Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Siebentes Kapitel

Paris und ein Deutscher

Wir waren in Paris angekommen. Es war eins jener sogenannten Hotels, ein ganzes, elegant eingerichtetes Haus mit kleinem Garten, wie sie in der Nähe der Champs Elysées häufig sind, für uns genommen worden, denn außer Madame Schwabe und ihrer Familie kam auch Richard Cobden mit seiner Frau und vier Töchtern, es zu bewohnen. Ich hatte mir vorgenommen, mich den neuen Eindrücken, die mich erwarteten, ganz hinzugeben und ihnen so viel als möglich an Erkenntnis, Wissen und Verständnis abzugewinnen. Ich kann nicht sagen, daß ich mich je sehr nach Paris gesehnt hätte, immer viel mehr nach dem Süden. Aber es war doch die Stadt, um die tausendfache geschichtliche Erinnerungen, Macht und Glanz der Gegenwart, Kunst, Zivilisation und Mode eine schimmernde, die Neugierde erregende Fata Morgana schufen. Es war der Mühe wert, Paris nach London kennen zu lernen, schon um des Vergleichs willen. Zudem hatte ich es nötig, von der Arbeit auszuruhen und in einem weniger feuchten Klima wie das englische eine Zeitlang zu leben. Kaum ein wenig häuslich eingerichtet, ging ich allein die Champs Elysées entlang den Tuilerien zu und setzte mich dort auf eine Bank, um mich meinen Gedanken hinzugeben. Da lag es denn vor mir, das alte französische Königsschloß, und schaute mich an wie ein alter Bekannter. So hatte ich es unzähligemal in meiner Kindheit Tagen, in einem großen illustrierten Werk über die französische Revolution, das mein Vater besaß, gesehen. Auf jenen Bildern war es dargestellt, umstürmt von wütenden Volkshaufen, die der Legitimität Hohn sprachen und den absolutistischesten Staat der Erde in eine Pöbelherrschaft verwandelten. Sie stiegen wieder alle vor meiner Erinnerung auf, jene Bilder; die Bastille, auf die die Kanonen des Volks gerichtet waren; Camille Desmoulins auf einem Tisch stehend, im Garten des Palais Royal und zu dem Volke sprechend; die königliche Familie, heimgebracht von der mißglückten Flucht; vor allem ein Bild, das mir als Kind stets das tiefste Interesse und innigste Mitleid eingeflößt hatte: Ludwig XVI., von seiner Familie Abschied nehmend, als man ihn zum Tod führte. Ich sah ihn wieder vor mir in kurzen schwarzen Hosen und weißem Hemd, das vorn geöffnet, den Hals schon frei ließ für das Beil des Henkers. Die eine Hand reichte er seiner frommen Schwester Elisabeth, die auf den Knien lag und ihr Angesicht auf seine Hand drückte. Von der andern Seite hingen die unglückliche Gattin und Königin, die weinenden Kinder in verzweifeltem Schmerz an ihm. Es war mir unter den hohen Bäumen dieses Gartens, beim Anblick jener Mauern, die all das Schreckliche geschaut, als sähe ich nur wieder, was ich längst gekannt, was ich mit erlebt hätte. Dem kindlichen Mitleid in mir war eine Epoche hoher Bewunderung für die französische Revolution gefolgt. Jenes gigantische Erwachen der Menschheit zum Gefühl ihrer Rechte, jenes Zersprengen der Fesseln, in die ein despotischer Wille Millionen von Geschöpfen schlug, jene erhabenen, kühnen Morgenträume allgemeiner Freiheit, die begeisterte Schwärmer in die Wirklichkeit übersetzen wollten, jene phantastisch großartigen Momente der ersten Zeit der Revolution – wie hatten sie mich bewegt und hingerissen. Sie hatten mich erglühen gemacht in Begeisterung und mich nachsichtig gestimmt für die schaudervollen, wüsten Ausartungen, zu denen schließlich, ebenso wie die absolute Monarchie, die absolute Volksherrschaft gekommen war. Jetzt hatte in dem Schlosse vor mir das zweite Kaiserreich, die zweite Frucht der Revolution, seinen Sitz und ich durchlief in Gedanken den Gang der geschichtlichen Ereignisse von jener Zeit an bis auf diese, die in ihrer Korruption, ihrer Knechtschaft, ihrer auf den Schein, die Mode und den äußeren Glanz gebauten Herrlichkeit kaum hinter jener zurückstand, die mit solchen vulkanischen Ausbrüchen, solchen