Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Gedachtes

Viele Gedichte Goethes kann man gar nicht bloß rezitieren, man muß sie singen. Die Töne ergeben sich von selbst dazu, die Worte kommen so aus dem innersten Leben, daß sie Musik in sich enthalten, z. B. das »Über allen Gipfeln ist Ruh«. Gestern abend nach dem glorreichsten Sonnenuntergang, vor der leuchtenden Klarheit eines römischen Sternenhimmels, mußte ich es singen mit einer wunderbaren Melodie, die ganz von selbst den Worten entstieg. Es wurde mir himmlisch wohl dabei.

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»Arbeit ist der göttlichste Orden, so er je auf Erden gestiftet ist worden.« So sagt Hans Rosenblüt am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Wie sagen wohl unsere Arbeiter am Ende des neunzehnten Jahrhunderts?

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Wir sind selbst das Metaphysische, das Ding an sich in der Erscheinung, der umgekehrte Spiegel Schopenhauers. Dühring nimmt die Erscheinung für bare Münze, und insofern als sie unsere einzige Kursbezahlung ist, hat er recht. Aber sie ist nur corso forzoso, das Silbergeld ist jenseits der Erscheinung. Doch ist das eine vom anderen nicht zu trennen, und nur wer das Papiergeld in sich ins edle Metall umsetzt, hat die volle Summe.

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Das Karmân der Buddhisten ist die unendliche Folge von Ursache und Wirkung, deren Produkt wir sind. Das Nirvana ist die Aufhebung des Karmân. Welch ein Licht!

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Auf einsamem Bergpfad, hoch in den Alpen wandelnd, grauer drohender Himmel, freudlose Alpennatur, starr und kalt ringsum. Gewiß hat der Mensch von jeher Zwiesprache mit der Natur gehalten, gewiß haben Sonnenstrahlen ihn erheitert und hat solch düsterer Ernst wie hier ihm Ehrfurcht oder Furcht eingeflößt. Aller Götterglaube hat da seinen Ursprung. Sobald der Mensch da war, waren Frage und Antwort da.

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Die Sprache kann nur durch die Gemeinsamkeit entstanden sein. Man kann sich denken, daß ein einzelner Mensch Begriffe gehabt und die Gegenstände außer sich unterschieden hat, ohne einen Ausdruck dafür zu suchen. Mit anderen mußte nach und nach ein Ausdruck gefunden werden, durch den man sich den Begriff mitteilte.

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Je weiter man im Leben kommt, je einfacher werden die Grundlinien des Charakters sichtbar. Die Dinge, die uns die Welt angehängt hat, fallen ab; es bleiben der heilige Zorn und die Charitas, wie in der Kapelle Sixtina auf dem jüngsten Gericht: Christus und Maria.

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Eben las ich in dem lieblichen Buch über die Jugend Michelets (von seiner Witwe herausgegeben), wie sein Freund Poinsaut die Offenbarung der wahren Liebe durch den Tod der Virginie (im Roman »Paul et Virginie«) erhält, indem Virginie lieber stirbt, als daß sie die holde Scham verletzte, die sie in der Nähe des Geliebten empfindet. Ist es nicht ebenso mit Tugend und Sittlichkeit? Die haben auch das Hindernis in sich selbst, das zu oft den irdischen Erfolg vereitelt. Der zur Tugend, zur wahren Sittlichkeit angelegte Mensch kann nicht gegen diese handeln, ohne sich selbst die tödliche Wunde beizubringen, die tiefer schmerzt als das, was man auf der anderen Seite verliert.

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Sehr rührend und schön ist die Erzählung des psychologischen Vorganges in Poinsaut, der reinen Herzens war und dessen Verstand nur durch die frühen Mitteilungen unsittlicher Kameraden verwirrt wurde. Wenn man bedenkt, welche Wirkung jenes paradiesisch unschuldige Buch (»Paul et Virginie«) auf die damalige, durch so viele Korruption durchgegangene Welt hatte, so fragt man sich, würde ein solches Buch heute nach Zola und seiner ganzen Schule noch so wirken? Ein schlimmes Fragezeichen für unsere Zeit, die sich rühmt, so viel moralischer zu sein als jene.

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Wir armen Sterblichen machen uns wahrhaftig zuviel Sorge um die schweren Stunden, die wie ein Traum vergehen, während wir nie genug daran denken, das Ewige in die flüchtige Zeit zu bannen und diese dadurch aufzulösen in einen bloßen Begriff, gleichsam in ein Hilfszeitwort, mit dem sich unsere Vernunft das Ewige in verschiedene Phasen zurechtlegt.

Offenbar ist die Furcht vor dem Tode ein Hauptmotiv in der ganzen katholischen Dogmatik. Das Paradies muß auf alle Weise gewonnen werden. Die guten Werke sind das Mittel, der Hölle zu entfliehen.

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Wie schrecklich ist solch ein Vorlesen, wie das der M . . . .! Sie liest laut für sich, nicht für die andern. Es ist ein seelenloses, oberflächliches Lesen. Auch in solchen Dingen verrät sich die Persönlichkeit. Wie anders liest ein wirklich innerlicher Mensch!

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Im Alter wird die Natur einem noch vertrauter und wichtiger als in der heißblütigen Jugend, die Teilnahme von ihr verlangt und sich über ihren kalten Metallglanz ärgert. Das Alter hingegen ruht aus in der Objektivität der um individuelle Leiden und Freuden unbekümmerten, nach ewigen Gesetzen wirkenden Natur, in deren Schoß alles Lebendige nach überstandenem Erdentraum zurückkehrt.

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Der Intellekt ist ja auch nur ein Teil der Erscheinung und hängt von ihren Existenzbedingungen mit ab, während das Unveräußerliche, der Charakter, das eigentlich Metaphysische, das als Wille mit uns geboren wird, bleibt. Ein rührendes Beispiel hierzu erlebte ich kürzlich. Ein alter Künstler, der in Rom seit seiner Jugend lebte und sowohl wegen seiner Leistungen wie als Mensch hoch geachtet war, wurde nun durch Krankheit und Alter in einen Zustand völliger Hilflosigkeit versetzt und hing von den Dienstleistungen seiner Frau und der Magd ab. Eines Tages kam das Bewußtsein seiner Lage, seines geistigen und physischen Absterbens noch einmal mit Klarheit über ihn, und er fing an bitterlich zu weinen. Umsonst versuchten seine Frau und seine kleine Tochter ihn durch Liebkosungen zu beruhigen. Ein Freund, der zugegen war, sagte ihm endlich, er sei doch noch gut daran, habe liebende Wesen um sich, ihn zu pflegen, und brauche wenigstens nicht zu darben; aber er solle des armen A . . . gedenken, eines einst auch berühmten Künstlers, der, älter und hilfloser noch als er, niemand auf Erden habe, der für ihn sorge, außer einem gemeinen Aufwärter, der ihm etwas zu essen bringe und ein paarmal am Tag nach ihm sehe. Des alten Mannes Tränen versiegten und er schwieg. Am folgenden Tag rief er die Köchin herbei und fragte sie leise: »Könnten wir nicht dem alten A . . . ein Süppchen schicken?«

Wem würde bei so etwas nicht zumute, wie wenn ein Sonnenstrahl durch finsteres Gewölk bricht? So bricht hier durch den sich umnachtenden Intellekt, der an die Erscheinung gebunden ist, das Leuchten des Metaphysischen, Unzerstörbaren, das, jenseits unserer Erkenntnis, aus geheimnisvollen Ursachen uns den Charakter zubereitet hat; hier zeigt es sich als die Güte, die, auch entkleidet von dem schmückenden Gewand des Intellekts und des Talents, in ursprünglicher rührender Schönheit zutage tritt.

Deshalb ist auch der Tod guter Menschen meist so schön und rührend, weil, selbst wenn der Geist schon umflort ist und erlischt, die letzten Bilder und Worte, die das ersterbende Bewußtsein noch hervorbringt, der liebenswerten Natur entsprechen. So hatte z. B. mein Vater, dessen liebevolles, edles Gemüt für ganz anderes gemacht war, als für die heißen Kämpfe der Politik und der Revolution, in denen sein Leben verfließen mußte, schon einschlummernd zum ewigen Schlaf, nur noch Vorstellungen von Blumenwiesen und Vergißmeinnichtsträußen, von denen er lächelnd und leise flüsternd sprach. Ich sah nie einen Bösen sterben, aber der Tod eines solchen muß schrecklich sein, denn nun kommt das wahre jüngste Gericht zum Vorschein, und kein Blitzen des Verstandes, kein Funkeln des im Leben erworbenen gleißnerischen Schimmers kann den Abgrund des Wesens mehr verbergen. Bezeichnend ist hierfür das Wort des Kaisers Augustus, der, als er die letzte Stunde nahen fühlte, sich freute, daß er nun endlich aufhören könne, Komödie zu spielen.

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Im geistreichen Buch des Grafen Gobineau: »Sur la diversité des races humaines« steht, daß die Makedonier über Athen siegten, weil sie unvermischtes arisches Blut hatten, und daß Athen an der Mischung mit semitischem Blut zugrunde ging. Da aber die Makedonier gar keine Kultur hervorbrachten und sogleich in der Vermischung mit dem Orient untergingen, so ist das doch kein Beweis ihrer Superiorität über die Rassenmischung in Athen, die unleugbar den höchsten Glanzpunkt menschlicher Kultur hervorgebracht hat. Warum hätte das nicht fortdauern sollen, wenn nicht andere Ursachen des Verfalles dagewesen wären?

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Malthus hat meiner Meinung nach darin recht, daß er die überhandnehmende Bevölkerung der Erde nicht als ein Glück ansieht. Nur darin hat er unrecht, daß er Krieg und Vernichtung als notwendige Mittel bezeichnet, um sich der überflüssigen Mehrzahl zu entledigen und der egoistischen Minorität den Genuß des Lebens zu sichern. Der Wirklichkeitsphilosoph meint, man solle die Natur nur zunächst quantitativ verfahren und produzieren lassen, sie werde einmal an die Grenze kommen, wo sie einhalten und qualitativ verfahren müsse, um dann vielleicht eine höher organisierte Menschheit hervorzubringen. Ich denke, der Kulturmensch solle es nicht der Natur überlassen, sondern mit Bewußtsein darauf hinarbeiten; die Statistik beweist, daß die Vermehrung der Menschenherde am zahlreichsten in den untersten Gesellschaftsklassen vor sich geht, als Ersatz für höhere Lebensfreuden aus vorherrschenden animalischen Trieben. Je mehr daher geistiges Leben und wahre Bildung zur Herrschaft gelangen werden, je gebändigter wird der bloß animalische Trieb sein, und je edler werden die Exemplare werden, denn darauf allein kommt es an.

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Neulich sagte eine verheiratete Frau, halb im Scherz und halb im Vorwurf, zu ihrem Mann, daß sie gar nichts mehr für ihn sei neben ihren zwei jungen Töchtern, die er zärtlich liebt. Eine ähnliche Erfahrung habe ich schon bei anderen Ehen gemacht. Ist das vielleicht so, weil die Leidenschaft, deren Gegenstand die Frau war, befriedigt ist, und weil der Egoismus des Mannes in den Kindern einen Teil seiner selbst wiederfindet, während die Frau ihm doch immer ein fremdes Wesen ist? Das würde an Schopenhauers Idee der Ehe erinnern. Oder ist's, weil das Hilflose des Kindes ihm noch mehr das Gefühl des Beschützers gibt, als bei der Frau? Oder endlich – und das wäre die schönste Erklärung – weil er im Kinde die Mutter doppelt liebt und im Kinde das Siegel ihres Bundes, ihr gemeinsames Vermächtnis an die Menschheit sieht?

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Vor vielen Jahren, noch in England, schrieb ich einmal in mein Tagebuch: Am heutigen Abend spät ging ich auf der Insel Wight am Meeresstrand entlang, von einem Besuch kommend, einen weiten Weg allein zurück. Es war heller Mondschein; auf der einen Seite war der Weg von hohen Felsen begrenzt, auf der andern vom mondbeglänzten Meer. Dieses Alleinsein in der Natur rührte mich, wie immer, tief; das elementare Leben umfing mich so heimatlich, so liebevoll. Deutlicher als je stieg das Bewußtsein meiner eigentlichen Bestimmung in mir auf. Gibt es denn doch eine »Idee préexistante« im Menschen, zu der ihn sein ganzes Leben gewaltsam hindrängt? Schaffen – das ist's! Auf andere veredelnd wirken, Kinder, leibliche oder geistige, zeugen, das Leben fortsetzen, also immer der Zukunft entgegen, nie zurück! Das stößt die christliche Theorie des ein für allemal gegebenen Ideals um. Aber das Wesentliche in jener Theorie bleibt, daß die Liebe, die nicht Schwäche, sondern unangreifbare, unbesiegbare Stärke ist, schließlich das allein Siegende bleibt. Ja, Nazarener, am Kreuz besiegtest du dennoch die Welt! Es ist nur viel tiefer, als die Dogmatiker denken.

