Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Resultate

Die heiter angeregte Zeit verging. Zuerst schied Bucher, bald darauf Karoline, dann gingen Pulszkys, und ich blieb allein. So lieb mir die andern gewesen waren, so überkam mich doch eine große Freudigkeit, als ich allein war. Es regte sich in mir eine Lust des Schaffens, ein Bedürfnis der Konzentration und des Zusammenseins mit meinem eigentlichen Selbst, wie ich sie lange nicht gefühlt. Ein Wort meines jüngsten Bruders, das er mir einst sagte, als ich noch sehr jung war: »Laß keine Zeit deines Lebens vorübergehen ohne ein Resultat!«, kam mir in den Sinn. Ich fühlte, daß wieder eine Zeit gekommen war, wo ich Rechnung mit der Vergangenheit abschließen, wo ich das Resultat des bisherigen Lebens mir klar machen mußte. Zum zweitenmal im Leben, nach dem großen Schiffbruch alles dessen, was dem Dasein Reiz und Wunsch auf unendliche Dauer verleiht, war ich aus dem Abgrund der Schmerzen und der Vernichtung erstanden und fühlte mich wieder ich selbst und voller Trost. Doch war ich nicht mehr jung, doch stand ich allein, mit schwankender Gesundheit, auf meine Arbeit angewiesen, doch waren die Illusionen des Daseins zerflossen, und ich hoffte nichts mehr, weder persönliches Glück, noch die volle Verwirklichung der Ideale in der Menschheit, wie ich sie geträumt hatte. Was war mir denn nun geblieben? Was gab mir diesen Trost und Frieden? Hatte ich das Rätsel der dunklen Sphynx, die Leben heißt, erraten? War mir der Schleier vom Angesicht der Wahrheit gefallen? Hatte der Positivismus mir die Befriedigung gegeben, die mir der Spiritualismus einst nicht hatte geben können? Entschieden tönte auf diese letzte Frage aus meiner Seele ein: Nein! Ich erkannte, daß auch diese von mir gehoffte Lösung des Lebensrätsels nur eine Durchgangsstufe gewesen sei.

Es wurde mir klar, daß das, was den Gelehrten bei der mühsamen Erforschung einer einzelnen Tatsache der Wissenschaft aufrecht hält, nicht die Tatsache selbst ist, sondern die Seligkeit, einer Idee zu dienen, Stein an Stein zu fügen zu dem Leuchtturm, der sein helles Licht weit hinauswerfen und den Schiffer führen soll auf der Fahrt über die dunkle Flut des Lebens. Ferner: daß das, was den Künstler bei der schwerfälligen Ausführung des geflügelten Schöpfergedankens nicht verzagen läßt, die Götterlust des Schaffens selbst ist, die aus dem vergänglichen Stoff ein Unsterbliches entstehen sieht. Endlich: daß das, was den Erbarmenden bei der Tat der mitleidsvollen Liebe tröstet, nicht der geringe Erfolg der einen getrockneten Träne unter den Millionen Tränen ist, sondern die heilige Flut des Mitleids selbst, dem Erlösung vom Leiden eine innere Notwendigkeit ist. Kurz ich erkannte: daß das, was in allen, die wirklich leben und den Namen Mensch verdienen, wirkt und schafft, das »Wesen« ist, das über die unvollkommne Erscheinung hinausgeht, das sich als Geist ewig fühlt in allem Geistigen, das sich als Schaffendes ewig fühlt in aller Schöpferkraft, das sich als Erbarmen eins fühlt mit der gewaltigen Liebe, die von jeher das Leid des andern zu dem ihren machte. Konnte dies »Wesen« das unbewußte Atom sein, dessen Ewigkeit mich einst entzückt hatte und in dessen Metempsychose in Dichterstirn und Rose ich den wahren Schlüssel des Lebensrätsels gefunden zu haben meinte? Abermals rief es in mir: Nein! Aber wenn es nicht der Spiritualismus mit seinem Dualismus von Geist und Natur, wenn es nicht der Positivismus mit seiner einzigen Anerkennung der Materie und der greifbaren Tatsachen war – was war es denn, was übrig blieb, was der nach Wahrheit seufzenden Seele als ein tröstender Stern durch die Nacht des Lebens leuchten konnte? Die Intuition wies mich hin auf eine Einheit alles Seins in einem Unbekannten, unserer beschränkten Auffassung Entrückten, dem »Wesen an sich«, von dem die ganze Erscheinungswelt nur eine Manifestation sei. Je mehr ich dieser Hinweisung nachdachte, desto mehr entsprach sie meinem ganzen vernünftigen Denken, desto mehr klärten sich mir durch sie die Phänomene des Daseins auf. Jener mystische Zug nach dem Idealen, der durch die ganze Menschheit geht, der den Grundton aller Religionen bildet, der rohesten wie der veredelteren, er ist kein Erzeugnis der Zivilisation, er ist der Menschheit eingeboren – wie der Genius, wie Güte und Mitleid dem Individuum nicht anerzogen werden können, sondern ihm eingeboren sind. Kann die unbewußte Materie und deren zufällige chemische Kombination Ursache und Zeugerin dieser Fülle von Geist, Denken, Gefühl und Liebe sein, die sich in der Menschheit bewegt? Abermals rief es in mir: Nein! Alle Erklärungen von Tätigkeit der Gehirnnerven, vom Kreislauf des Lebens, vom Urschlamm usw. erschienen mir nur als bloße Beiträge zur näheren Kenntnis der Mechanik dieser Erscheinungswelt, aber ebenso ungenügend, um den letzten Grund der Dinge zu erklären, als der willkürliche Schöpfer einer Schöpfung aus dem Nichts. Daß hier unser Verstand an seiner unübersteigbaren Grenze angelangt sei, wurde mir klar. Gehört er ja doch selbst auch in die Beschränkung der Erscheinung hinein; wie sollte das in die Endlichkeit Gebannte das Unendliche fassen, wie das an Zeit und Raum Gebundne das Zeit- und Raumlose sich vorstellen können? – Sehr wohl hörte ich gleich den Einwand, mit dem die Positivisten mir antworten würden: »Was geht uns auch das Unabweisbare an? Welchen Wert hat es für unsere Existenz, die nur von den Resultaten der auf Erfahrung begründeten Wissenschaft wahren Vorteil ziehen kann?« Aber hat es denn etwa keine Resultate für die Menschheit gehabt, daß, von weiter Vorzeit her, große Denker wunderbare Gedankenaxiome aufgestellt haben, zu denen ihnen kein Experiment die Basis geliefert hatte, die aber, wie Fixsterne, mit ihrem eignen Licht durch die Nacht der Zeiten leuchteten, als die Wissenschaft noch arm und dürftig umhersuchte und oft erst lange nachher, auf dem Wege der Empirie, mühsam die Bestätigung dessen fand, was jene Kühnen im heißen Kampfe des Gedankens mit sich selbst gefunden?

