiner Leitung einmal wieder eine wahrhaft künstlerische größere Aufführung zu hören. Beides vollzog sich in schönster, befriedigendster Weise; nicht nur, daß ich in dem Jüngling, neben entschiedener Ähnlichkeit mit dem Vater, eine vollständig eigene Persönlichkeit fand, sondern es erschien mir auch in dem Dirigenten ein durchaus individuelles, ganz bewußtes Erfassen und Ausführen und erfüllte mich mit froher Hoffnung für die Zukunft dieses mir so werten jungen Freundes, dem die große, herrliche Aufgabe zuteil geworden, das Werk des Vaters weiterzuführen und zugleich die Befähigung als eine selbständige Individualität, die eigenste Schaffenskraft in ungehinderter Weise zu entfalten.

 

Der Sommer führte mich dann wieder zu froher Vereinigung mit Olga und den Ihren an den südlichen Abhang der Alpen, an den Lago Maggiore und an den höher gelegenen, unbeschreiblich reizenden Orta-See, über dessen grüne, malerische Uferberge die eisglänzenden Spitzen der Kette des Monte Rosa herübersehen. Den Reichtum der malerischen Schönheiten dieses von der Natur so verschwenderisch bedachten Landes auszukennen, würde viele Jahre erfordern und es ist nicht zu verwundern, daß hier eine Kunstblüte entstand, wie sie, außer Griechenland, kein anderes Volk erlebt hat. Und ebenso wie mit der Natur wird man auch nie fertig, all die schaffenden Kräfte kennen zu lernen, die jener Natur wohl zum großen Teil ihre Anregungen verdankten. So sah ich in jenen Gegenden einen Maler zuerst und einen zweiten vollkommener als vorher, die sich beide dort in vielen der kleinen Orte verewigt haben; der erste war Gaudenzio Ferrari und der zweite Bernardo Luini. Gaudenzio Ferrari hat nicht die Anmut und tiefe Seelenschönheit des Luini, aber er ist ein Maler von unbestrittener Großartigkeit der Erfindung, voll Farbenglanz und feiner Charakterisierung und muß sehr produktiv gewesen sein. Luini erreicht zuweilen fast seinen großen Meister an Holdseligkeit, und seine Fresken in Saronno und Lugano ehren ihn als Zeichner und Kolorist.

So einen sich stets in diesem Wunderland Natur und Kunst, um Geist und Gemüt alles zu geben, dessen sie bedürfen. Aber freilich, nur die Natur ist ewig jung im Blühen, die Kunst hat ihre Epochen und dann stirbt sie ab, gleich dem Erdreich, das, erschöpft vom Geben, keine Frucht mehr bringt.