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Wenn man nach langen Jahren an einen Ort zurückkommt, wo man früher einmal gelebt hat, so überfällt einen, fast mit Grauen, die Überzeugung, daß es immer dasselbe ist, was lebt. Alles, was wir einst gekannt haben, ist längst im Grabe, eine neue Generation ist an die Stelle getreten, aber es sind dieselben Typen; was wir einst jung gesehen haben, ist wieder jung da; wir meinen Bekannte zu erkennen; es ist dasselbe ruhe- und ziellose Treiben, dasselbe Lachen, dasselbe Weinen, dieselbe Verliebtheit und Torheit, derselbe alte, ewige Schmerz. Ist das auch nur Gattungsbegriff wie beim Tiere? Entwächst das Individuum, das den Gott in sich enthüllte, dem allgemeinen Schicksal der Erscheinung nicht? Ist das nicht das einzige, was über die Erscheinung hinausgeht, wieder Ding an sich wird?

Ich fühlte von früh auf tief, wie notwendig es ist, daß unser Leben Tat werde, aber nicht bloß praktische Tat des Handelns, sondern ideale Tat der künstlerischen Vollendung. Wir können uns nicht damit begnügen, daß wir den Marmor brechen, der einst der Zukunft Göttertempel herstellen soll, wir müssen ihm auch gleichzeitig, schon wenigstens in einer Form, die Ahnung eines idealen Lebens einhauchen, und wär' es auch nur in dem verschwiegenen Umgang mit unserer eigenen Seele.

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Die Propheten gehen den neuen Epochen voran, die Philosophen beschließen die alten, ihre Ären nähern sich demnach einander; deshalb verwechselt man sie so oft.

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Heute haben zwei militärische Exekutionen stattgefunden, eine in Palermo und die des Soldaten Misdea in Neapel. Dieser hatte ein entsetzliches Verbrechen begangen: sieben Soldaten, zum Teil seine Vorgesetzten, in einem Anfall von Wut erschossen. Er war wie eine wilde Bestie und dennoch kein schlechter Mensch. Im Gefängnis hat er gedichtet, und der Geistliche, der ihn besuchte und ein guter Mann war, hat ihn beweint. Er war ein Sohn der wilden Berge, ein Calabrese, ein heißblütiges, unerzogenes Wesen, seine Kameraden hatten ihn verspottet und schlecht behandelt, und er hatte sich gerächt. Hätte die Gesellschaft sich seiner angenommen, ihm die Mittel der Bildung gegeben, er wäre vielleicht ein ganz ausgezeichneter Mensch geworden. Da sie es aber nicht tat, sondern ihn seinen wilden Instinkten überließ, so kam sie nun gesetzlich dazu, dasselbe zu tun, wofür sie ihn strafte: sie mordete!

Welche Logik und welche Zustände!

Und dadurch soll die militärische Disziplin gebessert werden? Denn das ist ja der Vorwand, unter dem man hier in Italien diese Exekutionen vollzieht, wo doch die Todesstrafe abgeschafft ist. Es wird den Soldatenstand verhaßt machen und auch die Regierung, die einen Menschen zwei und einen halben Monat im Gefängnis hielt und ihn dann, ungeachtet des Protestes aller fühlenden Herzen, erschießen ließ; diesen wild aufgewachsenen, ungebildeten Menschen, der, durch unverdienten Spott zur Wut gereizt, in einem Augenblick alles überwiegender Aufregung tat, was er bei kaltem Blute nicht getan hätte und was er tief und herzlich bereute. Der Beweggrund des Urteils war, wie schon erwähnt, die militärische Disziplin, womit demnach gesagt wurde, daß es für das Militär eine andere Moral gibt als für die anderen Staatsbürger, da man Mörder, die nicht in der Uniform stecken, in diesem milden Lande nicht hinrichtet. Also nur weil der Soldat die Autorität im Vorgesetzten respektieren muß, wird er, falls er es nicht tut, mit dem Tode bestraft, während er als gehorsame Maschine, auf Befehl, Hunderte im Kriege morden kann.

In Misdeas Fall waren die Priester die humane Partei, und die freisinnige Regierung war die inhumane. Der Erzbischof von Neapel, Sanfelice und Monsignore de Luce, die den Verurteilten liebe- und erbarmungsvoll behandelten und trösteten, werden im Herzen des Volkes einen Altar haben; die Richter Misdeas nicht.

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»Gott ist nicht gerecht, nur einer ist gerecht – der Tod,« sagte mir eine alte Frau aus dem Volk, die neben mir stand auf der Straße, als eben ein glänzender Leichenzug vorüberging.

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Joseph de Maistre erkennt in seinem Buch »vom Papst«, freilich in mystischen Ausdrücken, die ungeheure intellektuelle Revolution an, die sich infolge der politischen Revolution vollzogen hat. Er sagt, die Sprache der Priester sei abgenützt und überzeuge nicht mehr, die Sprache der Laien müsse dafür eintreten. In dem anderen Buche, »Sur le principe générateur des constitutions«, erklärt er die religiösen Analogien der Völker, vernichtet also die direkte Offenbarung. Er schlägt vor, in einer großen Stadt, auf antiken Überresten, eine Statue von Christus zu errichten mit der Inschrift: »A l'Osiris chrétien dont les envoiés ont parcouru le monde.« Er erkennt damit eine christliche Mythologie an. O Joseph de Maistre, liebenswürdiger, feiner Geist, sympathisch trotz deiner Irrtümer, wie konntest du dir so widersprechen!

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Wenn ich dem heiligen Augustin darin beistimmte, daß der Mensch des Besitzes der absoluten Wahrheit bedürfe, um glücklich zu sein, und daß das bloße Suchen nach ihr ihn nicht befriedige, so würde ich mich alsbald in den Schoß der katholischen Kirche begeben, denn da ist positive Wahrheit für alle Lebensprobleme. Wenn man es kann, muß es sich sehr bequem darin ruhen lassen. Ich halte es aber mit Lessing und glaube, daß in der Einsicht unserer Beschränkung, die es uns unmöglich macht, das Absolute zu erkennen, die einzige Ruhe liegt, zu der wir gelangen können, indem wir dann erst mit vollem Bewußtsein uns »immer strebend bemühen«, und so der Erlösung vom Schmerz des Unbefriedigtseins teilhaftig werden.

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Das Prinzip des Guten und Bösen ist da, soweit das Bewußtsein zurückreicht; aber es geht nicht von einem Herrscherwort aus, das den Menschen fesselt, denn damit bliebe immer ein Widerspruch zwischen Freiheit und Gewalt. Das Gute ist Freiheit der Entwicklung: alles, was eine ausgelebte Form verewigen will, ist böse. Darin ist der Textstelle fehlt im Buch. Re. worfen, daß er Hülle um Hülle zerbrechen, sich ewig neue Geist auch dem unabwendbaren Gesetze der Natur unterformen, gleich den neuen Frühlingen, schaffen muß. Wer dem Einhalt tut, beschränkt das Gebiet der Freiheit, tut Böses, bereitet moralischen Tod.

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Den Kampf des Lebens schon vor dem leiblichen Tod ausgekämpft haben, ist das vielleicht eine neue Form der Religion? Nicht mehr der Schmerz und der Kampf, sondern der Frieden und das Glück. Ist alles Drängen und Treiben nur das Sehnen danach, und wird damit die Erde schon zur vergöttlichten Heimat? Es wären die Griechen, nur in höherer Potenz.

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Erst wenn die Hälfte des Lebens vorüber ist, fangen wir an, unsere eigene Natur und ihre wahren Bedürfnisse ganz zu verstehen und fühlen dann den bitteren Schmerz, das an uns Versäumte nicht nachholen, uns nicht selbst zum vollkommenen Kunstwerk machen zu können. Die Erziehung in den Händen einsichtsvoller Menschen könnte uns vieles zu Bedauernde ersparen. Welche herrliche Aufgabe, und wie mangelhaft wird sie meist noch erfüllt!

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In der Neujahrsnacht von 1878 auf 79 lag ich schlaflos und hörte in Gedanken den letzten Akt aus Wagners Götterdämmerung, und bei der Stelle »Deine Raben hör ich rauschen« fiel mir ein, wie doch fast alle Götter Vögel zu Attributen hatten, wohl als die im Luftmeer Heimischen, dem Himmel Nahen, so Wotan die Raben, Zeus den Adler, Minerva die Eule, Venus die Tauben usw. Wieder der geistreiche Symbolismus der Alten.

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Ostermorgen in Neapel. Himmlischer Morgen! Der Vesuv raucht wie ein Opferaltar, Christ ist erstanden! Die alte Sage umklingt mich heute in aller Schönheit.

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Der Sommer 1882 rief mich nun wieder nach Bayreuth, und zwar schon früh, um allen Proben zum Parsifal beizuwohnen, der zum erstenmal aufgeführt werden sollte. Als ich einige Jahre früher, im Sommer 78, zu Besuch bei Wagners war, kam der Meister eines Tages aus seinem Arbeitszimmer oben im Haus zu uns herunter und sagte: »So, nun habe ich meinen zweiten Akt fertig gemacht. Das ist mir schwer geworden, so etwas schreib ich nicht wieder.« Dann hörte ich von Liszt aus dem ersten Akt spielen und drei Jahre später in Neapel, wie erwähnt, die erste Gralsszene singen. Nun war das Werk vollendet und zur Aufführung bereitet, und um nichts in der Welt hätte ich versäumen mögen, dieser ersten Aufführung beizuwohnen. Schon im Jahr vorher in Neapel hatte mich Joukowsky, der ein Haus in der Nähe von dem Hause Wagners gemietet hatte, aufgefordert, mich in dem Parterre, das er nicht benutzte, einzumieten, und ich war gern darauf eingegangen, da außer mir nur noch Stein im Hause wohnte und dies mir also ein sehr sympathisches Trio wurde, das die Stimmung zuließ, wie sie zur Anhörung des erhabenen Kunstwerks einzig sein mußte. Wie sich nun in den Proben nach und nach diese Wunderwelt der Töne vor mir auftat, steigerte sich von Tag zu Tag meine Ergriffenheit. In der Generalprobe, wo nur wenige Eingeweihte zugelassen waren, saß ich neben Liszt, der die Partitur vor sich hatte; plötzlich in Ekstase ergriff er meinen Arm und sagte ganz außer sich: »Ce n'est pas à croire à ses oreilles!« Seine älteste Enkelin, die feurige Daniela von Bülow, die auf der anderen Seite neben mir saß, sagte, als das Liebesmahl im Gralstempel zu Ende war und die Ritter sich den Bruderkuß gaben: »Ich wollte, ich hätte einen Todfeind, um ihm in diesem Augenblick zu vergeben.« Das waren alles Zeugnisse der Wirkung, die von diesem Werke ausging und die sich durch das Anhören sämtlicher Aufführungen nicht abschwächte, sondern eher noch wuchs. Es ist soviel seitdem über Parsifal geschrieben worden, so viele haben ihn gehört, daß es unnütz wäre, noch auf eine Analyse einzugehen. Er ist eben, wie das vollendete Kunstwerk sein soll, jeder Analyse enthoben; er ist da wie ein herrlicher Wunderbau, wie eine Göttergestalt des Phidias, wie alles Vollendete, vor dem die Kritik verstummt, das man in sich aufnimmt, wie man reinen Äther einsaugt, mit einem unaussprechlichen Wohlgefühl, und nach dem man sich edler, allem Hohen verwandter, über alles Erdenleid versöhnter fühlt.

Der törichte Irrtum, dieses Werk als eine Rückkehr Wagners zu der orthodoxen dogmatischen Kirche anzusehen, der sich bald in Ermangelung anderer Kritik hervortat, konnte der erhabenen Schöpfung keinen Abbruch tun für den Verstehenden. Der Gedanke der höchsten Idealität, wie er im Grunde der Legende des Neuen Testaments sich in der Gestalt des Jesus von Nazareth ausdrückt, hat auch den Parsifal geschaffen, hier noch verklärt durch die Macht der Töne, die wie eine Offenbarung des ewig Schönen die Erscheinung umschweben. Es war dies Werk das letzte Siegel, das ein großer Mensch auf sein Leben drückt. Danach braucht man nichts mehr zu sagen, noch zu tun; der Bund mit der Ewigkeit ist geschlossen; das Tagewerk ist vollbracht; das Zeitliche fällt ab, und der ewige Gedanke steigt auf, um unsterblich fortzuleben in den kommenden Geschlechtern und im Verein mit allem dagewesenen wahrhaft Großen den Tempelbau des Geistes über der gemeinen Wirklichkeit zu erheben, in dem die reinen Seelen ihren Götterdienst feiern und dem Ideal huldigen, das sich ihnen durch den Mund des Genius verkündet.

