Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Gedachtes

Eben schrieb mir mein alter zweiundneunzigjähriger Freund über das schmerzliche Ach am Ende des rätselvollen Lebens. Mein schmerzliches Ach wird nur der einen gelten, in deren Leben mein Scheiden die tiefe Lücke reißt. Sonst freue ich mich des Endes. War es der Zufall, der das bunte Wechselspiel des Daseins veranlaßte, so habe ich ihm getrotzt, indem ich mir ein Ziel vorsetzte und mutig nach einer vernünftigen Ordnung der Lebensaufgabe strebte; und ist im Grund der Schöpfung ein erhabenes Geheimnis, so habe ich mich vorbereitet, es zu verstehen.

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Der Dichter lebt zwei Leben, eines für sich, eines für die Welt. Wehe der Frau, die ihn liebt, das nicht versteht und eifersüchtig ist auf diese Teilung. Sie wird den Genius brechen, oder ihr eigenes Herz.

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Der Geist vom Ende dieses Jahrhunderts, der industrielle Geist, bemächtigt sich sogar des Schönen in der Natur für seine Zwecke, und verhäßlicht jene. So hörte ich kürzlich, man habe ein reizendes Wäldchen am Meeresstrand bei Antibes abgehauen, um Felder mit Blumen, zum Verkauf in Nizza und Toulon, zu bepflanzen.

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Hochnäsige Duldung, Philistertugendstolz, die kann ich nicht ertragen. Güte, Aufrichtigkeit, Gleichheit der Gesinnung oder stolze Ebenbürtigkeit, das verlange ich in Beziehung zu andern.

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Eine sehr schlimme Art der Koketterie beruht auf dem Reiz, bis an die äußerste Grenze des Versuchbaren zu gehen, und sich dann kalt vor dem letzten Schritt zurückzuziehen. Es ist die Koketterie der Neugierde, der Vivisektion der Gefühle. Man gibt Gift, um zu sehen, wie der andere zappelt und sich vor Schmerzen krümmt. Diese Sucht der Gefühlsanatomie findet sich häufig bei den Frauen der sogenannten »guten Gesellschaft«, die ihre Stellung nicht verderben, sich nicht kompromittieren wollen, es aber sehr lieben, in andern zu experimentieren und leicht bewegliche Naturen vorwärts zu treiben, um, mit der Lorgnette vor den Augen, zuzusehen, wie gewisse Gifte wirken. Diese raffinierte Verderbtheit der Seele ist eine der häßlichsten Erscheinungen unter den Gebrechen der modernen Gesellschaft. Sie schon in einem jungen Mädchen zu finden, ist über alles Maß schmerzlich und empörend.

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Ihr Frauen der »großen Welt«, eure Liebe gleicht Irrlichtern, die über Sümpfen tanzen. Wehe dem, der diesen lockenden Lichtern folgt! Ihr kennt die wahre Liebe nicht, denn ihr denkt nie an den Mann und seine Qual; ihr denkt nur an euch selbst.

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Es ist erschreckend, mit welcher Leichtigkeit die Frauen in Italien sich preisgeben und die Forderung, daß der Körper der Tempel einer keuschen Seele und daher selbst unentweiht sein soll, gar nicht verstehen. Auch ist es unbegreiflich, warum sie sich so schwer entschließen, den Geschlechtsfreuden zu entsagen, da diese im Alter doch geradezu widerwärtig sein müssen, weil ihr Zweck, die Fortsetzung der Gattung, nicht mehr erreicht werden kann. Der Ersatz für das Alter ist ja die Geschlechtslosigkeit, die Ruhe vom Verlangen, die Annäherung zum reinen Geistsein, die zweite Jungfräulichkeit der Seele. »Und jene himmlischen Gestalten, sie fragen nicht nach Mann und Weib.«

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Duclos, ein französischer Moralist des 18. Jahrhunderts, sagte von den frivolen Frauen seiner Zeit: »Ces femmes qui donnent à Dieu ce que le diable ne veut plus.« Eine entsetzliche Kritik, und wie wahr auch noch heutzutage.

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Die italienischen Frauen haben etwas, das zugleich ein Vorzug und ein Mangel ist: die große Natürlichkeit in betreff natürlicher Dinge, die sie einerseits von der Prüderie der Frauen des Nordens freihält, ihnen andererseits aber auch sehr oft die edle Scham nimmt, die die dem tierischen Leben angehörigen Vorgänge mit einem Schleier bedeckt, den man auch den Schleier des vornehmen sittlichen Gefühls nennen könnte.