Nicht immer aber waren die Tage nur heiter; auch in diesen späten Jahren nicht, wie sie es auch in früheren Jahren häufig nicht gewesen waren. Es starben viele der Angehörigen und Bekannten um mich her, gleich wie beim Baum im Herbst, wenn der Wind ein Blatt nach dem anderen herunterweht. Die alte Schwester, die ich alljährlich, wenn ich nach Frankreich ging, vorher in Deutschland besucht hatte, war auch gestorben, und von meiner unmittelbaren Familie war keiner mehr übrig; die Mitglieder der jüngeren Generation waren mir zum Teil ganz unbekannt und lebten, in alle Weltgegenden zerstreut, fern von mir, so daß sich kein Band der Zusammengehörigkeit hatte knüpfen können und daß Fremde mir durch Geist und Gemüt näher verbunden waren, als die Blutsverwandten. Dies betätigte wir wieder die Freundschaft des edlen Paares, das Deutschlands Interessen in Rom vertrat, bei einer traurigen Gelegenheit auf die rührendste Weise. Ich nahm nicht mehr, schon seit Jahren, teil an größerer Geselligkeit, aber zu den kleineren Vereinigungen bei Bülows ging ich gern, weil da immer durch die ungezwungene Freundlichkeit der Hausherren von vornherein sich eine wohltuende Atmosphäre bildete. So bereitete ich mich auch an einem Abend vor, dorthin zu gehen, wo Joachim, der in Rom angekommen war, dort spielen sollte. Meine alte Dienerin, die dreiundzwanzig Jahre mit mir verbracht hatte und mir, trotz den bei alten Dienern unvermeidlichen Launen und Verstimmungen, durch ihre Ergebenheit und Treue dennoch wert war, sollte mit mir gehen, da sie mit dem Dienstpersonal dort befreundet war. Ich war mit Ankleiden fertig, der Wagen stand vor der Tür; ich rief ihr, um zu gehen, erhielt keine Antwort und ging daher in ihr Zimmer, um ihr zu sagen, sie solle kommen. Welches war aber mein Schreck, als ich sie bewußtlos auf dem Boden liegend fand. Natürlich war von Ausgehen keine Rede mehr. Der herbeigerufene Arzt ließ mir keinen Zweifel über den Ernst des Falles und bestand darauf, die Kranke alsbald in das Hospital zu bringen. Am folgenden Morgen kam er, mir ihren Tod zu verkünden. Außer der Erschütterung, die ein so brutales Auflösen eines lange bestandenen Verhältnisses notwendig mit sich brachte, entstand für mich eine wirklich augenblicklich bedrängte Lage, da meine ganze kleine Häuslichkeit auf das Dasein dieses einen Wesens gebaut gewesen war und es unmöglich war, alsbald einen genügenden Ersatz zu finden. Gute, hilfreiche Bekannte kamen rasch herbei, zu allem erbötig, doch durchgreifende Hilfe kam erst, als eine Botin der Frau von Bülow erschien, die mir die Aufforderung der beiden Gatten brachte, alsbald zu kommen und bei ihnen eine Zeitlang zu verweilen, bis der traurige Eindruck sich in etwas verwischt und ich Zeit gehabt hätte, mein häusliches Leben neu zu organisieren. Die Aufforderung war in so herzlicher Weise abgefaßt, wurde alsbald durch so kräftige Hilfeleistung beglaubigt, daß ich nicht zögern konnte, sie anzunehmen. Gleich dem Schauplatz des traurigen Vorfalls entrückt zu werden in eine schöne, liebenswürdige, teilnahmvolle Mitte war eine unvergleichliche Wohltat. Ihre tröstende Wirkung blieb nicht aus, und da mein Gewissen mir das Zeugnis gab, die Verstorbene immer nur mit der Rücksicht behandelt zu haben, wie sie meinen Anschauungen nach den zum Dienen Verurteilten gebührt, so lange dies Verhältnis nicht in eine neue edlere Phase getreten ist, so konnte ich mich nur freuen, daß der Armen die Qual langsamer Krankheit und allmählichen Sterbens erspart geblieben war.

Meine liebevolle Freundin mußte leider nach einigen Tagen Rom verlassen, um ihren alljährlichen Badeaufenthalt zu nehmen; ich blieb dann noch mehrere Wochen mit Herrn von Bülow allein, in schönster Freiheit in den weitläufigen Räumen des Palastes, aber in den Stunden des Zusammenseins mit wahrer Freude den Einblick in die große klassische Kultur des noch so jungen Staatsmannes genießend. Unsere Anschauungen stimmten nicht auf allen Gebieten überein, aber ich hatte die tiefe moralische Genugtuung, mich mit hoher Achtung vor den festen, auf edelsten Grundlagen ruhenden Überzeugungen des bedeutenden Mannes beugen zu können, dessen Wohlwollen und Güte gegen mich sich nie, trotz unserer verschiedenen Ansichten, verleugnete. Es ist eine der schönsten Empfindungen, sich in rein menschlicher Achtung und Freundschaft auch mit solchen zu begegnen, die in irdischen Dingen anders denken wie wir. Der Parteistandpunkt ist immer ein einseitiger. Warum soll ich mich feindlich von dem monarchisch Gesinnten abwenden, wenn er sonst gut und edel ist, weil ich vielleicht Republikaner oder Sozialist bin? Alle diese, vom Verstand geschaffenen Unterscheidungen gehören doch auch dem Vergänglichen an; über ihnen steht die reine menschliche Würde, die Treue gegen sich selbst und das für wahr Erkannte, die auch im anderen diese Treue gegen das ihm Wahre ehrt, und endlich die Güte des Herzens, die in heiligem Mitleid über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg hilft und tröstet. Je höher der Mensch entwickelt ist, je vollkommener wird diese Toleranz werden, denn je tiefer versteht man das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden und sich am einfach menschlich Schönen, ohne Partei-Voreingenommenheit zu freuen. Nur wenn es gilt, in Waffen aufzustehen, um unsere Wahrheit zu verteidigen gegen feindliche Angriffe oder gehässige Unterdrückung, dann gibt es kein Entweder-Oder, dann gilt es Kampf, ernsten, entschiedenen Kampf.