Und es kam so, wie es kommen mußte, unsagbar schmerzlich nach der irdischen, erhaben bedeutungsvoll nach der ewigen Seite. In dem Winter, der diesen herrlichen Wochen folgte, war ich wieder in meinem kleinen Heim in Rom, und Wagners waren in Venedig, einem Lieblingsorte Wagners. Ich hatte oft Nachricht von ihnen, auch durch Joukowsky, der gleichfalls dort war, und freute mich, daß es ihnen gut ging und daß sie sich in der herrlichen Lagunenstadt ausruhten von der Ermüdung, die notwendig mit den Aufführungen in Bayreuth verbunden ist. Wer vermöchte daher meine tiefe Bestürzung zu beschreiben, als ich am 14. Februar 83, früh am Morgen, ein Telegramm von Joukowsky erhielt mit den Worten: »Wagner ist gestern plötzlich entschlafen.« Ich traute meinen Augen nicht, ich suchte zu hoffen, der italienische Telegraphist habe falsch gelesen und falsch geschrieben, aber die traurige Wahrheit drängte sich mir doch auf, und ich fuhr eilig zu der mir innig befreundeten Tochter von Donna Laura Minghetti, die kürzlich in Rom angekommen war und noch im Hotel wohnte. Ich fand sie in Tränen, sie hatte es auch erfahren; sie, selbst ausgezeichnete Musikerin, war Wagner und seinem Werk ebenso ergeben wie ich. Wir teilten den gemeinsamen Schmerz, der nur darin Trost fand, daß es gerade nach der vollendeten Aufführung jenes Werks der erhabensten Versöhnung und des reinsten Friedens hatte sein müssen, ein Abschluß der irdischen Erscheinung, wie er nicht verklärter und – ich gebrauche das verpönte Wort mit vollster Überzeugung – metaphysischer gedacht werden konnte.

Lange Zeit bangte mir um das Werk von Bayreuth. Jahre vergingen, ehe ich wieder dorthin zu gehen mich entschließen konnte, wo nun der Schöpfer fehlte, in dem ich nicht nur den Genius verehrt, sondern auch einen Freund gefunden hatte; aber das Schicksal war diesmal, was es nicht immer ist, groß dem Großen gegenüber, und ließ der einzigen, die, nach dem Meister selbst, die Werke wieder erschaffen konnte, die Kraft wiederkehren, alles in die Hand zu nehmen und herrlich zu gestalten. Als ich dann nach Jahren in tiefster Rührung im Garten zu Bayreuth an dem Grabe stand, in dem das Vergängliche ruht, da sagte ich leise vor mich hin: Dein Werk wird leben, Jahrhunderte überdauern, und dein Genius wird strahlen in der Konstellation derer, die die Menschheit mit Recht unter die Sterne versetzt.

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Die Helden sterben auf der Bresche, aber als Sieger, so auch die großen Künstler. Was liegt daran, ob die Welt ein Kunstwerk mehr oder weniger hat, wenn nur der Mensch das Ideal in sich selbst realisiert hat und dann stirbt.

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Die Art, wie man aus den großen Kämpfen und Prüfungen des Lebens hervorgeht, entscheidet über den Wert eines Menschen.

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Wie es am Allerseelentag bei den Katholiken Sitte ist, die Gräber der Verstorbenen zu bekränzen, so ist es auch dem Herzen ein Bedürfnis, einen Kranz der Erinnerung zu winden für die, die vor uns den Kampfplatz des Lebens verlassen haben und in die Hallen des unbekannten Friedensreiches eingegangen sind.

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O schöne Rätsel reiner Seelen, lösbar nur in einer höheren Existenz.

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Ich hatte schon im Frühjahr viele Wochen mit Olga in Cannes im südlichen Frankreich zusammen verlebt, wohin man sie ihrer Gesundheit wegen geschickt hatte, und es unterblieb daher diesmal meine jährliche Pilgerfahrt nach Versailles in ihr Heim, wo die Sommer zuzubringen nun schon eine stehende Gewohnheit geworden war. So nahm ich die freundschaftliche Einladung von Donna Laura Minghetti an und verbrachte wieder einige Wochen auf dem herrlichen Settefonti, in gemütlichem Behagen und geistiger Angeregtheit. Dann für den übrigen Teil des Sommers folgte ich einer Empfehlung Minghettis und ging nach Crespano, einem Orte am Fuß der venezianischen Alpen, doch schon in allmählichem Ansteigen, 900 Fuß über der Meeresfläche gelegen. Von da überschaut man die prächtige venezianische Ebene mit ihren Flüssen, ihren Orten und Städten, die sonderbare, an Versteinerungen reiche Hügelkette der Euganeen und der paduanischen Berge, und hat den Eindruck, als könne es kein fruchtbareres, reicheres Land geben als dieses. Einst war es auch so unter der Herrschaft der großen Republik, aber jetzt ist viel Not und Armut da, und die Hauptnahrung der Landbevölkerung ist die Polenta, daher denn auch die Maisernte die große Sorge des ganzen Jahres ist. Crespano selbst ist ein kleines Örtchen, das mir nichts Interessantes bot, aber in der Nähe sind eine Menge Orte, wo eine bedeutende Vergangenheit und eine ewig reizvolle Gegenwart einen Bund geschlossen haben, wie man es eben nur in diesem wunderbaren Land Italien findet. So fuhr ich eines Tags zwischen grünen Hügeln und anmutigen Hecken nach Possagno, einem kleinen, reizend gelegenen Dorf, das die Heimat eines berühmten Künstlers ist. Canova wurde hier geboren, ward von hier als armer Knabe nach Venedig geschickt, um sich in der Kunst auszubilden, wurde berühmt und reich und hinterließ ein Vermögen von sechzehn Millionen, das er zum großen Teil dem kleinen Geburtsort und einiges auch dem nahen Crespano und anderen kleinen Orten der Umgegend hinterließ. Eine große Summe bestimmte er für die Errichtung eines Tempels, dessen Plan er selbst zeichnete, den Anfang von dessen Bau noch leitete, und der nach seinem Tode vollendet wurde und zwei Millionen kostete. Er ist nach dem Vorbild des Pantheon gebaut, zum Teil aus weißem Marmor, und macht auf dem Hintergrund der grünen Hügel, vor denen er sich frei, den Ort überragend, erhebt, einen prächtigen Eindruck. Eine großartige Treppe führt hinauf, und sechzehn granitne Säulen tragen die Vorhalle. Das letzte Werk Canovas, zugleich eins seiner schönsten, eine Pietà, vor deren Vollendung er im Jahre 1822 starb, befindet sich im Innern; ein Engländer hat sich die in Marmor begonnene Gruppe vollenden lassen, die hier aufgestellte ist von Ferrari in Bronze gegossen. Ein Marmorsarkophag ihr gegenüber umschließt die Gebeine des Künstlers, und außerdem schmücken den Tempel wertvolle Gemälde, von ihm selbst hierher vermacht. Die Priester, die den Tempel bedienen, sind für immer durch ihn versorgt, ebenso ist es eine große Erziehungsanstalt, die sie leiten. Canovas Geburtshaus ist zu einem Museum eingerichtet, wo alle seine Werke, teils in Ton, teils in Gips kopiert, aufgestellt sind mit einigen wenigen Originalen in Marmor. Die außerordentliche Produktivität, die sich hier in ihrer Fülle zeigt, setzt in Erstaunen, aber es fällt auf, wie einförmig und konventionell er in seinen Typen gewesen ist. Es fehlt die spontane Eingebung durch die göttliche Mannigfaltigkeit des Lebens, wie bei den Griechen. Eine Jugendarbeit, Dädalos und Ikaros darstellend, macht hiervon eine Ausnahme und zeigt eine weit größere Natürlichkeit als die übrigen Sachen. Es brachte mich dies auf den Gedanken, daß Rom auch vielleicht für diesen Hochbegabten die Gefahr gehabt hätte, die es noch heutzutage für viele Künstler hat, nämlich, sich durch das Vorbild der Antike zu sehr beeinflussen und sich die spontane Natürlichkeit des Bildens rauben zu lassen, da doch die Antike in ihrer Eigentümlichkeit nie mehr von modernen Menschen erreicht werden kann, so wie niemand mehr eine Iliade, einen Prometheus oder eine Antigone wird schreiben können. Dessenungeachtet muß man ihn unter die größten Künstler moderner Zeiten stellen und muß ihn als Menschen dafür ehren, daß er sein großes, selbsterworbenes Vermögen dem kleinen Heimatsorte ließ, dessen Abgelegenheit kaum seinem irdischen Ruhme mehr dienen konnte, weshalb es also reinaus ein Akt der Liebe gegen den heimischen Fleck Erde war.

Ein anderer Ausflug führte mich von Crespano nach dem am Abhange eines Hügels gelegenen Städtchen Asolo, jetzt ein kleiner verarmter Provinzialort, einst der Sitz eines geistvollen literarischen Lebens, als Katharina Cornaro, nachdem sie Königin von Cypern gewesen, hier Hof hielt. Von dem Söller ihres Schlosses sah sie über die reiche venezianische Ebene hinweg, nach der stolzen Vaterstadt hinüber, der Königin der Meere, die damals noch in voller Machtfülle prangte. Der Blick überschaut von hier fünf Provinzen mit ihren Hauptstädten, Vicenza, Padua, Venedig, Treviso, Belluno. Flüsse, wie die Brenta, die Piave und andere, eilen mit ihren Nebenflüssen, gleich blitzenden Silberstreifen, durch die Ebene der schönen Adria zu. Von Norden schauen die venezianischen Alpen mit ihren grünen Vorbergen herüber, und alles das prangt im Glanz der Sonne und der wunderbaren Farbentöne, die hier so manches Künstlerauge begeisterten. Aber neben diesem Glanz der Natur, der ewig bleibt, welch ein Bild des Verfalls irdischer Größe bietet dieser Ort! Die stolze Lagunenstadt ist machtlos und verarmt, die prachtvollen Paläste sind zum Teil verfallen; Katharina Cornaros Schloß in Asolo ist fast verschwunden; in dem kleinen noch erhaltenen Teil befindet sich die sogenannte Sala del consiglio, in dem jetzt ein erbärmliches Provinzialtheater aufgeschlagen ist. Der Impresario, die komische Figur, stand gerade davor, als ich in den Saal trat, und erwartete mit angstvollem Blick den Verkauf der Billette, um im voraus die Einnahme des Abends zu berechnen. Ich fragte meinen Führer, ob sich nicht ein beglaubigtes Bild der Königin vorfände. Er bejahte es und führte mich in ein Privathaus, wo eine junge, blonde Witwe, eine wahre Bella di Tiziano, mich sehr artig empfing und mir ein Zimmer aufschloß, in dem ein Bild die Katharina, etwas korpulent und nicht gerade schön, darstellt. Die blonde Bella versicherte, es sei nach dem Leben gemalt, von wem wußte sie nicht. Jedenfalls war sie aber schöner als die Königin, doch als ich sagte, wie schön ihr Städtchen sei, sagte sie mit dem Ausdruck tiefer Bitterkeit: »Die Lage – ja, aber hier leben zu müssen ist schrecklich.« Und wen sollte es auch, nicht betrüben, solche Stätten zu sehen, wo einst die Kultur ihre schönsten Blüten trieb, und wo nun ein armseliges Leben sich kümmerlich fristet und nicht einmal mehr die Gaben der reichen Natur durch sorgfältige Pflege auszubeuten weiß.