Strömen Bluts vernichtet worden war. Mich ergriff ein wahrer Schauder vor den Rätseln der Geschichte, wo jeder Schritt vorwärts mit einem kolossalen Rückschritt bezahlt werden muß. Das Christentum war ein Fortschritt über das verderbte, in sich verfaulte römische Reich, aber es brachte das Mittelalter herauf, in dem jede Blüte der Kunst und Wissenschaft welkte und grausenhafte Barbarei die Stelle der Kultur einnahm. Die Reformation war ein freudiger Fortschritt über die im Laster versunkene katholische Kirche, aber ihr folgte der dreißigjährige Krieg und langer geistiger Tod und physisches Elend. Die französische Revolution war das Erwachen der Massen zu ihrer Selbständigkeit, der Anerkennung der menschlichen Würde in jedem einzelnen Geschöpf, aber ihr folgten die Greueltaten der Schreckensherrschaft, die Despotie des ersten Napoleon, die triviale Herrschaft der Bourgeoisie unter dem Bürgerkönig Louis Philipp und die abgeschwächte Wiederholung der Despotie des Onkels durch den Neffen. Unter solchen Betrachtungen verlief mein erster Ausgang in Paris. Alle die Eindrücke der zunächst folgenden Tage waren zugunsten Englands, das mir, in dem soliden Genuß wirklicher politischer Freiheit, jetzt im Glanze einer hohen Moralität erschien, im Vergleich mit der wahrhaft knechtischen Abhängigkeit, in der ich hier alles von dem Willen eines einzelnen fand. Die ewig festliche Schaustellung eines Herrschertums, von der man sich bei dem einfachen englischen Königtum so ganz entwöhnt hatte, die Anwesenheit des Militärs überall, während es in England überall abwesend ist, das müßige Schlendern und frivole Genießen, dem man auf den Boulevards und anderswo begegnet, gegenüber der puritanisch nüchternen, aber besonnen ehrenhaften Tätigkeit der Engländer – alles das machte mich in Sehnsucht an England denken, und es war mir, als atme ich in Paris verpestete Luft.

Inzwischen hatte sich unsere Häuslichkeit organisiert. Richard Cobden, unter demselben Dach mit mir lebend, war mir zunächst eine neue interessante Persönlichkeit zum Studium. Ein so ganz englischer Typus, wie er nicht englischer gedacht werden kann, vereinigte er alle Tüchtigkeit der englischen Spezialisten auf dem einen Feld ihrer Tätigkeit mit ziemlicher Beschränktheit nach andern Seiten. Zugleich aber besaß er eine solche Güte und liebenswürdige Milde des Charakters, daß er einem jeden wert werden mußte, der ihn näher kennen lernte. Er war in Paris, um den Freihandelsvertrag mit Frankreich abzuschließen. Dies gab Gelegenheit, ihm viele Fragen über nationalökonomische Probleme vorzulegen und von ihm zu lernen. Er baute das ganze Evangelium einer sittlicheren Zukunft auf den Freihandel. Sonderbarerweise war er darin, vielleicht ohne es zu wissen, völliger Materialist, trotzdem er ein frommer Mann war und auch sogar die Kirche besuchte. Er sagte mir einmal, wie er hoffe, daß durch die freie Einfuhr der leichten französischen Weine in England dem Branntwein- und »Gin«-Trinken des englischen Volkes Schranken gesetzt werden würden. Dadurch versprach er sich den Anfang einer größeren Moralität, und gewiß nicht mit Unrecht. Nur vergaß er, wie viele andere Faktoren damit Hand in Hand gehen müßten, um den Erfolg herbeizuführen. So lange das englische Volk in seinem jetzigen bedürftigen, oft bis an das schrecklichste Elend reichenden Zustand ist, würden ihm die leichten französischen Weine nicht zusagen: »Gin« und »Brandy« sind der Lethe, der auf Stunden die tierische Existenz vergessen macht. Verminderte Arbeitszeit, erhöhte Löhne, Schulunterricht, geistige Entwicklung, das Öffnen der Museen, der öffentlichen Vergnügungs- und Belehrungsorte anstatt der Trinkhäuser am Sonntag – alles das müßte zuerst kommen. Dann würde auch der leichte Wein annehmbar sein, anstatt des Alkohols. Man würde dann in den Straßen von London nicht mehr so oft dem scheußlichen Anblick betrunkener Männer und Frauen begegnen.