Nach mehreren, in heiterer Harmonie verbrachten Wochen verließ ich Rom, um mich in Nord-Italien mit Olga und den Ihren zu vereinen und zwar in den herrlichen Cadorischen Alpen, in Pieve di Cadore, das mir von früher her eine so liebe Erinnerung war. Leider fand ich auch da nun schon den Fluch des Touristentums verhängt, mehrere Hotels eröffnet und die naive Einfachheit des Lebens von ehedem verändert. Vollkommen fand ich diese aber wieder an einem noch höher gelegenen Ort in der Dolomitenkette, an dem See Alleghe, der, durch einen Bergsturz gebildet, mehrere Dörfer begraben hat, deren Trümmer man zuweilen unter den Wassern der stillen Oberfläche sehen kann. Nach einigen Wochen in Pieve zogen wir da hinauf und fanden mit Entzücken bestätigt, was man uns von diesem Ort gesagt hatte. Wie ein seliger, weltenrückter Traum liegt der ziemlich große, stille See zwischen Höhen, die mit herrlichen Tannenwäldern bedeckt sind, da. Nur selten kräuselt der Wind die ruhige Oberfläche, in der sich die Ufer spiegeln. An dem einen Ende liegt ein kleines Dorf, an dem anderen ein sehr primitives, aber rein und gut gehaltenes Wirtshaus; über den grünen Vorbergen aber steigen in wahrer Majestät die herrlichen Dolomitfelsen auf, die, wie eine Reihe Riesenorgeln, den Göttern oben auf ihren Wolkensitzen ein wunderbares Konzert zu geben scheinen. Am Abend erglühen sie dann in zauberischer Pracht der Farben und von den Strahlen der untergehenden Sonne versilbert und vergoldet. Wie verschwenderisch die Natur ist! Da läßt sie in der Einsamkeit solcher Alpenhöhen Paradiese entstehen, gemacht, um tiefen Denkern, um Poeten und Künstlern die höchsten Anregungen zu geben, und fragt nicht danach, ob man diese reizenden Erdenflecke entdeckt und ihrem Zauber herrliche Geistesblüten entlockt oder nicht. Es ist, als wohnte der allgewaltige Schönheitstrieb in ihr, der ihr keine Ruhe läßt, bis sie, ganz künstlerisch verfahrend, überall das Bild hervorbringt, das sich charakteristisch in den Rahmen, den Klima und Boden bedingen, einpaßt. Nachher sagt sie ruhig und kalt: »Mensch, benutze es nun und lerne daran die Erde mit Schönheit zu schmücken.« Und der Mensch? Hat er die heilige Flamme der wahren Schönheit, die der Ausdruck der Idee, die Form des Ideals ist? Ist es ihm darum zu tun, zu veredeln, zu bessern, zu idealisieren und auch den materiellen Genuß durch schönes Maß mit ästhetischer Weihe zu adeln? Ach, wie wenige sind es noch, wie nur ganz einzelne! Und werden es jemals viele sein?

Aus diesen zauberischen Alpenhöhen stiegen wir herunter zu der Königin des Meeres, der reizenden Lagunenstadt, die meine Freunde noch nicht kannten. Mir erwacht dort immer die wehmütige Erinnerung an den geschiedenen Freund, in dessen künstlerischem Heim ich einst so schöne Tage verlebt hatte. Der prächtige Palast war jetzt ein Nonnenkloster und der Ex-Herzog von Modena, der ihn verkauft hat, ist so rücksichtsvoll für die zarten Gefühle der klösterlichen Damen gewesen, die Statuen der heidnischen Götter, die hier unter den dunklen Laubgewölben standen, hinwegnehmen zu lassen. So ist wieder etwas Schönes, Dagewesenes unwiederbringlich vernichtet. Ach und wie vieles außerdem in dieser einst von Schönheit strahlenden Stadt! Die zauberischen Paläste, in denen vornehme Männer mit gerechtem Stolz auf die Größe ihrer wunderbaren Heimat und schöne, geistvolle Frauen voll Anmut und Würde wohnten, sind jetzt zum großen Teil Gasthöfe oder Niederlassungen der Spezialitäten venetianischen Kunstgewerbes. Das Haus, in dem Tizian einst glanzvolle Feste gab und die Größen des Geistes, der Kunst und des fürstlichen Ranges empfing, ist nebst seinem herrlichen Garten spurlos verschwunden. Die Insel Murano, deren Gärten sonst der Versammlungsort von Gelehrten, Künstlern und ausgezeichneten Frauen waren, ist arm und öde; die Gärten sind nicht mehr da; nur die armen Spitzen-Arbeiterinnen und die Arbeiter in den Glasfabriken führen hier ihr ärmliches Leben weiter. Und doch – welch ein Zauber von Poesie webt noch immer seine goldenen Schleier über diese Stadt! Das kommt von dem Unvergänglichen, allem irdischen Wechsel Entzogenen; hier wurde gelebt, für große Zwecke gehandelt, schönheitstrunken Idealen gehuldigt, weltliche Macht durch geistige Größe geadelt. Und wenn schließlich auch dies unterging, so bleibt die Erinnerung, die um alles wahrhaft gelebte Große, Ideale ihren Glorienschein bildet und es der Nachwelt aufbewahrt, indem sie die Flecken, die jede Gegenwart hat, auslöscht und nur das übrig läßt, was ewig ist: die Verwirklichung der Idee.