Crespano wurde mir doch zu heiß zu längerem Aufenthalt, und ich beschloß, in die Tiroler Alpen hinaufzugehen, in die Dolomitenwelt, von deren Wundern ich schon so viel gehört hatte. Im leichten kleinen Wagen, wie es dort noch üblich war, begab ich mich mit meiner treuen Jungfer auf die etwas ermüdende Reise, die aber reichlich durch das mannigfaltig Schöne, was sie zu sehen bot, für die Ermüdung entschädigte. Zunächst erfreute mich das alte Feltre, eine reizende kleine Stadt im Piavetal. Freilich ist sie jetzt verödet, die schönen Häuser im venezianischen Stil haben meist die Fenster mit Brettern vernagelt, die Fresken, mit denen sie bemalt waren, sind halb verwischt, und der ärmliche Betrieb des modernen Lebens paßt nicht zu der künstlerischen Vornehmheit der alten Stadt, die einst, durch großen Handel blühend, als der Sitz alter Geschlechter, berühmter Gelehrten und hoher Bildung ausgezeichnet war. Der Hauptplatz ist von monumentaler Schönheit. Es befinden sich da: das Theater, dessen Unterbau von Palladio, andere Gebäude, die alte, hoch gelegene Kirche S. Rocco, darunter ein prächtiger Brunnen, darüber die Felsen und Berge, die überall malerisch in die Bilder der Stadt hineinragen, eine Säule mit dem Löwen von S. Marco, der an die Zeit der venezianischen Herrschaft mahnt, und endlich zwei moderne Statuen, 1868 der Erinnerung an zwei ausgezeichnete Feltresen gewidmet und zwar nicht etwa tapfern Heerführern, deren es auch viele gehabt, sondern Männern des Friedens, die auf geistigem Gebiet, weit über ihre Zeit hinaus, ein mildes Licht verbreitet haben. Es waren dies Vittorino di Rambaldoni und Pamphilo Castaldi. In der malerischen Tracht ihrer Zeit stehen sich die beiden hier gegenüber, und das Postament des ersteren trägt die Inschrift:

Feltre hat in seinem Vittorino
Aus der Familie der Rambaldoni
Italien das Vorbild eines, der weise lehrt,
Und der Wiedergeburt der Kultur in der Welt
Einen Fürsten der Erzieher gegeben.

Auf dem Postament des zweiten steht:

An Pamphilo Castaldi,
Den großmütigen Entdecker
der beweglichen Buchstaben,
den Tribut der Ehrfurcht,
den verspäteten,
bringt Italien dar.

Diese beiden waren es in der Tat wert, daß ihr Andenken aus den Nebeln der Vergangenheit hervorgezogen wurde. Vittorino war 1378 in Feltre geboren. Er stammte aus dem alten berühmten Geschlecht der Rambaldoni und zeigte von Kindheit an eine solche Liebe zu den Studien, daß man ihn nach Padua zur Universität schickte. Er studierte Griechisch, Latein, Philosophie, Theologie unter den berühmten Lehrern dort, aber seine größte Sehnsucht war, die Mathematik zu lernen, doch ihr Lehrer Pelacane gab seinen Unterricht nur um vieles Geld, und die geringen Mittel Vittorinos reichten dafür nicht hin. Seine wißbegierige Seele ließ sich aber dadurch nicht abschrecken, er verdingte sich als Diener bei dem auf sein Wissen eifersüchtigen Gelehrten und bemächtigte sich so vollkommen der Wissenschaft, daß sich sein Ruf trotz seiner Jugend bald verbreitete und einer seiner Lehrer ihm den eigenen Sohn zu unterrichten gab. Es gab kein Opfer, keine Mühe, die er scheute, um sein Wissen zu vermehren, das er nachher großmütig ohne Bezahlung seinen Schülern mitteilte. Sein Ziel war Religion, Tugend und Wissen harmonisch zu verschmelzen, weil nur so wahre Bildung zu erreichen sei. Sein Ruhm als Erzieher verbreitete sich bald so, daß Gianfrancesco Gonzaga, Herr von Mantua, sich an ihn wendete und ihn mit dem Anerbieten reichen Lohns bitten ließ, die Erziehung seiner Söhne zu übernehmen. Vittorino zweifelte, ob so viel Reichtum mit der Tugend verträglich sei, und ging selbst zu Gonzaga nach Mantua, um dessen Gesinnungen zu prüfen. Er sagte ihm, daß er bisher entschlossen gewesen sei, den Reichtum und fürstliche Wohnungen, die er für Stätten des Ehrgeizes und verderblicher Gewohnheiten halte, zu fliehen. »Doch,« fuhr er fort, »da man mir von dir ein schönes Lob gesagt hat und daß du denkst wie ich, so komme ich auf deine Einladung und werde gerne bleiben, wenn du von mir nur Dinge verlangst, die deiner und meiner würdig sind, und wenn deine Tugend sich bewährt und deine Sitten lobenswert bleiben.« Der Fürst versprach freundlich alles, was Vittorino wünschte und erwähnte dann des reichen Lohnes, den er ihm zugedacht. Darauf sagte Vittorino: »Es scheint mir seltsam, über das noch zu verhandeln, was ich immer verachtet habe. Hätte ich solche Wünsche, so würde deine Freigebigkeit sie gewiß befriedigen. Aber du kannst mir doch nichts Kostbareres geben, als deine Söhne, noch kann ich etwas Wünschenswerteres erlangen, da ich gekommen bin, um die Tugend zu lehren, und nicht um Geld zu erhalten.«

Und dieser Bedürfnislosigkeit des Lebens und der edeln Einfachheit der Sitten blieb er treu, war aber dabei immer bereit, die Not anderer zu lindern und liebevoll Hilfe zu bringen mit Rat und Tat. Die Erziehungsanstalt, »Giocosa« benannt, die er bei Mantua gründete, erlangte bald solchen Ruf, daß nicht nur die Jugend aus ganz Italien, sondern auch aus Frankreich, Deutschland, ja Griechenland, herbeieilte, um hier in jeder edlen Wissenschaft, in ritterlicher Tugend und körperlicher Geschicklichkeit unterrichtet zu werden, vor allem aber durch das Beispiel des geliebten Lehrers sich zur Festigkeit des Charakters in Tugend und Sitte auszubilden. Aber nicht nur den Söhnen vornehmer Geschlechter wandte Vittorino die Wohltat solcher Erziehung zu; wo er bei armen jungen Leuten schöne Anlagen fand, nahm er sie auf, gab ihnen Unterricht, Kost und Kleidung umsonst und sorgte oft auch noch für die Familien, damit die Armut die jungen Leute nicht hindere, die Schule zu besuchen. Vittorino hätte Bände über Philosophie, über griechische und lateinische Literatur schreiben können, aber er zog es vor, persönlich auf seine Schüler zu wirken und anstatt sich Reichtümer zu sammeln mit den freigebigen Spenden seiner reichen Schüler, gab er alles hin, um den Armen zu helfen und starb selbst völlig arm. Seine Ideen über Erziehung waren seiner Zeit weit vorausgeeilt und bleiben in nichts hinter den Ideen berühmter moderner Pädagogen, wie Pestalozzi und anderer, zurück. Grenzenlos war aber auch die verehrende Liebe seiner Schüler für ihn. Einer der edelsten unter ihnen, Federigo di Montefeltro, hatte das Bildnis Vittorinos in seinem Zimmer an hervorragender Stelle angebracht mit der Unterschrift: »Seinem heiligen Lehrer Vittorino von Feltre, der ihm durch Unterricht und Beispiel menschliche Würde lehrte, widmete dies Federigo.«

Erinnert die Gestalt dieses herrlichen Mannes nicht an eine andere, auch herrliche des damals an hervorragenden Menschen so reichen Italiens, an Francesco d'Assisi? Nur daß Vittorino noch höher steht, indem er seine Schüler befähigte, Tugend und höchste Bildung zu vereinen, mitten im Gewühl des Lebens menschliche Würde zu behaupten und kommende Generationen daran zu mahnen, daß die Größe eines Volkes nicht in seiner äußeren Macht und politischen Bedeutung, sondern in der Tugend und Bildung seiner Bürger bestehe.

Der ihm jetzt auf dem Hauptplatz Feltres in Marmor gegenüberstehende andere Feltrese, Pamphilo Castaldi, wurde gleichfalls aus einem alten edeln Geschlecht am Ende des 14. Jahrhunderts geboren. Seine Jugend fiel in die Zeit, wo die Vaterstadt reich war an ausgezeichneten Menschen und wo Vittorino die Liebe zur Tugend und Erkenntnis durch Wort und Beispiel lehrte. Es war eine Zeit, wo das Wissen Hand in Hand ging mit dem sittlichen Leben, und wo diese Vereinigung das hervorbrachte, was allein Bildung zu heißen verdient. Pamphilo gab sich besonders dem Studium der schönen Wissenschaften hin und eröffnete in der damals so blühenden Heimat eine ruhmvolle Schule der Literatur und Wissenschaft, wo er unentgeltlich Weisheit lehrte und neben dem Studium der alten Sprachen, besonders auch zu dem der italienischen Muttersprache Anleitung gab, die, wie Minerva aus dem Haupte Jupiters, so beinahe plötzlich aus dem Genius Dantes entsprungen war. Er gehörte zu den ersten in Italien, die sich dieses Studium angelegen sein ließen, und gerade dies zog auch aus der Fremde eine Menge Schüler herbei, die die Sprache erlernen wollten. Unter den Deutschen, die deshalb kamen, soll Johannes Fust oder Faust gewesen sein, der in Handelsgeschäften nach Venedig gekommen und, vom Rufe des Castaldi gelockt, nach Feltre gegangen sei, wo er sich einige Zeit in dessen Hause aufgehalten und daselbst den Gebrauch beweglicher Buchstaben kennen gelernt habe, welche Erfindung Castaldis er nachher sich zugeschrieben habe.

 

Das interessante Feltre hat, wie alle Städte und Orte des Friuli, Veneto und Cadore, eine vielbewegte, kriegerische, zum Teil sehr blutige Geschichte. Sie alle mußten dafür büßen, daß sie sich dem Geschick der herrlichen Königin der Meere verbunden hatten. Nachdem sie alle, aus früheren Stürmen, unter das Banner der mächtigen Republik geflüchtet waren, die ihnen treu Versprechen hielt, Schutz gewährte und die lokale Unabhängigkeit nicht antastete, kam die unselige Liga von Cambray, und die deutschen Heere eroberten, verwüsteten und brandschatzten die blühenden Städte, um ihrer Treue gegen Venedig willen. Feltre aber verdankte seinen schließlichen völligen Ruin, ein zweites Troja, auch einer Helena. Wolfgang Hiberner war als Befehlshaber der deutschen Truppen dort zurückgeblieben und überließ sich im Gefühl seiner Macht jeder Zügellosigkeit und Tyrannei; Helena, die Gattin eines vornehmen Feltresen, Del Lusa, eine durch edle Sitte und weibliche Reize ausgezeichnete Frau, erweckte seine Leidenschaft, er ließ sie entführen und in seinen Palast bringen. Die Feltresen dürsteten nach Rache, öffneten dem venezianischen Heerführer Mocenigo eins der Tore, die deutsche Besatzung wurde überfallen, Del Lusa ließ dem Wolfgang die Augen ausstechen und den Soldaten, die bei der Entführung geholfen hatten, die rechte Hand abhauen. Der Kaiser Maximilian, sobald er dies hörte, schickte wutentbrannt den General Georg Lichtenstein mit einem Heer von 12 000 Mann, um Feltre von Grund aus zu zerstören, welchen Befehl Lichtenstein mit unerhörter Grausamkeit vollführte, so daß die seit 600 Jahren blühende, reichgeschmückte Stadt nur noch ein rauchender, blutiger Trümmerhaufen war. Aufs neue entbrannten verzweifelte Kämpfe, und von seiten der Feltresen geschahen so denkwürdige Taten des Heldenmuts, der Vaterlandsliebe, der Opferfreudigkeit, daß sie wohl verdienten, einen Sänger zu finden, der ihnen, wie den Taten vor Troja, unsterblichen Ruhm verliehe.

Der Zug der cadorischen Alpen, die man auf dem Wege von Feltre nach Belluno beständig vor Augen hat, entzückte mich. Es ist gewiß einer der schönsten Gebirgszüge, die man sehen kann. Wild zerklüftete, kühn erhabene Formen, mit allem Farbenreiz des Südens geschmückt, so daß sie nicht finster drohend und vernichtend auf uns niederschauen wie die Alpen der Schweiz. Als die Abendsonne auf den Zacken und Spitzen der Dolomitenriesen spielte, sahen sie aus wie lauter goldene und silberne Götterburgen, wie eine hunderttorige Walhall, und in den Wolken, die phantastisch gefärbt um ihre Gipfel flogen, erschaute ich siegesfrohe Walküren, die auf schnellen Rossen dahergestürmt kamen, die Leichen erschlagener Helden hinführend zu frohem Aufleben, bei Wotans Göttermahl.