Übrigens erhob sich auch gegen Cobden eine heftige Opposition. Die französischen Schutzzöllner ließen es an Protesten aller Art nicht fehlen. Nur Napoleon und Rouher hatte er völlig auf seiner Seite, und das war denn freilich entscheidend. Cobden kam von seinen häufigen Privatkonversationen mit dem Kaiser stets entzückt von dessen Persönlichkeit zurück. Er konnte nicht genug die liebenswürdige Vertraulichkeit und das verständnisvolle Eingehen auf alle Fragen, die zwischen ihnen verhandelt wurden, rühmen. Es war gerade einer der glänzendsten Höhepunkte in Napoleons Karriere erreicht. Der italienische Krieg war beendet. Freilich hatte er sein Wort nicht gehalten, Italien frei zu machen von den Alpen bis zur Adria, freilich hatte er zwei schöne Juwelen aus der neu geschmiedeten Krone Italiens als Lohn für sich herausgenommen. Aber dennoch strahlte die alte französische Glorie von neuem in hellem Glanz, und eines Morgens erschallte Trommelwirbel in den Straßen, eine Abteilung Soldaten zog umher, und ein Ausrufer verkündete mit lauter Stimme, es gäbe jetzt viele tausend Franzosen mehr; Savoyen und Nizza waren über Nacht französisch geworden. Des waren die Franzosen über die Maßen froh. Alles schien glücklich im Glanz der hellstrahlenden Kaisersonne, und sogar der Typus des Gesichts von Napoleon III. vervielfältigte sich, wovon ich schon oben gesprochen. Man begegnete überall Gesichtern, die sich durch den nach ihm modellierten Bart, durch die Tracht des Haares und der Kleidung eine Art Ähnlichkeit mit ihm verschafft hatten.

Ich sah ihn nur einmal ganz in der Nähe. Wir hatten Billets erhalten zu dem großen Saal, durch den am Sonntag Morgen der Hof sich in die Kapelle der Tuilerien zur Messe begab. Ich ging mit ihm hin, weil ich diesen Parvenu, der wie ein Mehltau auf den Blüten des europäischen Lebens lag, den ich seit dem 2. Dezember haßte, der wie einer der alten römischen Imperatoren mitleidlos mit Blei, Kerker und tödlichen Klimaten die Gegner seiner Tyrannei hingeopfert hatte, einmal genau sehen, einmal wissen wollte, wie ein solcher Mensch aussieht. Es war dies ein beliebtes Schauspiel für Fremde, und der Saal war voller Menschen. Plötzlich erschien ein in eine violette goldgestickte Uniform gekleideter Hofbeamter und rief: »L'empereur!« Nun erschien Napoleon, Eugenie führend, von Höflingen gefolgt, und schritt langsam an uns vorüber der Kapelle zu. Ich stand an einer Säule, so nahe gingen sie an mir vorbei, daß der Kaiserin Kleid mich streifte. In der Kapelle, wohin wir uns ebenfalls begaben, stand ich so, daß ich die Gesichter des kaiserlichen Paares gerade vor mir hatte. Ich gestehe, daß ich während der Messe, die unten gelesen wurde, mit nichts anderem beschäftigt war, als diese beiden Physiognomien zu studieren. Mit der Kaiserin wurde man, trotz ihrer regelmäßigen Schönheit, bald fertig. Es war eine schöne Grisette mit dem Diadem geschmückt. Tausendmal mehr wie Napoleon trug sie den Stempel der Parvenue. Wenn sie vielleicht aus Weltklugheit und auch von den Verhältnissen in Schranken gehalten, nicht fähig war, unvorsichtig, übermütig, jugendlich und leichtsinnig zu handeln wie Marie Antoinette, so war sie gewiß noch weniger fähig, groß zu leiden, im Unglück moralisch zu wachsen und heroisch zu sterben wie jene. Ich wandte meinen Blick mit Geringschätzung von ihr ab. Daß Napoleon sie zur Gattin nahm, war vielleicht einer seiner schlimmsten Fehler, verhängnisvoll für Frankreich und ihn selbst. Länger gefesselt blieb ich durch ihn. Sein unbegreiflich unschönes Gesicht hatte dennoch eine gewisse Hoheit, die Eugenien völlig fehlte. Aber es war eine passive Festigkeit und Geschlossenheit in den häßlichen Zügen, die das Gesicht wie eine Maske erscheinen ließen. Als er so da kniete, die geballte Faust, auf der sein Kinn ruhte, auf das Samtkissen vor ihm gestützt, war es unmöglich, zu unterscheiden, was und ob überhaupt etwas seine Seele füllte. Keinenfalls war es die Andacht, die aus den Tiefen des Wesens zu einem geahnten Höheren aufsteigt, mögen wir dies nun Gott, Weltgeist oder anderswie nennen – die Andacht, in der allein die erlösenden Gedanken geboren werden, erlösend für das Individuum oder für die Welt.