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Es gibt zwei Arten des Daseins für eine illegitime, aber große, wahre Liebe: frei und offen am Licht des Tages, oder, wenn die Umstände es nötig machen, tiefes, keusches Geheimnis. Aber das Hineinziehen von Unbeteiligten, das Besprechen und Verhandeln eines solchen Gefühls mit andern, außer dem einen, der es am ersten wissen müßte, dem legitimen Gatten – ist verächtlich.

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Der heilige Augustin hat gesagt: »Si vous épousez une femme perdue, vous faites une bonne action.« Das klingt beinah wie eine Vorrede zu Alexandre Dumas.

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In der alten Welt glaubten die Frauen wirklich, Umgang mit Göttern gehabt zu haben. Es war ihnen nicht etwa ein Märchen, eine Lüge, es war ihnen Wirklichkeit. Welcher herrlichen Art mußten die »Wanderer« sein, die ihnen so erschienen! Und welchen Einfluß mußte es auf die Kinder haben, die gleich als Halbgötter geboren wurden! Wie prosaisch die armen Frauen der Jetztzeit, die in keines Gottes Umarmung mehr erwarmen!

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Gastfreundschaft war eine der schönsten griechischen Eigenschaften. Bettler und Fremde waren ihnen von den Göttern gesendet. Homer sagt, man müsse die Bettler ehren, weil sie vielleicht einen Gott verhüllten. Eine große Zeit, wo man das Göttliche auch in der elendesten Gestalt sich nahe glauben konnte.

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In der Antigone sehe ich das unleugbare Zeugnis, daß, wenn die Griechen im täglichen Leben der Frau eine untergeordnete Stellung anwiesen, die Dichter wenigstens das höchste Ideal von ihr hatten. Wie kann man sich ein edleres Wesen vorstellen als Antigone, die allen Gefahren Trotz bietet, um die ideale Pflicht zu erfüllen, die Pflicht, die die innere Stimme den auserwählten Naturen gebietet, und die nur zu oft mit dem absoluten, äußeren Gesetz in Widerspruch steht. Der Unterschied zwischen dem idealen Menschen, der gegen das Gesetz handelt, um recht zu tun, und dem Pflichtmenschen, der das Gesetz buchstäblich befolgt, und dabei im höheren Sinn unsittlich handelt, ist nirgends erhabener dargestellt, als in Antigone und Kreon. Das ist eine der ewigen Schöpfungen, die einen Konflikt malen, der sich so lange wiederholen wird, wie die Geschichte der Menschheit dauert. Die Antworten Antigones an Kreon enthalten alles, was den Menschen adelt und ihn unter die Sterne versetzt. Was könnte der heutige Mensch, der für die Freiheit kämpft, der Tyrannei, die sich hinter das Gesetz versteckt, Besseres erwidern? Daß der Dichter eine Frauengestalt wählte, um den Kontrast darzustellen, ist gewiß ein Beweis, daß in den kunstgeweihten Seelen der Griechen das schönste Ideal der Frau lebte. Außerdem braucht man auch nur an die Minerva zu denken, in deren Antlitz sich die höchste Majestät des Gedankens mit der vollendeten Schönheit der Form verbindet, um zu begreifen, daß nicht nur die Dichter, sondern auch die Künstler Griechenlands die Frau darstellten, wenn sie der höchsten Vereinigung menschlicher Eigenschaften Ausdruck geben wollen.

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Alle großen Dichter, auch späterer Zeiten, haben in der ethischen Welt das Weibliche am höchsten gestellt, so Dante, Goethe u. a. Die dichtenden Völker taten es auch: Athene, Jungfrau Maria usw. In den meisten Sprachen ist Weisheit weiblich, also die höchste Potenz des Geistig-Ethischen, das Erlösende; ebenso die Erlösung.