Als ich endlich in das engere Piavetal einfuhr, wo die Straße aufwärts zu steigen beginnt, strömte mir der Duft der Tannenwälder entgegen, die diese Gegend beinah zu einem Kurort machen, so wohltuend ist er. Auch war wohl vorzüglich deshalb die damals noch sehr junge Königin von Italien gerade zwei Tage vor mir hier eingezogen, um einige Wochen in einem der unteren Orte des Tales, wo der Geruch am stärksten ist, zuzubringen. Ich fuhr noch unter all den Triumphbogen, mit Tannenzweigen und aus weißem Papier verfertigten Margheritenblumen geschmückt, dahin und wurde Zeuge der herzlichen Freude, die das brave Bergvolk über diesen ersten Besuch der allgemein geliebten Fürstin empfand. Als ich höher hinauf kam, wo beim Dorfe Tai die große strada alemanna, die nach Tirol führt, sich abzweigt, während rechts die Straße zu den Orten des Cadore führt, konnte ich mir sogar die Ehre der Triumphbogen zurechnen, denn die Königin sollte erst am Nachmittag des Tages hinaufkommen. Es rührte mich tief, den Schmuck an den hölzernen Häuschen der Bauern zu sehen, der meistenteils aus weißen Bettüchern, Bändern von buntem und Margheritenblumen von weißem Papier, das alles aus den Fenstern hing, bestand. Jedes arme Häuschen hatte sich herausgeputzt für das noch nie dagewesene Fest. Pieve endlich, wo die Königin heute empfangen werden sollte, prangte, ebenfalls geschmückt, im Glanze der Sonne, die die es umgebenden Dolomitenhäupter vergoldete; aus den Tannen- und Lärchenwäldern ringsum strömte stärkender Wohlgeruch durch die Lüfte. Der kleine GasthofDamals noch der einzige, heutzutage nicht mehr, leider! war vollgestopft von Menschen, die das große Ereignis mit erleben wollten; auf dem Platz vor dem Stadthaus drängte sich die ländliche Bevölkerung der umliegenden Orte; die Musikbande Pieves hatte es zustande gebracht, unter der Leitung eines Musikers, den man eigens von Belluno hatte kommen lassen, die Nationalhymne ziemlich richtig zu blasen, und nun stand sie, den großen Augenblick erwartend; die Schulkinder marschierten auf unter Führung des Lehrers und der Lehrerin; die Glocken fingen an zu läuten und Böllerschüsse ertönten, um anzuzeigen, daß der königliche Wagen in Sicht sei. Die Musiker fingen an zu blasen, zwei Gendarmen zu Pferd kamen angesprengt, hinter ihnen der Vorreiter der Königin in feuerroter Livree, dann der vierspännige offene Wagen, und in ihm die anmutige, blonde Frau mit ihrem noch jungen Sohn, mit Hofdame und Kavalier. Freudenrufe mischten sich mit Musik und Glockenläuten, der Syndikus und die Notabeln des Ortes in schwarzem Frack und weißer Krawatte begrüßten den hohen Gast, ein kleines Kind überreichte Blumen und wurde von der Landesmutter geküßt. Darauf eilte sie die Freitreppe vor dem Stadthaus hinauf, lächelte von oben dem jubelnden Landvolk zu und verschwand dann mit dem Gefolge im Innern des Hauses. Während sie dort verweilte, bliesen die Musiker und schrien die Bauern fortwährend Evviva. Aber alles das war nur Herzlichkeit und Naivität, kein konventionelles Empfangsfest, wie es sonst den Großen der Erde bereitet wird, wobei sie nie die wahre Gesinnung des Volks erfahren. Die guten Cadoriner sahen zum erstenmal ein gekröntes Haupt in ihrer Mitte, und sie begrüßten die holde, freundliche Frau wie ein liebes Familienmitglied. Während der fünf Wochen, in denen sie in Cadore verweilte, sprach das Landvolk von nichts anderem, und man hörte die komischesten Äußerungen in dem naiven Dialekt der Berge, der sie noch anmutiger machte. So sagte mir eine Bäuerin mit ernster Überzeugung: La è molto ben educà (sie ist sehr gut erzogen) è molto pullit (heißt in dem Dialekt: gut). Eine andere sagte: La mi par una sorela (sie scheint mir eine Schwester) und eine dritte erzählte: La ga raccomandà al puteto de studior, de deventa un uomo di sesto e la ga da un bacio (Sie empfahl dem Knaben zu studieren, ein tüchtiger Mann zu werden, und gab ihm einen Kuß.) Man nannte sie auch la bela siora und versprach den Kindern, sie sollten sie sehen, wenn sie artig sein wollten. Von Berg zu Berg riefen die Knaben, die die Herden hüteten, sich den Namen Margherita zu; die Plätze, wo sie geweilt hatte, wurden nach ihr benannt, so hieß ein Kirschbaum, unter dem sie gefrühstückt hatte: el cereser dela nostra Margherita.

Aber nicht bloß beim Landvolk, auch in den andern Ständen war die Begeisterung für dies allgemein, und es war sicher, daß, so wie die Cadoriner einst für die Republik Venedig in treuer Bundesgenossenschaft zu jedem Opfer und jeder Heldentat bereit gewesen waren – gälte es heute für Margarethe von Savoyen Blut und Leben einzusetzen, keiner zurückbleiben würde. Der sehr kleine Ort Pieve, der nicht der größte, wohl aber der Hauptort des Cadore ist, hat sein Zentrum auf der Piazza, wo alles Bedeutende des dortigen Lebens sich abspielt. Auf ihr steht neben dem Stadthaus ein alter fester Turm, dessen Glocke einst die Bürger zu patriotischen Beratungen zusammenrief. An seiner Basis ist ein Marmorrelief, das Calvi, den Cadoriner, darstellt, der an der Spitze der mutigen Bergbewohner im Jahre 1848 den Aufstand gegen die Österreicher befehligte, und als die Tapfern überwältigt waren, gefangen genommen und in Mantua, wie so viele andere edle italienische Patrioten, erschossen wurde. Inmitten des Platzes steht das moderne bronzene Standbild Tizians, der in Pieve geboren wurde. So bezeichnen diese zwei Monumente, des Patrioten und des Künstlers, die charakteristischen Züge des Cadoriner Volkscharakters; große Intelligenz und künstlerische Begabung, Patriotismus und Opfermut. Diese Eigenschaften machten von jeher die Bezeichnung »ein Mann von Cadore« zu einem Ehrentitel, und in einer langen sturmbewegten Geschichte haben die Cadoriner ihn bewährt.

Man streitet noch über die Abstammung der Urbevölkerung, unnützerweise, wie mir scheint, denn es ist offenbar, daß hier Klima und Boden sich ihre Bewohner gebildet haben, mögen sie hergekommen sein, woher sie wollen. Zwischen den herrlichen Dolomitriesen, die nicht beengen und erdrücken, deren sanfte Vorberge mit herrlichem Grün bekleidet sind, in den schönen Bergtälern, die friedliche Feldarbeit zulassen, unter einem Himmel, der immer noch südlichen Farbenreiz hat, da wurden diese Menschen frei, gut, genügsam, intelligent und stolz auf ihre Unabhängigkeit. Sie hatten von jeher schwer darum zu kämpfen. Schon die Römer zogen dieses Wegs, die Ausgrabungen einer Menge Gräber, offenbar von Soldaten der Legionen, lassen darüber keinen Zweifel. Dann kam der Strom der Völkerwanderung hier herunter. Im elften Jahrhundert waren Grafen von Camino Herren in Cadore. Einer von ihnen, Gherardo, der ebenso groß als gut war, kommt bei Dante vor, der in seinem Exil auch in diese Gegenden kam. Ihre Herrschaft endete 1335, als die Cadoriner ihre erste Schlacht gegen die andringenden Deutschen fochten und ihre Bergpässe siegreich verteidigten. Dann kamen sie eine Zeitlang unter die Patriarchen von Aquileja, und zu der Zeit begegnet man schon dem Namen der Familie Cecellio, der bereits einen guten Klang in Cadore hatte. Im 15. Jahrhundert erlosch die Macht der Patriarchen, und es kam nun darauf an, wem man sich anschließen wolle, dem deutschen Kaiser, den Visconti von Mailand oder der Republik von Venedig. In Pieve, als dem Hauptort, versammelten sich die Gemeinden zur Beratung, kamen aber lange zu keinem Entschluß. Da rief endlich einer: »Wir sind Christen, laßt uns den um Rat anflehen, der die Quelle des Lichts ist, er wird uns zeigen, was wir tun sollen.« Das wurde angenommen, und man zog alsbald in Prozession nach dem Dorfe Valle, wo sich eine Kapelle zum heiligen Geist befindet. Da knieten alle im Gebete nieder, hörten die Messe und kehrten in die Beratungshalle nach Pieve zurück. Hier erhob sich ein Ruf: »Gehen wir zu den guten Venezianern.« Das auf der Piazza versammelte Volk rief mit Begeisterung: »Ja, ja, gehen wir zu den guten Venezianern.« Es wurden Abgesandte nach Venedig geschickt, und Cadore schwur der Republik Treue, die dagegen Schutz, allerlei Privilegien und eine Mannschaft zur Verteidigung in das feste Schloß von Pieve gab. Dies geschah im Jahre 1420, und so wurde Tizian also schon als Venezianer geboren.

Zur Zeit seiner Geburt war Cadore in großer Blüte, Kunst und Wissenschaft hatten ihren Sitz dort aufgeschlagen. Von 1300 an gab es in Pieve hohe Schulen für klassische Studien und Philosophie. Venedig brachte große Opfer, um diese auszustatten, und berief die besten Lehrer aus allen Teilen Italiens dahin, damit die Cadoriner Jugend nicht so früh die Heimat zu verlassen brauche, sondern die Elemente der Bildung dort zwischen ihren Bergen fände. Schon zu jener Zeit finden sich die Namen bedeutender Familien, die dem Vaterland ausgezeichnete Männer in Wissenschaft und Kunst und heldenmütige Verteidiger gaben. Aber leider wurde das herrliche Land fortwährend durch Invasionen von Norden her beunruhigt, und Tizians Kindheit muß Eindrücke wilder aufregender Art gehabt haben. Der Anfang des 16. Jahrhunderts muß besonders traurig für Cadore gewesen sein. Im Jahre 1508 verlangte Kaiser Maximilian von der Republik Venedig den Durchzug nach Rom, wo er sich krönen lassen wollte. Venedig verweigerte diesen für eine bewaffnete Armee. Der Kaiser, wütend darüber, schickte ein Heer von Tirol hinunter mit dem Auftrag, Tod und Verwüstung zu bringen. Es kam zur Schlacht, und die tapferen Cadoriner erfochten einen vollständigen Sieg.

Dies war die Schlacht von Cadore, die Tizian das Motiv zu einem Schlachtenbild gab, das sich im Dogenpalast zu Venedig befand, ein Jahr nach Tizians Tod aber durch Feuer zerstört wurde, welches seltsam traurige Schicksal so viele von des großen Künstlers Werken gehabt haben. Leider erfreute sich Cadore nicht lange seines Sieges, denn nach der Liga von Cambray gegen Venedig schnitt Maximilian Cadore von der Republik ab. Die Männer der Berge erhoben sich wieder heldenmütig, und ein wackerer Bürger, Costantini, gab sein ganzes Vermögen, um den Widerstand möglich zu machen. Aber der Kaiser schickte immer neue Truppen, und 1511 wurde ganz Cadore durch Feuer und Mord zerstört, die kleinen Orte wurden verwüstet, alles Wertvolle teils vernichtet, teils weggeschleppt, auch Pieve wurde schwer heimgesucht, und sein festes Schloß wurde niedergerissen. Als sie ihr Zerstörungswerk vollendet hatten, zogen sich die Deutschen zurück, und die armen Familien der Bergbewohner kamen aus ihren unzugänglichen Zufluchtsstätten in den Wäldern, zwischen den höchsten Felsen, zurück zu ihren in Schutt und Asche liegenden Wohnstätten. Die mutigen Bürger von Pieve machten sich alsbald an den Wiederaufbau des Schlosses, und als endlich 1516 Friede geschlossen wurde, erstand Pieve rasch wieder, und 1518 wurde das Stadthaus mit dem mächtigen Glockenturm vollendet.