Blieb es spurlos im Leben der menschlichen Gesellschaft, als ein großes Herz, vom Elend des Daseins gerührt, von allumfassender Liebe erfüllt, eine neue, reinere Moral zur Erlösung predigend, selbst den Tod nicht scheute, um sein Werk des Erbarmens zu vollbringen?

Oder war es keine aufs höchste anzuschlagende Wirkung, wenn die Inspirationen des Genius in tausend Herzen wiederzitterten und ein Volk, wenn auch nur auf Stunden, aus der trüben Alltagsatmosphäre seiner Existenz heraus hoben?

Alle diese aber gingen nicht an der Hand der Erfahrung, sondern schöpften aus dem Born der Intuition, die sie im reinen Denken, im allerbarmenden Gefühl, in himmlischer Begeisterung zum Schaffen führte.

Wenn wir also anerkennen müssen, daß unser Begreifen eine Grenze hat, daß kein Experiment uns an den letzten Grund der Dinge, an die Erkenntnis des »Wesens« führen wird, sollten wir deshalb verschmähen, was die Intuition, was der Genius uns gibt: jene heiligen Entzückungen, die nichts mit der Empirie zu tun haben?

Nein, im Gegenteil. Wir sollten uns ihnen viel tausendmal mehr hingeben, als wir es tun. Die Wissenschaft wird uns helfen, im Dienste der Intuition Vorurteile und Unwissenheit zu vernichten, den idealen Kern aus seiner Schale zu befreien und den Individuen wie den Völkern das neue Evangelium zuzurufen: ›Erlöset euch selbst!‹ – Ja, das ist es! Wir sollen uns selbst erlösen von dem Wahnbegriff, als sei dies Leben mit seinen Gütern etwas anderes als eine vorübergehende Erscheinung des ›Wesens‹. Der Buddhismus und das Christentum suchten bereits diesen Wahnbegriff zu zerstören, aber sie lehrten zugleich die Verachtung dieser Existenz des Scheins und trieben damit zur tatlosen Askese, oder, als Reaktion, zur unmäßigen Begierde nach dem Genuß. Die wahre Erlösung wäre aber die, es zu wissen, daß das Leben einen metaphysischen Zweck hat, zu dessen Erreichung es die höchste Kraftanstrengung fordert, nämlich: das Herausbilden des Ideals im einzelnen wie in der Menschheit. Dieses Ideal steigt in dämmernden ahnungsvollen Zeichen, wie ein fernes Nebelbild, in der Geschichte von Zeit zu Zeit auf. Es zieht wie eine brennende Frage, wie eine dunkle Qual, wie eine sehnsüchtige Liebe, wie der Drang, sich ›einem Höheren, Reineren, Unbekannten‹ hinzugeben, von Jugend auf durch das Herz des einzelnen. Es ist der Grund all der tiefsinnigen Mythen, mit denen die poesieerfüllte Kindheit unseres Geschlechts den von jeher existierenden Drang der Menschheit zu erklären strebte. Von der Verschuldung des Geborenseins zur Endlichkeit und Beschränkung, und durch sie zum Irrtum und zur Sünde, müssen wir uns erlösen zu der Wiederherstellung des aus seiner Götterheimat vertriebenen Unsterblichen. Nur indem wir diesem Faden nachgehen in der Geschichte, hat ihr Studium für uns einen ethischen Wert; nur indem wir, durch die Naturforschung, demselben Trieb begegnen, von der unvollkommnen Erscheinung zu der vollkommeneren fortzuschreiten, hat die Lehre von der Vervollkommnung der Gattung eine tiefe Bedeutung für uns. Aus einer hinter unserem Erkennen liegenden, uns unbekannten Einheit herausgerissen in die Vereinzelung der Erscheinung, sind wir dem Schmerz und der Qual und der überall begrenzten Endlichkeit anheimgegeben. Ein tiefes Heimweh klagt in uns wie Sehnsucht nach einem verlornen Paradies, lockt uns mit Hoffnungstönen zu einem zukünftigen Glück. Wir suchen dies im Lande der Täuschung, im Bereiche des Wahns. Aber ach! aus jedes Bettlers hohlen