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Vor vielen Jahren noch in England, als die Bewegung zur Emanzipation der Frau einen immer stärkeren Ausdruck fand, erschien dort ein neues Journal, diesem Zweck geweiht, und die Redaktion wendete sich an mich um Beiträge. Ich schrieb damals in Antwort: »Niemals vielleicht hat eine Idee des Fortschritts solch ein plötzliches Ins-Leben-Treten, solch ein Erwachen an den verschiedenen Orten zu gleicher Zeit gehabt, wie diejenige, für die Ihr Journal sich zum Organ macht. Früher pflegte es nur eine Inkarnation des neuen, reformatorischen Gedankens zu geben, einen Propheten, einen Reformator, der das Wort sagte, das dann hinausging in die Welt, sich seine Existenz zu erkämpfen. So ist es heute nicht mehr; der heilige Geist ist auf viele herunter gekommen, und die menschliche Gesellschaft strebt danach, das größte aller Prinzipien zu verwirklichen, das vom Anbruch der Zeiten an der Traum aller einsamen Denker gewesen ist, der Stern des Orients, der sie führte, die Glorie der Welt in einer einsamen Hütte zu suchen. Dieses Prinzip, das einst das geheime Losungswort für die Freunde der Menschheit geworden war, die das Gute vor den Augen des Bösen, das die Welt noch regierte, verstecken mußten, und das jetzt in das Tageslicht hervortritt und seine Verwirklichung in allen Richtungen fordert: das Prinzip der Gleichheit, gleichbedeutend mit Gerechtigkeit.«

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Für Gedanken gibt es kein Herrscherwort: sie schlüpfen vom Geist in den Geist hinüber, wecken da die Schlummernden, werden zu Stahl und Eisen im Blut, dringen hinaus zum Schwert in der Hand, und ruhen nicht eher, bis sie eine Macht geworden sind, die zur Tat fortschreitet, und erst wenn sich Despotismus und Demokratie im offenen Felde gegenüberstehen, wenn es keine Wahl mehr gibt, als zwischen diesen zweien, dann erst wird die Stunde der Entscheidung gekommen sein. Dann erst ist es ein ehrlicher Kampf, denn dann erst weiß man, wofür und gegen was man kämpft, und dann erst werden die Waffen, auf deren Seite die neue Weltentwicklung liegt, den Sieg erringen.

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In einem der schönsten Kapitel der »Kultur der Renaissance« bespricht Jakob Burckhardt die Zunahme wahrhaft ausgebildeter Menschen im fünfzehnten Jahrhundert, das harmonische Ausrunden ihres geistigen und äußeren Daseins, die Vollendung der Persönlichkeit. Er führt die Worte eines der Größten jener Zeit, eines Urbildes des uomo universale an, der sagt: »Die Menschen können von sich aus alles, wenn sie nur wollen. Mitten in die Welt habe ich dich gestellt, spricht der Schöpfer zu Adam, damit du um so leichter um dich schauest, und sähest alles, was darinnen ist. Ich schuf dich als ein Wesen, weder irdisch noch himmlisch, weder sterblich noch unsterblich, allein, damit du dein eigner freier Bildner und Überwinder seiest; du kannst zum Tier entarten und zum gottähnlichen Wesen dich wiedergebären. Die Tiere bringen aus dem Mutterleibe mit, was sie haben sollen; die höheren Geister sind von Anfang an oder bald hernach, was sie in Ewigkeit bleiben werden. Du allein hast eine Entwicklung, ein Wachsen nach freiem Willen, du hast Keime eines allartigen Lebens in dir.«

Wenn man solche Worte der Leo Battista Alberti, Pico und anderer ihrer edelsten Zeitgenossen erwägt, dann fragt man sich, wie viele unter den Nachgebornen, Lebenden dieses Bildungsideal verwirklicht haben? Unsere moderne Bildung ist mehr in die Breite gegangen, umfaßt mehr Gegenstände des Wissens, aber sie hat sicher, im Vergleich mit jenen, an Tiefe verloren, an dem inneren Grund, dem die Blüte der wahren Schönheit entwächst.