Während dieser ganzen Zeit wird der Familie Becellio immer ehrenvoll gedacht. Der ältere Bruder Tizians, Francesco, soll ebenfalls großes Talent besessen haben, machte aber zunächst tapfer die Kriege Venedigs gegen die Liga mit, malte dann eine Zeitlang, kam aber nach Pieve zurück, übernahm die Geschäfte der Familie, war der Erste im Rat von Cadore, ging oft in Regierungsgeschäften nach Venedig und starb, 85 Jahre alt, in Pieve. Der Bruder hat seinen edlen, alten Kopf auf einem Familienbild in der Kirche zu Pieve verewigt. Eine ganze Reihe von Künstlern ging aus der Familie hervor, der bedeutendste Mann aber war, außer Tizian selbst, ein Vetter, der nicht Künstler, sondern Rechtsgelehrter und ein hochangesehener Mann in Cadore war, sich auch im Kriege auszeichnete, wonach ihn der Doge adeln wollte, was er aber als demokratischer Cadoriner ablehnte und sich viel lieber »den Redner« nennen ließ, wie man ihn seiner glänzenden Rednergabe wegen nannte. Dazu war er auch Dichter, und es existieren unter anderen Sachen drei Epigramme von ihm auf den Tod der schönen Irene Spielemberg, die Tizian gemalt hat. Cadores größter Sohn, Tizian selbst, 1477 geboren, wurde schon in seinem elften Jahr nach Venedig gebracht, um seine früh hervorgetretene Begabung zur Kunst auszubilden. Als er groß, berühmt und ein Fürst der Kunst geworden war, lebte er in Venedig in der sogenannten casa grande, einem Hause der Insel Murano gegenüber, mit der Aussicht auf die Lagunen und in der Ferne auf seine cadorischen Berge und in der Mitte eines Gartens gelegen, den er mit Liebe schmückte und unterhielt. Hier gebar ihm sein Weib Cäcilia zwei Söhne, Pomponio und Orazio, und eine Tochter Lavinia. Im Jahre 1530 starb seine Frau, und er ging in großem Schmerz mit seinen Waisen hinauf in die Heimat zu den Seinen. Noch lebten sein Vater, sein Bruder Francesco und die Schwester Orsola.

Diese, als sie des Bruders Schmerz sah, erbot sich, mit ihm zu gehen und die Sorge für das Haus und die Kinder zu übernehmen. Sie war ein vorzügliches Wesen, und es gereichte dem Bruder zu großem Trost. Es war keine kleine Aufgabe, seinem Haushalt vorzustehen, denn außer den häuslichen Angelegenheiten der Familie war es auch das gesellige Leben der casa grande, das die größten Anforderungen machte. Freunde, Gäste und Besucher aus allen Ständen kamen von nah und fern, den großen Meister zu sehen und wurden mit edelster Gastfreundschaft bewirtet. Der Brief eines römischen Literaten gibt einen Begriff von den Vereinigungen, wie sie dort üblich waren:

»Ich wurde am 1. August eingeladen, die Art von bacchantischem Fest, das, ich weiß nicht warum, ferrare Agosto genannt wird, in einem herrlichen Garten des Meisters Tizian Becellio mitzufeiern, eines vortrefflichen Malers, wie jedermann weiß, und eines Mannes, dessen freundliche Höflichkeit wohl dazu dient, jedes Vergnügen zu erhöhen. Nun fanden sich bei dem besagten Meister Tizian, weil Gleiches mit Gleichem sich anzieht, einige der seltensten Geister vereint, die sich in dieser Stadt, gleichwie in unserem Rom, befinden. Da war Herr Pietro Aretino, der schreibt wie ein neues Wunder der Natur, ferner Meister Jacopo Tatti, genannt Sansovino, ein beinah ebenso großer Nachahmer der Natur mit dem Meißel, wie der Festgeber mit dem Pinsel. Auch Herr Jacopo Nardi war da, und ich als der Vierte zwischen so viel Weisheit.

Ehe man die Tische hinaussetzte, womit man etwas zögerte, da man im Garten, obwohl es schon schattig war, doch die Sonnenwärme noch fühlte, verging die Zeit mit Besichtigung der lebensähnlichen Gestalten auf den herrlichen Bildern, von denen das Haus voll ist, und in Bewunderung der großen Schönheit des Gartens, der eine Freude und ein Wunder für jedermann ist. Er liegt am äußersten Ende der Stadt Venedig, am Meer, und man sieht von da die hübsche Insel Murano und andere schöne Orte. Sobald die Sonne untergegangen war, füllte sich das Wasser in der Nähe des Gartens mit Tausenden von Gondeln, in denen schöne Frauen saßen; Harmonien ertönten, Musik durch Stimmen und Instrumente, die bis Mitternacht unser köstliches Abendessen begleiteten. Der Garten ist so schön, so gut unterhalten, so berühmt, daß er mir die lieblichen Gärten von St. Agatha in Erinnerung brachte und mir solche Sehnsucht danach und nach den teuren Freunden erregte, daß ich die längste Zeit des Abends nicht wußte, ob ich in Rom oder Venedig sei. Das Abendessen war ebenso gut und schön angeordnet, wie reichlich. Neben den trefflichen Speisen und kostbaren Weinen genossen wir noch alle die Freuden und Erheiterungen, die zu der Jahreszeit, zu den Gästen und dem Feste paßten. Als wir bei Tisch bis zu den Früchten gekommen waren, kam gerade dein Brief, in dem man die lateinische Sprache lobte und die toskanische tadelte. Darüber wurde Aretino so ärgerlich, daß, hätte man ihn nicht zurückgehalten, er eine der schlimmsten Schmähschriften verfaßt haben würde, denn er schrie wütend nach Papier und Tinte und unterließ nicht, einen Teil seiner Entrüstung in Worten zu äußern. Doch endete schließlich das Abendessen sehr gut.«

Die außerordentlichen Erfolge dieses Malerfürsten, der Glanz, der die casa grande umgab, in der Könige, Fürsten, Kardinäle und andere huldigend einkehrten und fürstlich bewirtet wurden, die Ehren aller Art, die man dem Genius und der edlen Persönlichkeit zuteil werden ließ, riefen natürlich Neid und Verleumdung hervor, die die Rache niedriger Seelen an dem Hohen sind. Auf alle Weise bemühte man sich, die Gestalt des großen Cadoriners zu verunglimpfen. Vor allem wollte man aus seiner Beziehung zu Aretino den Beweis seiner Immoralität herleiten, aber auch dies spricht nicht gegen ihn, denn es lag in den Sitten der Zeit, geistreichen Menschen viel nachzusehen; dem Aretino wurde von allen Seiten gehuldigt und die höchsten Personen der Zeit suchten seinen Umgang. Dagegen hatte aber auch Tizian andere ausgezeichnete und ihm innig ergebene Männer zu Freunden, wie Sansovino, Ariosto, Bernado Tasso, Bembo und andere. Ariosto las ihm seinen Orlando furioso vor, um sein Urteil zu hören. Lorenzo Lotto, Paolo Veronese, Giulio Romano waren ihm teuer. Mit Michelangelo, den er in Rom kennen lernte, stand er in Briefwechsel. Dem Kaiser Karl V. war er nicht nur als Künstler, sondern auch als Mensch so wert, daß er ihn zweimal zu sich nach Deutschland rief und ihm die größten Ehren erwies. In Bologna ließ er ihn an seiner Seite reiten, und als ihm die spöttischen Bemerkungen der vornehmen Höflinge darüber zu lästig wurden, erhob er ihn in den Grafenstand des heiligen römischen Reichs.

Nein, sicher war Tizian frei von den häßlichen Lastern, die man ihm andichten wollte. Eine hohe Intelligenz, eine sanfte, großmütige Seele, eine liebenswürdige Natur mit feinen Sitten, ein Begnadeter im Reiche der Kunst, so war der Cadoriner, der noch jetzt in seiner herrlichen Heimat vergöttert wird, wo es kein kleines Bauernkind gibt, das nicht von Tizian zu erzählen wüßte. Und er liebte sie auch, diese Heimat. Fast jedes Jahr zog er mit vielem Gefolge hinauf in seine Berge, um sich an der geheimnisvollen Quelle künstlerischer Eingebungen zu erquicken, an der seine kindliche Seele schon getrunken hatte. In Zeiten der Not kam er Cadore oft zu Hilfe und gab Geld, um Korn zu kaufen. Zwei eigenhändige Briefe von ihm, die als kostbares Besitztum dort aufbewahrt werden und mir vom Syndikus gütig mitgeteilt wurden, geben davon Zeugnis.

In seinen Familienverhältnissen war er nicht so glücklich, wie als Künstler. Seine Frau, die er unendlich geliebt zu haben scheint, starb früh, die treffliche Schwester Orsola starb lange vor ihm, ebenso der Bruder Francesco. Der größte Schmerz für ihn aber war der frühe Tod seiner schönen Tochter Lavinia, die er über alles liebte. Auch sein Lieblingssohn Orazio starb lange vor dem Vater; nur der älteste Sohn, Pomponius, überlebte ihn, aber er war des Vaters unwürdig, führte ein zügelloses Leben, und Tizian lehnte die Bischofswürde, die der Papst dem Pomponius, der Geistlicher war, erteilen wollte, für ihn als deren unwert ab. Auch die nächsten Freunde Tizians starben vor ihm, er überlebte sie alle und war mit dreiundneunzig Jahren noch an der Arbeit. Aber die Pest von 1576, die in Venedig wütete, verlangte auch dieses große Opfer. Er hatte sich nicht früh genug nach Cadore geflüchtet und starb allein, sogar von den Dienern, die sich vor der Ansteckung fürchteten, verlassen. Ein solches Ende nach einem so glorreichen Leben war allerdings traurig, aber vielleicht haben den Sterbenden doch Visionen seiner Unsterblichkeit getröstet. Denn abgesehen von seinen Idealbildern und seinen unübertrefflichen Porträts, durch die er geradezu die Geschichte eines Jahrhunderts auf der Leinwand erzählt, ist er auch als Landschaftsmaler unsterblich. Man hat ihn den Homer der Landschaft genannt, und er hat wirklich in seinen Landschaften das Naturepos seines Cadore geschrieben. Sein Antelao, sein Marmarolo, sein Pelmo und wie die Dolomitriesen alle heißen, sie sind seine epischen Helden, die mit phantastischen Wolkengebilden gigantische Kämpfe bestehen, oder in heiterer olympischer Ruhe die goldfunkelnden Häupter in den reinen blauen Äther erheben. Nur wenn man die wunderbaren Farben-Luftspiele in jenen Bergen gesehen hat, kann man Tizians Landschaften recht würdigen, wie man ihn überhaupt erst recht liebt, wenn man seine Heimat kennt!

Die Cadoriner sind arm, ihre Hauptnahrung besteht in Polenta, ihr Getränk ist Wasser. Sie haben nur drei Monate, um neun zu versorgen; ihr einziger Reichtum besteht im Holzhandel. Aber sie sind genügsam, gut und intelligent, eifrige Patrioten des engeren und weiteren Vaterlands und voll Eifer für die materielle und geistige Wiedergeburt ihrer Heimat. Noch ist bis jetzt der große Strom der modernen Völkerwanderung nicht nach Pieve gekommen. Möge er ihm noch lange fern bleiben! Er führt so viele Übel mit sich, wie man es in der Schweiz z. B. sieht, daß man förmlich aufatmet in der heiligen Frische der Cadorer Wälder und Höhen, wo man sich den Eindrücken der poesieerfüllten Natur noch hingeben kann, ohne von Haufen von Touristen umschwärmt zu sein; wo keine durch die »Inglesi« frech gemachten Bettlerscharen das Mitleid im Herzen verstummen machen; wo, wenn einmal ein Kindchen schüchtern die Hand nach einer Gabe ausstreckt, es sie sogleich fast erschrocken zurückzieht, als habe es eine Sünde begangen; wo jeder bereit ist, eine Freundlichkeit zu erweisen und es beinah als eine Beleidigung ansieht, wenn man ein Trinkgeld dafür geben will. Nein, mein Cadore, laß diesen Strom des modernen Lebens an dir vorüberrauschen! Er ist ein zersetzendes Element, vor dem du dich hüten mußt. Bleibe bei deiner Einfachheit, deiner Reinheit der Sitten und entwickle nur so weit die materiellen Bedingungen des Lebens, um deinen begabten Kindern die Wohltat edler und besonders künstlerischer Bildung zu gewähren. Wer weiß, ob dann nicht wieder manche deiner Hütten Geburtsstätten solcher Großen werden, wie das kleine Haus, in dem Tizian geboren wurde, und ob die Poesie nicht wieder ihre Flügel regt wie einst, wo von Berg zu Berg die Holz fällenden Bauern oder die Hirten sich mit Strophen aus Tassos »befreitem Jerusalem« grüßten, für die sie eigentümlich schöne Melodien erfunden hatten.Leider ist jetzt, nach sechzehn Jahren, der Touristenschwarm dort auch schon eingekehrt.