Vielleicht dachte er gerade damals darüber nach, ob er gründlich mit der Partei brechen sollte, die ihn bisher getragen und gestützt hatte, mit der klerikalen nämlich. Gewiß ist, daß diese es war, die in dem Augenblick am meisten gegen ihn empört war. Man sprach gar nicht allzuheimlich darüber, daß die Priester es vielleicht jetzt übernehmen würden, das zu vollführen, was Orsini mißlungen war, und man war überzeugt, daß die Hand, die von da käme, ihr Ziel nicht verfehlen würde.

Ein angenehmer Umstand, den ich dem Zusammenleben mit Richard Cobden verdankte, war die Bekanntschaft vieler der bedeutendsten literarischen und politischen Persönlichkeiten der damaligen französischen Gesellschaft. Es war einmal wöchentlich Empfangsabend bei uns, wo sich stets eine ausgewählte Gesellschaft zusammenfand. Außerdem wurden oft die hervorragendsten Leute zum Essen gebeten, und hier, im kleineren Kreise, lernte man sie näher kennen und erfreute sich an ihrer Unterhaltung. Hier sah ich Mignet, Laboulaye, Cousin, Dollfus, Renan und andere. Letzterer hatte damals noch nicht die Berühmtheit erlangt, die ihm sein Leben Jesu, der Apostel usw. eintrugen, aber er erschien mir bedeutender als die meisten andern. Der Zufall fügte es oft, daß er mein Tischnachbar wurde und ich so Gelegenheit zu langen und eingehenden Gesprächen mit ihm hatte. Ich sagte danach mehrere Male zu Madame Schwabe: »Dies ist jedenfalls einer der bedeutendsten Menschen in der französischen literarischen Welt, und die Zukunft wird es noch erweisen.« – Ich freute mich aufrichtig, als meine Prophezeiung später in Erfüllung ging.

Durch Herzen hatte ich eine Empfehlung an Michelet, dessen Geschichtswerke wir zum Teil zusammen mit großer Freude an den geistreichen Aperçus, der phantasievollen Darstellung und der warm und lebendig durchschimmernden Empfindung gelesen hatten. Herzen war sehr mit ihm befreundet und seine Empfehlung verschaffte mir bei Michelet und seiner Frau den liebenswürdigsten Empfang. In dem bescheidenen kleinen Empfangszimmer des ausgezeichneten Paares, von dessen Fenstern man die Aussicht auf die grünen Bäume des Luxembourg hatte, empfing ich die besten unter all den mannigfaltigen Eindrücken der Pariser Gesellschaft. Der kleine Mann mit dem geistreichen Gesicht, vom langen weißen Haar umrahmt, machte zugleich den Eindruck eines feinen, originalen, blitzartig sprühenden Geistes und eines gemütvollen, echt humanen Herzens. Das fragmentarische, wie ein laut gewordenes Denken Aussehende seines Stils, das zuweilen durch das allzu Kurze, Abgerissene der Sätze ermüdet, hatte im Gespräch etwas ungemein Anregendes. Er warf Gedankenblitze hin, die im andern Gedanken entzündeten und so zu einem lebhaften Austausch Anlaß gaben, der nie schleppend wurde, nie des Stoffs ermangelte. Er gab mir gleich seine warmen Sympathien für Deutschland und deutsche Literatur zu erkennen. Damals arbeitete er an jener Reihe kleinerer Schriften, die ihn auf ein ganz anderes Gebiet als das der Geschichte hinüberführten. Seine kluge, liebenswürdige Frau half ihm dabei. Es ist wahr, daß diese psychologischen und physiologischen Phantasien und Betrachtungen etwas dilettantisch behandelt waren. Doch waren sie voll Poesie und Geist. Eines dieser Bücher, das eben erschien, »La femme« betitelt, erregte in der Pariser Gesellschaft eine laute Opposition und wurde mit dem beißendsten Spott, mit vernichtender Kritik aufgenommen. Dies beirrte aber weder Michelet noch seine Frau. Sie sagte mir einmal von ihrer gemeinsamen Arbeit: »Ich sammle die Bausteine, er fügt das Gebäude.«