Auch Burckhardt sagt: »Laut genug pflegt auch unser laufendes Jahrhundert den Wert der Bildung überhaupt und den des Altertums insbesondere zu proklamieren. Aber eine vollkommen enthusiastische Hingebung, eine Anerkennung, daß dieses Bedürfnis das erste von allen sei, findet sich doch nirgends, wie bei jenen Florentinern des fünfzehnten und Anfang des sechzehnten Jahrhunderts.«

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Es muß wohl den Menschen ein tief innewohnendes Bedürfnis sein, Feste zu feiern, denn von den ältesten Zeiten an haben sie besondere Tage ausgezeichnet und ihnen eine andere Bedeutung gegeben als den übrigen. Die nächste Veranlassung hierzu mag das Bedürfnis der Ruhe gewesen sein. Das Leben verpflichtet den Menschen zur Arbeit, seine Neigung ladet ihn zum Genuß ein. Tiefsinnige Gesetzgeber, wie Moses z. B., begriffen dies; und das: »Sechs Tage sollst du arbeiten und den siebenten sollst du ruhen« war ein auf die Bedürfnisse der menschlichen Natur gegründetes Gesetz. Bei dem lebensfrohsten Volk der alten Welt, den Griechen, führte dies Bedürfnis eine Menge festlicher Tage herbei, an denen das künstlerische Volk sich seiner Kraft und Geschicklichkeit, seiner Dichter und Sänger, ja seiner Götter freute. Ihm mußte selbst noch der tragische Schluß des Lebens, der Tod auf dem Schlachtfeld, ein festliches Gepräge haben, sie kämmten und bekränzten sich dazu wie zu einem Fest. Der Kultus aller Religionen baute auf dies Bedürfnis, indem er eine Menge Festtage einsetzte zu Ehren der Götter oder Gottes, an denen die Menschen sich inniger in die Nähe der Unsichtbaren versetzen und eine vertrautere Gemeinschaft mit ihnen pflegen sollten. Ganz besonders tat dies die katholische Kirche, und es ist das ohne Zweifel ein großes Mittel ihrer Macht gewesen und ist es noch. Dies Bedürfnis, in Gemeinschaft mit andern Stunden und Tage festlich zu begehen, wird auch bleiben, wenn viele der gewesenen Feste ihre Bedeutung verloren oder gewechselt haben. So wie das Weihnachtsfest ursprünglich der Feier des wiederkehrenden Lichts geweiht war, und wie das Osterfest sogar von den alten Frühlingsgöttern den Namen beibehielt, und nichts war als Frühlingsfest, bis sie dann beide in den christlichen Kultus übergingen, so wird vielleicht eine neue Zeit ihnen ihre ursprüngliche Bedeutung zurückgeben. Wenn die Sonne uns hinauslockt auf neuergrünte Wiesen, wo die ersten Veilchen uns entgegenduften, warum sollten wir nicht ein heilig schönes Fest in Verehrung der allgewaltigen Schöpfungskraft der Natur feiern, die uns an ein ewiges Dasein glauben lehrt, indem sie immer von neuem den Tod in Leben verwandelt und aus der scheinbaren Verwesung strahlende Schönheitsformen hervorgehen läßt? Wenn die Menschheit einmal wieder die jetzige Phase ihres Entwicklungskampfes bestanden hat, so kann man mit Recht hoffen, daß eine Zeit neuer Blüten kommen wird, wo das ästhetische, künstlerische Bedürfnis neue Feste schafft, reicher und schöner als alles Dagewesene, weil sie einem neuen, reicheren und schöneren Zustand der Gesellschaft entsprechen.

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Wenn nur erst die Einsicht, daß dieses Leben nichts ist als Erscheinung des Seins, mehr verbreitet sein wird, wie viel falscher Wahn, wie viel törichte Sucht und Begierde werden alsdann aufhören! Durch das Schöne und Ehrwürdige das religiöse Gefühl wecken, das in seinem tiefsten Grund nichts anderes ist als die Ahnung des Idealen, Vollendeten, das ist Aufgabe der Erziehung, aber ohne Kirche, ohne Hierarchie, ohne bindende Dogmen.

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Die wahren Schmerzen sind die, die uns von denen kommen, die wir am meisten lieben, und die uns am meisten lieben. Alles übrige ist roba da nulla, graue Wolken, die vorüberziehen. Verwundeter Stolz, verletzte Eitelkeit, getäuschte Hoffnung usw., alles das ist bitter, aber es trifft nicht dort unten an der Quelle des Lebens.

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Fühlte mich heute wie eine Sibylle, schaute die Wahrheit in den Tiefen der Erscheinung; auch Christus ein Kunstwerk; bewußter Wahn einzige Religion; alles nur Symbol!

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Man kann das Schicksal nicht zwingen und ebensowenig die Charaktere, die unveränderlich sind.

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Auch der Schmerz vergangen! ein Tropfen im Ozean des Gewesenen.


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