Oft auf meinen einsamen Spaziergängen überfiel mich die alte Neigung zur gebundenen Rede, und es schrieb sich dann ins Tagebuch, das ich immer mit mir führte, so manches Lied, wie einmal, da mich ein Gewitter überfiel, als ich auf hochgelegener Straße daherkam, neben mir den Abgrund, in dem die Piave rauschte:

Berggeister grollen, finstre Wolken hangen
Tief in den Abgrund, wo der Bergstrom braust,
Und weiße Nebel züngeln sich gleich Schlangen
Hinauf zum Aar, der über Wolken haust.

Der Donner grollt, und tausendfältig hallen
Die Echo ihm aus dunklen Klüften nach;
Durch das Gewog des luft'gen Chaos fallen
Blutrote Blitze, schaurig, Schlag auf Schlag.

Ich kenne euch, ihr starken Urgewalten,
Nicht schreckt ihr mehr die stille Seele hier,
Ihr braucht es mir nicht fürder vorzuhalten:
»Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir.«

Ihr seid ja nicht des Zufalls blinde Söhne,
Euch bindet auch ein ewig strenges Muß,
Und das Gesetz beherrscht euch, wie das Schöne
Und wie die Liebe und wie den Genuß.

Seid ihr es doch, durch die am heit'ren Morgen
Auf grüner Flur die Alpenblume blüht,
Und in der Bäume Schattendach geborgen
Die Herde still zum Kräutermahle zieht.

Ihr seid's, durch die, in reichgeschmückten Auen
Gewalt'ge Ströme hin zum Meere gehn,
Durch die sich königliche Städte bauen
Und Wunderwerke hoher Kunst entstehn.

Und wieder ihr, durch die in Liebeswonnen
Der Jüngling sich zu seinem Mädchen neigt;
Ihr, immer ihr, wenn an der Weisheit Bronnen
Der Labetrank dem durst'gen Geist sich reicht.

Ich sollt euch fürchten, sollte euch nicht kennen?
Ich glich euch nicht, war nicht mit euch verwandt?
Ich sollte euch nicht liebend Brüder nennen,
Erscheint ihr auch in drohendem Gewand?

›Durch euch hab ich gelebt, geliebt, gerungen.
Ihr führtet mich durch dunkler Nächte Pein,
Zum Seelenfrieden und von euch umschlungen
Schlaf ich dereinst zur großen Ruhe ein.

*

Und noch eines von diesen Cadoriner Alpenkindern möge hier stehen. Es kam mir, als ich an einem ganz toll sprudelnden und springenden Alpenbächlein, das von steiler Höhe sich den Weg in die grünen Talgründe bahnte, vorüber kam. Ich grüßte es so:

Du eilst zu Tal, du munt'res Alpensöhnlein,
Leichtfüßig springst du über Stock und Stein
In sorglos heiterm Übermute scherzend.
Denn dir erneuert sich die Jugend ewig
Aus frischen Quellen schneebedeckter Höhn.
Mir schwand sie längst, die holdeste der Gaben,
Die uns Natur verleiht und wieder nimmt,
Und einsam wandle ich die steilen Pfade
Des Alters fort bis zu der letzten Höh.
Und doch beglückt vor dir! denn in dem Herzen,
Da fließen ewig jung der Liebe Quellen,
Des heil'gen Mitleids reine Harmonien,
Und durch die Seele ziehen Geisterscharen
Erhabener Gedanken; sel'ge Chöre
In Hymnen kündend einen neuen Tag – – –
Nicht neid ich dir der ew'gen Jugend Fülle,
Du froher Alpbach eile scherzend fort.

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Bei dem Blick aus meinem Fenster in Rom auf die kunstvollen erhabenen Gegenstände draußen fühle ich es immer, welch eine Wohltat es ist, nicht in banaler Umgebung zu sein, sondern das Schöne, Würdige immer vor sich zu haben. Es ergibt sich daraus eine immerwährende edle Stimmung, in der sich die Ereignisse des täglichen Lebens wie in einem verklärenden Spiegel ausnehmen, in dem das Rauhe, Häßliche, Beleidigende sich mildert. Das hatten die Alten vor uns voraus, daß sie ihr öffentliches Leben so reich mit schönen und würdigen Dingen schmückten, wodurch ein großer Teil der Brutalität, die unser modernes Leben durchzieht, ihnen fern bleiben mußte.

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Heute in der Farnesina vor Raffaels Galathea fiel mir ein, daß Goethe sicher bei seiner Galathea im 2. Teil des Faust an Raffaels Fresko gedacht hat. Raffael war ein Dichter in Farben wie Goethe in Worten. Denn was heißt Dichter sein? Die der Erscheinung innewohnende Idee, das Ewige im Vergänglichen durch Form oder Wort aussprechen, und wie herrlich hat das Raffael getan!

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Unbewußt enthält der Mythos immer den philosophischen Gedanken. Uranos und Gäa sind recht eigentlich das Ding an sich, die Urkraft, die in sich das Doppelprinzip des Seins (Uranos) und Werdens (Gäa) enthält. Uranos wird zerstört durch den aus dem Schoße des Werdens geborenen Sohn, Saturn (Zeit), der Begriff der Zeit zerstört die Einheit des Urdaseins. Rhea (die Erde, also der Raum) bildet mit ihm das Paar, das aus der Zerstücklung des Urdaseins hervorgeht. Saturn verschlingt die eigenen Kinder, die entfliehenden Bruchstücke der Zeit. Rhea schafft das nebeneinander Platznehmende, das Gestaltete: Jupiter der Mensch, der Zeit und Raum auflöst, indem er sie beherrscht und unter seiner Einsicht vereinigt.

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Minghetti, in seinem Buch über Raffael, sagt vom heiligen Hieronymus, »daß er sich verzehrt in Hingebung, und Trost und Leben nur aus dem gnadenreichen Blick ihrer (der Madonna) Schöne nimmt«. Wie tief seelisch ist dies sich Auflösen in andächtiger, inbrünstiger Liebe zur fleckenlosen Schönheit des Weiblichen, der Poesie! Und dann wieder der heilige Franziskus, welch ein Held des Lebens! Ja diese Heiligen waren etwas, vor dem sich die Seele in Demut beugt. Wie wenig dem Ähnliches hat unsere moderne Welt aufzuweisen.

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Herzliches Wohlwollen hilft auch über Meinungsverschiedenheiten hinweg.

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Da das Entsagen zuletzt zu einer wahren Gymnastik der Seele wird, so vollziehen sich dessen Momente zuletzt wie innere Vorgänge, denen man fast als Zuschauer beiwohnt und bei denen man nur noch leise das Zucken des Willens fühlt, der gebändigt durch Vernunft und Liebe sich diesen als zahmer Leu zu Füßen legt, etwa wie in der Goetheschen Novelle der Löwe, besänftigt durch zarten Sinn und Melodie.

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Einfälle kommen meist durch Anschauungen; zuerst sind sie nur mehr plötzliche Empfindungen, noch nicht Denken, nur Nebelflecken, die sich zu Sonnen ballen.

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Der Dichter ist verpflichtet, seine Gestalten künstlerisch abzurunden, sie als ein Gewordnes hinzustellen. Unsere Zeit aber ist so vorzugsweise eine Werdende, alles Leben eilt so ungeduldig neuen Entwicklungen entgegen, daß man die Gestalten unserer Tage kaum für ein Kunstwerk brauchen kann.

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Man las abends in einem kleinen Kreis bei mir die erst kürzlich erschienene Nora von Ibsen, die in der damals sehr zahlreichen skandinavischen Gesellschaft in Rom eine große Aufregung hervorgebracht hatte und der Gegenstand lebhafter Diskussionen war. Eine der Damen bei mir machte heftige Opposition und meinte, Nora hätte ihrem Mann alles früher sagen müssen. Ja, dann war sie aber gerade nicht die Natur, die Idealistin, die ungewöhnlich handelt und sowohl aus Liebe das Gesetzwidrige tut, als auch sich dann losreißt von Glück, Stellung, Mann und Kind, sobald sie begreift, daß es eine höhere Sittlichkeit gibt, als zu bleiben. Bliebe sie, nachdem sie ihren Mann verstanden, so wäre sie der Prostituierten eine, die in legaler Ehe leben.

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Die feine Psychologie in Nora ist: zum Verschweigen des begangenen Unrechts und dadurch zur Täuschung kommen aus Liebe und Zartgefühl.

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Ibsen, den ich den Vorzug hatte kennen zu lernen, erzählte mir von einem dänischen Schriftsteller, der gesagt habe, durch die Sünde sei die Kunst in die Welt gekommen. – Gewiß, wenn das Leben ohne Sünde wär, so wäre die Kunst nicht gekommen, denn das Leben wäre selbst das Kunstwerk und bedürfte der Erlösung durch die Kunst nicht.

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Es war im Anfang der achtziger Jahre, daß sich hier ein Kunstzentrum bildete, das an die Zeiten der Kunstblüte der Renaissance erinnerte. Franz von Lenbach, der echte Schüler der großen Meister, der Tizian, Velasquez und anderer, kam, sich in Rom niederzulassen, und zwar in den herrlichen Räumen des Palazzo Borghese, die er künstlerisch schmückte mit hohen Kunstwerken alter Zeit, sein Besitztum, und den eigenen herrlichen Schöpfungen, die in Fülle durch seine Meisterhand entstanden. Es dauerte nicht lange, so wurde es Mode, wie es zu gehen pflegt nachmittags in den von ihm angesetzten Stunden diese einzige Kunststätte zu besuchen, und man sah bald die ganze vornehme römische Welt sich hier bewegen und die schönen Frauen nach der Ehre geizen, von diesem verklärenden Pinsel auf die Leinwand gezaubert zu werden. Mich verband schon seit längerer Zeit herzliche Freundschaft mit dem großen Künstler und dem trefflichen Mann, und ich zog es bei weitem vor, in den Stunden hinzugehen, wo er bei der Arbeit war und man zusehen durfte, wie unter seinen Händen plötzlich sprechendes Leben auf dem toten Material entstand, und wo so manches bedeutende Wort die reiche Ursprünglichkeit seines Geistes bekundete, denn er verschmähte es nicht, beim Schaffen auch ein Gespräch zu führen. So sagte er mir einmal: »Die alten Meister sahen das Unendliche, die modernen sehen das Endliche.« Ein anderes Mal, als er mir einiges Technische erklärt hatte, bemerkte er: »Der echte Künstler muß beim Schaffen im siebenten Himmel sein, er muß aber auch die Kunstsprache lernen, so wie die Alten malten mit Farben, die gleichsam das Materielle verklären.« – Und wieder ein drittes Mal, als er von den großen Meistern der Vergangenheit redete, fügte er hinzu: »Die großen Meister sahen alles wie aus einer gewissen Ferne, sie sahen die ideale Einheit des Gegenstandes; die modernen Maler sehen alles nahe im realistischen Detail.«

Da es mir vergönnt war, seinem Schaffen öfter zuzusehen, so erkannte ich, wie sehr er sich von diesem Geist des Schaffens der alten Meister durchdrungen hat; er malt so, wie Tizian die Typen seiner Zeit malte, in so großem Stil, daß er sie zu historischer Bedeutung erhebt, und man könnte Lenbach den Historiker des 19. Jahrhunderts in Farben nennen.

Leider war es mehr die Teilnahme der Neugierde und der Mode, die er hier fand, als die künstlerischen Verständnisses, und so gab er die Idee, sich hier bleibend niederzulassen, auf und kehrte nach wenigen Jahren in das Vaterland zurück. Ich verlor dadurch nicht nur einen geschätzten Freund, sondern auch ein Kunstheim, wie es sympathischer nicht gedacht werden konnte und wie kein ähnlich bedeutendes in Rom existiert. Aber alles wahrhaft Große und Bedeutende hinterläßt geistige Spuren, die nicht verloren gehen, und so war auch mein Sinn und mein Denken von neuem innigst der bildenden Kunst zugewandt, die hier in Rom allerdings bei weitem den Vorrang vor der Musik hat, denn was die alte italienische Musik Hohes und Herrliches bot, besonders in der alten Kirchenmusik, hat man fast ganz verlassen und moderne Banalität an die Stelle gesetzt; die herrlichen Werke der alten Meister aber leben glücklicherweise noch, und wenn die Gemälde Raffaels und Michelangelos auch schon durch die Zeit gelitten haben, so sind sie doch immer noch so, daß sie reinen Genuß bereiten. So waren denn auch meine Gedanken lange Zeit mehr in dieser Richtung tätig.