Augen, aus jedem tränengefüllten Blick, von jedem Sterbebett schauert uns ein Protest des Elends, des Schmerzes und der Verwesung an. Das Herz, an das wir uns gebettet, erkaltet, und die Lippen, die uns Worte der Liebe geflüstert oder erhabene Weisheit verkündet, verstummen; die Menschheit, der wir wohltun wollten, zuckt die Achseln und kreuzigt oder verspottet uns. Sie tanzt noch heute um das goldene Kalb, wie sie es vor tausend Jahren getan; sie häuft die Schätze an, die Motten und Rost fressen, und nennt sich doch Jüngerin dessen, der schon vor so langer Zeit gesagt hat, daß etwas ganz anderes nottut. Sie bekennt eine Religion der Bruderliebe, und dabei wühlt das Schwert ohne Unterlaß im Herzen der Brüder, und die Erfindung neuer Mordwerkzeuge wird höher belohnt als die Werke des Genius. Ja, der Schmerz über das Unzulängliche der Erscheinung öffnet uns die Augen, und wir beginnen zu begreifen, ›daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis‹ ist, nur vorübergehende Erscheinung der ewigen Einheit, von deren Seligkeit uns zuweilen in den höchsten Momenten des Lebens, in den Blitzen der Begeisterung eine ferne Ahnung durchzuckt. Also Erlösung von dem dunklen Schmerz der Erscheinung, das ist die Aufgabe! Aber nicht etwa, indem wir willkürlich ihr ein Ziel setzen und die Schranke durchbrechen – damit wäre nichts gewonnen – sondern indem wir uns, wie Wieland der Schmied, selbst die Flügel schmieden, um uns in das Land der Geliebten unsrer Jugend, in das Land des Ideals zu erheben. Nach jeder Todesnacht der Schmerzen, nach jedem Golgatha, wo unser heiligstes Empfinden ans Kreuz geschlagen wurde, sollen wir auferstehen, immer verklärter, immer unsterblicher und heiliger, immer mehr die göttliche Idee in uns enthüllend. Das ist die Aufgabe der Individuen, der Völker, der Menschheit. Wer sie nicht erfüllt, wem das Endliche Selbstzweck und nicht bloß Mittel ist, der verharrt in der Qual des Daseins, an den Fluch des Suchens ohne Frieden, des Irrtums ohne Berichtigung, der Sünde endlich, gebunden, und nach der tiefsinnigen Mythe hochbegabter Völker muß er so lange wiedergeboren werden, bis ihm das Geheimnis der Erlösung aufgegangen ist. Wem es aber aufgegangen ist, der sehnt sich mit tiefem, endlosem Mitleid, alle mit hineinzuziehen, die noch in der Nacht des Scheins und des unseligen Irrtums wallen. Der möchte sein Leben hingeben, um sie zu erlösen – wenn einer es für alle tun könnte – wenn es nicht immer wieder heißen müßte: Erlöset euch selbst.

So schien mir denn das Rätsel des Lebens gelöst; mein dunkles Suchen hatte endlich den Stern schimmern sehn, in dessen Licht ihm Erfüllung werden sollte.

Ich war allein am Meeresufer, als mich all diese Gedanken befreiend und versöhnend umfluteten, und wieder, wie einst in fernen Tagen in den Alpen der Dauphiné, trieb es mich hier niederzuknien vor der unbegrenzten Flut, Sinnbild des Unendlichen.

Ich fühlte, daß ich betete, wie ich nie zuvor gebetet hatte, und erkannte nun, was das eigentliche Gebet ist: Einkehr aus der Vereinzelung der Individuation heraus in das Bewußtsein der Einheit mit allem, was ist, niederknien als das Vergängliche und aufstehen als das Unvergängliche.

Erde, Himmel und Meer erklangen wie in einer großen weltumfassenden Harmonie. Mir war es, als umgäbe mich der Chor aller Großen, die je gelebt. Ich fühlte mich eins mit ihnen und es schien mir, als hörte ich ihren Gruß: »Auch du gehörst mit in die Zahl der Überwinder!«


 << zurück weiter >>