Nach vielen frohen Wochen der Vereinigung kam dann wieder der immer schmerzliche Augenblick der Trennung, die nun, mit jedem vorrückenden Jahr, die Frage deutlicher zurückläßt: werden wir uns wiedersehen? Denn nach dem natürlichen Lauf der Dinge mußte ich, so rüstig ich auch noch für mein Alter war, dennoch auf den Lebensabschluß in kürzerer oder längerer Frist gefaßt sein.

Ich kehrte nach Rom zurück und zwar vorerst noch einmal in das schöne Asyl, das mir die Freundschaft der lieben Bülow geöffnet hatte, um dort nur noch so lange zu verweilen, bis meine eigene Häuslichkeit wieder instand gesetzt sein würde. Meine teuren Gastfreunde waren noch nicht von ihrer Sommerreise heimgekehrt, aber brieflich hatte die holde Freundin alles für mich aufs sorglichste bereitet. So kam mein Geburtstag heran, mein achtzigster Geburtstag! Still und bewegt begrüßte ich den Tag. Es ist keine Kleinigkeit, auf achtzig Jahre des Erdenlebens zurücksehen zu können und eines so bewegten Lebens und sich sagen zu dürfen, daß trotz allem Irren, allem Unerfüllten und Unerreichten doch ein roter Faden durch das ganze Leben ging, der gleichsam den Grundton der Natur anzeigt und, nie verleugnet, immer bewußter, immer fester gezogen, bis an das Ende reichen wird. Ich war darauf gefaßt, den Tag allein zu verbringen, war ruhig und heiter, indem ich all der Liebe und all des Guten gedachte, die mir zuteil geworden sind und auch die Leiden und schweren Prüfungen, von denen ich nicht verschont geblieben bin, segnete, weil sie dazu gedient haben, das Eine, Feste, Unveräußerliche in der Seele zu bewähren und im guten Kampf das Heroische zu entwickeln, das in jeder Menschenbrust schläft und nur geweckt und geübt werden muß, um uns als Sieger aus der oft so heißen Schlacht des Lebens hervorgehen zu lassen.

Je mehr ich darauf gefaßt war, den Tag still und einsam, im Überblick über das Vergangene und in ruhiger Erwartung des etwa noch Kommenden zu verbringen, je lieblicher wurde ich überrascht, als plötzlich von vielen Seiten gute Bekannte aus der Stadt herrliche Blumengrüße sandten und die Post mir Haufen von Briefen brachte, auch von solchen, von denen ich 20–30 Jahre lang nichts gehört hatte und die mir nun ein ununterbrochenes liebendes Andenken bewiesen; ja als endlich sogar gedruckte Blätter einliefen, in denen längere Artikel, bei Veranlassung dieses Tages, meiner und meines Lebenslaufs gedachten. Gerührt sagte ich mir: So hast du also nicht umsonst gelebt, nicht nur, daß du dir selbst Treue gehalten hast, sondern du bist auch andern etwas gewesen, und Besseres kann der Mensch ja nicht verlangen, als mit diesem Doppelzeugnis auf der Schwelle der Ewigkeit stehen und warten, bis sich ihm die Pforte öffnet, aus der es keine Wiederkehr gibt.

So verging mir der Tag ohne Prunk, aber reich geschmückt durch die köstlichsten Edelsteine, durch Liebe, Dankbarkeit, Verehrung, unbegrenztes Vertrauen. Und siehe da! der Abend brachte noch eine andere Überraschung! Der mir so werte Baron von W . . ., der im Begriff war, eine Reise in den Orient anzutreten, war an dem Tag angekommen und erschien gleich, mich zu begrüßen. Harmonischer konnte der Tag nicht enden, denn aus der Seele dieses jungen Mannes tönten mir alle die Klänge von »Apollos goldnen Saiten«, wie es in einem seiner Gedichte heißt, entgegen, die in meinem Leben stets die Grundharmonie gebildet haben und noch, wie in der begeisterten Jugend, so im achtzigsten Lebensjahr, in voller Frische erklingen, wenn der verwandte Ton sie ruft.

So, nun ist es wohl Zeit, dies Büchlein zu schließen; was nun noch kommt, ist Überschuß, den das Schicksal mir verschwenderisch in den Schoß wirft, wobei es mir doch zuweilen sehr ernste Mahnungen zuruft, daß die Stunde bald kommen könne. Möge sie mir friedlich nahen, sie findet mich bereit.


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