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Es war nicht die Religion, die die großen Künstler der Vergangenheit inspirierte, sondern die Kunst war ihnen Religion, sie war ihnen das zu realisierende Ideal, das in Form, Linie, Farbe den höchsten Ausdruck zugleich des Materiellen und Ideellen geben mußte. Das unterscheidet sie von den modernen Künstlern, daß sie das Reale aus seiner Vereinzelung zum Ausdruck eines Universellen, Ewigen erhoben, daher Typen und einen Stil schufen. Es fiel mir gerade ein auf der Profilfigur auf der Verlobung der heiligen Cäcilie von Francia in der Kapelle dieser Heiligen in Bologna. Sie ist durchaus individuell und dennoch ein Typus dessen, was eine edle Gestalt in edler Gewandung sein soll.

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Ich antwortete einem Freund, der meinte, daß die hohe Kunst voll zartester Empfindungen und erhabener Gedanken nur für auserwählte Seelen sei: Ja, so ist es, aber in der Menge gibt es vielleicht viel mehr auserwählte Seelen, als wir denken. Ist der Christus mit den Jüngern in Emmaus von Rembrandt (von dem Bild war die Rede gewesen) nicht auch nur von den auserwählten Seelen verstanden? Sieht der Aufwärter, der ihn bedient, nicht auch bloß das irdische Geschäft und nicht die Gottheit, die von ihm ausstrahlt? Alle Kunst in ihrer höchsten Auffassung ist nur für die auserwählten Seelen. Christus hat es gewußt; er hat zum Volk, das noch in seiner Jungfräulichkeit unberührt von der Fäulnis der Zivilisation war, wie ein großer Künstler geredet, und die auserwählten Seelen in ihm haben ihn verstanden. Der Rest, die Schattenwesen, verstehen ihn nie.

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Die meisten Menschen verlangen von einem Kunstwerk nur, daß es angenehm auf die Sinne wirke. Mir scheint es aber, daß das wahre, große Kunstwerk vor allem ethisch wirken, uns über uns selbst hinausheben und idealisieren muß, wie wir es einst von der Religion verlangten. Das Wesen des Genius ist es, in die ästhetische Form den ethischen Inhalt zu gießen, natürlich unbewußt, er kann nicht anders, er muß es.

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Die Zeichnung ist wie der Grundton, das Kolorit wie das Musikalische, die Melodie im Bild. Man muß auch in der Malerei lesen lernen, die Gedanken des Künstlers.

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Von Venedig kommend, verbrachte ich mehrere Stunden in Castelfranco vor dem herrlichen Bild des Giorgione. Es war nicht kindliche Andacht, was ich empfand, wie vor dem rührenden Bild des Previtali in Serravalle, es war das hohe Glück, Vollendung zu sehen. Alles ist da Harmonie, die Landschaft, die göttliche Frau mit dem Kind, sogar die Falten ihres Gewandes, die ruhig fließen wie Tonwellen, der herrliche gewaffnete Jüngling, selbst die Teppiche auf dem Boden – alles atmet Vollendung und in ihr erhabene Ruhe, wie bei den Göttergestalten des Phidias. Giorgione, frei von aller Tradition, lebt im reinen Äther der Schönheit. Wohl hatte Tizian Grund, den Rivalen zu fürchten.

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Eine Definition des Kunstwerks ist wohl: soll es vollkommen sein, muß es uns überzeugen, muß die Kritik verstummen machen, sich uns als notwendig, so wie es ist, aufdrängen.

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Michelangelo machte der religiösen Tradition in der Kunst ein Ende, wie Sokrates dem Götterglauben, der erste durch die erhabene Realistik seiner Gestalten, der zweite durch die Philosophie.

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Der Eintritt der Landschaft in die Malerei findet schon am Anfang des 13. Jahrhunderts statt. Bei Giotto ist noch keine Spur davon, bei Benozzo Gozzoli, bei Botticelli ist sie bereits da. Costa von Ferrara, der in Bologna malte, hat schon die schönsten Landschaften, die Gegenden am Flusse Reno bei Bologna gemalt. Bei den Carracci wird die Landschaft ein selbständiger Zweig der Kunst und die Figur eine Zutat, statt daß es früher umgekehrt war. Man könnte sagen, die Landschaft trat ein, wie um die Stimmung anzugeben, auf der sich das Leben und die Aktion der Figuren abhebt. Es tritt mit ihr die Bewegung des Seelenlebens, die Handlung ein, während früher der Goldgrund nur das einseitige Versenktsein in das religiöse Nirwana andeutete.

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Der Typus ist das erste in der Kunst, nachher kommt die Grazie, erst Mantegna, Bellini usw., dann Pinturicchio, Botticelli und die anderen. Der Vorteil der schönen südlichen Rassen ist, daß schon ihr Typus etwas sagt, oft freilich mehr, als dahinter ist. Die nordischen Typen müssen das Ideale durch den Seelenausdruck hervorbringen, während jene es schon durch die Form haben. Man sehe die altdeutschen Madonnen, die Holbein, die Dürer usw.

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Die Aufgabe der bildenden Kunst ist die Poesie der Situation. Daher kann auch bloßes Kolorit ohne eine prägnante Idee schon poetisch sein. Das Leben eines Volks in Situationen malen, das wäre das Seitenstück zum Epos, das es in Taten erzählt. Unsere moderne Gesellschaft hat zu beiden zu viel Reflexion, sie malt Philosophie.

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Da ich nun zehn Jahre lang jeden Sommer meist über Deutschland, wo ich meine Schwestern auf einige Wochen besuchte, nach Versailles ging, um in Olgas Familie die schöne Jahreszeit zuzubringen, so besuchte ich auch natürlich wieder oft den Louvre und erfreute mich an den wundervollen Schätzen dieser herrlichen Sammlung, deren edelste Blüten freilich auf fremdem Boden gewachsen sind. So stand ich neulich entzückt vor dem Konzert des Giorgione in dem Salon carré. Welche unaussprechliche Jugendlichkeit und Anmut in diesen Gestalten, welche Freude am Dasein in unschuldiger Natürlichkeit, in reiner Lust an der Schönheit und Harmonie, die die Männer erfüllt, die dem Instrument süße Weisen entlocken und die unschuldvolle Grazie der weiblichen Gestalten wie mit einem Schleier von Reinheit überzieht. Und dabei: wie gemalt! Welche edle Modellierung und welche Harmonie der Farben auch in der Landschaft, die nicht wenig zu dem Eindruck der Reinheit beiträgt, den das Bild macht. Es schwebt über dem Ganzen wie ein Hauch der Antike, die beglückende Empfindung der seligen Schönheit der Natur. Es ist nicht mehr so bei dem Correggio, der dem Bild des Giorgione gegenüber hängt. Hier haben die Zeichnung in der Verkürzung, die Modellierung und die Farbe das höchste erreicht, was darin zu erreichen ist. Der Kopf der schlafenden Nymphe ist so meisterhaft gemalt, daß man das ruhige Atmen, das aus den schwellenden Lippen hervorschwebt, zu hören meint. Alles ist schön an ihr, und doch hat man trotz dieser Vollendung nicht die reine Freude daran, wie an dem Giorgione, denn man fühlt, daß hinter dieser Höhe der Technik schon der Verfall steht. Der vor Wollust grinsende Faun, der den blauen Mantel von der Schlafenden hebt, gibt einen Beigeschmack, der den reinen Genuß der Schönheit stört und weit entfernt ist von der keuschen Natürlichkeit des Giorgione. »Man fühlt die Absicht und man ist verstimmt.« Schön hat Corregio auf dem Danaëbild in der Galerie Borghese in Rom diese Seite der Komposition zu mildern gewußt durch die ideale Schönheit des Eros und der beiden Putten. Das ist echt griechisch.

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Wieder mehr als je fiel es mir auch auf in diesem Reichtum des Louvre, was für wunderbare Landschaftsmaler diese Alten waren, die Costa, Pinturicchio und andere, und für sie waren die Landschaften doch nur Nebensache, doch nur die Stimmung andeutend, die die Handlung begleitet, etwa wie die Musik den dramatischen Vorgang. Sie sind dabei nicht minder realistisch wie die modernen Landschaftsmaler; wer erkennt nicht bei den Genannten die Gegenden am Reno und bei den Umbriern die umbrische Landschaft wieder? Aber wie poetisch sind diese dabei; sie scheinen wie ein friedliches Traumbild der reinen Existenzen, die den Vordergrund einnehmen. Ja, alle diese Maler waren lyrische Dichter, sie trugen in ihrer Seele eine innere Melodie, während die meisten der modernen Landschaftsmaler doch nur Kopisten der Natur sind.

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Lange stand ich auch wieder vor der »Gioconda«, dieser ewigen Sphinx. Sie scheint zu sagen, was kümmert mich der Tod? Jener Große macht mich unsterblich; mein Lächeln wird Jahrhunderte überdauern und Herzen erobern und verwunden.

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Ein junger Bekannter fragte mich: Wie schafft der Künstler ideale Typen? Ich sagte: Der rechte Künstler hält die Menschen in den einzelnen Momenten ihrer Idealität fest. Das vollendet Schöne findet sich nur bruchstückweise in der Erscheinung; der Künstler faßt die Bruchstücke zusammen und bringt die vollendete, ideale Menschheit hervor. Daher schafft nur er ewige Typen, in der Menschheit sind sie nicht.

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Eine glückliche Stunde im Louvre vor der Venus von Milo verbracht, vor dieser erhabenen Ruhe der Individualität, im Bewußtsein der universellen Idealität.

Dann aber auch wieder Italien! Zauberisches Venedig! So ausgestreckt, ohne Mühe, ohne Gerassel, ohne Pferdegepeitsche und Pflasterstöße, über die Lagune zu schweben und sinnend auf die vom Abendrot glühende Fata Morgana der Inselstadt zu schauen, ist ein so sublimer Genuß, wie wenig anderes auf der Welt.

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Und Siena! Ein Ort so reich an Kunstschöpfungen, wie wenige andere. Wieder dasselbe feste Selbstbewußtsein, wie auch in Perugia und anderswo, nur noch liebenswürdiger und freier; überall das edle Leben eines sich selbst regierenden Gemeinwesens. Sollte das nur in so kleinen Verhältnissen möglich sein? Was hindert in unseren großen Staatskörpern eine solche hohe allgemeine Blüte der Kultur, so daß sie nur eine allgemeine politische Bedeutung haben und jedes eigentümliche Leben der Gemeinwesen darin untergeht? In all jenen kleinen Zentren bewegten sich doch auch Weltgedanken, das intellektuelle Leben war durchaus kein beschränktes, sondern vielleicht größer, freier, strebender als jetzt. Wenn man solch eine Galerie besucht wie die »belle arti« in Siena, wie kann man da das Streben der Geister, aus der versteinerten Form loszukommen, verfolgen, und wie sieht man, daß sie sich gewaltig regten, um mitzuwirken »am sausenden Webstuhl der Zeit«. Und neben dem ernsten Sinn, welche reizende Naivität, z. B. das Fresko am Palazzo pubblico, wo Barbarossa vor dem Papst auf der Erde liegt und die Kardinäle mit Gebärden des Abscheus, des Mitleids und des heimlichen Hohns auf ihn sehen. Solch ein Bild, an einem öffentlichen Ort den Blicken und Bemerkungen des Volks ausgesetzt, könnte es heutzutage noch gemalt werden? Es wäre ja ein crime de lèse majesté. Freilich, wir wollten doch auch nicht mehr nach Canossa gehen!

Welcher Unterschied aber auch in anderer Beziehung mit unserer Zeit! Wie könnte heutzutage der Geist einer einzigen armen Frau ein ganzes mächtiges Gemeinwesen so beherrschen, wie es z. B. durch Katharina von Siena geschah, die als Vorbild jeder Tugend hochgeehrt, als großer Charakter und Intellekt mit politischen Missionen betraut und in den öffentlichen Angelegenheiten mit Vertrauen gehört wurde und die zugleich die Phantasie der großen Künstler ihrer Zeit so begeisterte, daß man sie zur Heldin der religiösen Legende und zu einem Ideal der Kunst erhob. Gleiche Tugend, gleiche Selbstverleugnung findet sich auch noch heutzutage, aber würde z. B. eine Florence Nightingale, trotz ihrer schönen Taten, noch einen Maler so inspirieren? Oder würde noch nach Jahrhunderten die Stätte gezeigt werden, wo sie in harter Entsagung, nach mühevollem Tagewerk, die Ruhe gesucht hatte? Worin lag nun der Zauber, der Katharina verklärte? Sicher zunächst in der großen Individualität, dann aber auch in ihrem Zusammenhang mit einer großen Idee, die die Zeit, in der sie lebte, beherrschte.


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