Noch eine freundliche Zuflucht hatte ich in dem großen Paris, wo es mir vertraut und heimisch wurde, wo mich eine Welt umfing, wie sie meiner innersten Natur gemäß war. Das allgemeine, flüchtige Interesse, das die größere Geselligkeit mir als Neuheit darbot, ließ bald nach. Die Hausgenossenschaft hatte, mit Ausnahme von Madame Schwabe und Cobden, so oberflächliche, nur der Eitelkeit und dem Äußerlichen angehörende Neigungen, daß ich mich oft mit Widerwillen fragte: Wie komm' ich in diese Umgebung? und mit Tränen der bittersten Empörung es dem Schicksal vorwarf, daß es mich zu solcher Abhängigkeit nötigte. Ich entfloh dann in jenes Asyl, das ich meinen Hausgenossen verschwieg, damit man mir nicht dahin folge. Ich ließ sie in dem Glauben, daß ich zu geheimen politischen Zusammenkünften gehe und mich mit Arbeitern verschwöre – war ich doch sicher, daß sie mir dahin nicht nachkämen. Mein Asyl war aber kein anderes, als das Atelier des Malers Jaroslav Czermak, desselben, den ich einst in Wales kennen gelernt und den ich in Paris wiedergefunden hatte. Es befand sich in einer der altertümlichen Straßen des alten Paris, in dem ehemaligen Kloster der Cordeliers, in demselben Saal, der während der großen Revolution den Sitzungen des Klubs der Cordeliers gedient hatte und der jetzt in einige große Ateliers geteilt war. Das Czermaks enthielt noch dieselbe Tribüne, von der einst die wilden Führer zu den aufgeregten Leidenschaften der Massen gesprochen hatten. Jetzt war es phantastisch mit allem, was einem Künstler zu seinen Studien dient, geschmückt. Besonders aber zierten es Kostüme und Waffen aus den Donaufürstentümern und Montenegro. Czermak hatte seinen Stammesverwandten in jenen Gegenden eine besondere Vorliebe geschenkt, öfter lange Zeit dort verweilt und eine Menge schöner Motive mitgebracht, die er nun nach und nach mit poetischer Empfindung und vollendeter Technik zur Ausführung brachte. Auch ein Klavier fehlte nicht, denn Czermak war auch ein tief musikalischer Mensch. Die Sympathie, die er mir schon in Wales bei unserm ersten Begegnen eingeflößt hatte, steigerte sich bei unserem Wiedersehen zu wahrer Freundschaft. Mit Freude nahm ich sein Anerbieten an, mit meiner Schreiberei mich in sein Atelier zu flüchten, wenn ich einsam sein wolle, und da ruhig zu arbeiten, während er male. Ich hatte meine Verbindung mit Kinkels Zeitung wieder angeknüpft, um meine Pariser Eindrücke daselbst mitzuteilen, eigentlich mehr, um mir so die Qual des Briefschreibens und der Wiederholungen derselben Dinge zu ersparen und meine Zeit endlich einmal frei für mich selbst zu nützen. Zu Hause fand ich keine ruhige ungestörte Stunde zu der Arbeit, die vielen zerstreuten Bilder, die an mir vorüber schwebten, in einen Rahmen zu fassen. Wie gern entschlüpfte ich daher wöchentlich zwei- oder dreimal dem eleganten Hotel, den vornehmen Champs Elysées, der geräuschvollen, glänzenden Modestadt am rechten Seineufer, und schritt dem alten, malerischen Paris der Revolution zu. Hier schien einen wirklich eine andere Welt zu umfangen, die bis dahin glücklicherweise noch nicht von Herrn Hausmanns alles Originelle und Schöne zum Kasernenstil nivellierenden »Verschönerungen« berührt worden war. Schon der Eingang und die Treppe zum alten Kloster waren originell und interessant. Dann ging ich den langen Gang entlang zu der letzten Tür und klopfte. Der Freund kam und öffnete, und wenn ich mich an den Fortschritten seiner Arbeit erfreut hatte, setzte ich mich in eine Ecke, packte mein Schreibzeug aus und schrieb, während er weiter malte. Oft verstrichen so Stunden, ohne daß einer von uns ein Wort sprach. Durch den denkwürdigen Raum schwebte es wie der Hauch einer wilden, großartigen Vergangenheit und gab den Arbeiten, die uns beschäftigten, den Hintergrund der Stimmung. Das herzliche Wohlwollen, das mich mit dem so viel jüngeren Manne vereinte, machte es uns behaglich und traulich in diesem Beisammensein. Oft auch sprang Czermak auf, setzte sich an das Klavier und spielte einen Satz von Beethoven oder den Trauermarsch von Chopin oder, was mich noch mehr ergriff, Sachen aus »Tannhäuser« und »Lohengrin«. Er war ein eifriger Verehrer der Wagnerschen Musik. Ich kannte bis jetzt nur dürftige Bruchstücke davon, die ich in England am Klavier durch einen mir befreundeten deutschen Musiker gehört hatte. Aber auch dies wenige hatte mich schon mit einem Zauber ergriffen, wie nie zuvor Musik, und mein höchstes Sehnen war, einmal ganz und voll die Macht jener Eindrücke zu erfahren, die mein Ahnen mir von den Werken Wagners verhieß. Meist frühstückten wir nachher zusammen. Ein Kellner in weißen Hemdärmeln, mit einer langen grauen Schürze, wie sie dort im Quartier Latin noch gesehen werden, brachte uns aus einem benachbarten Restaurant zwei Beefsteaks und eine Omelette aux confitures herauf; Czermak holte den Wein dazu aus einer Ecke seines großen Ateliers, die den Keller vorstellte. So beschloß dies Frühstück, bei dem Ernstes und Heiteres besprochen wurde, diese in rein menschlich schöner Weise verlebten Stunden. Ich besaß Czermaks ganzes Vertrauen und lernte durch ihn auch auf eine meinen Hausgenossen verborgene Weise die Frau kennen, der er sein Herz und Leben geweiht hatte und von der ihn damals noch unüberwindlich scheinende Hindernisse getrennt hielten, was ihn oft mit der tiefsten Schwermut erfüllte. Einmal schien alles sogar so hoffnungslos, daß er entschlossen war, Paris zu verlassen und in sein geliebtes Dalmatien zu gehen. Er erzählte mir von der Schönheit jener Küstenstriche am adriatischen Meer, und wie da noch in entzückenden Tälern prächtige Marmorvillen, aus der Glanzzeit der venetianischen Republik her, fast für einen Spottpreis zu haben seien. Dort wolle er eine kaufen; ich solle mit ihm gehen, desgleichen ein czechischer, hochgelehrter Freund. Da wollten wir friedlich zusammen leben und ein Werk ausarbeiten über jene Länder: der gelehrte Freund den wissenschaftlichen Teil, ich den belletristischen, er den künstlerischen. Seine Bilder brächten ihm so viel Geld ein, daß es ihn fast beschäme; es sei genug für uns alle, um davon zu leben. Mir gefiel der Plan wohl: fort aus dem Getriebe einer Kulturwelt, an die mich eigentlich nichts mehr fesselte, in eine wonnige Einsamkeit des Südens, der immer das Ziel meiner Sehnsucht geblieben war, in Gesellschaft zweier bedeutender Menschen, eines Gelehrten und eines Künstlers, zu einem ernsten Werk vereinigt – was hätte ich mir Besseres wünschen können? Durfte ich doch überzeugt sein, daß Czermak mit der Treue eines jüngeren Bruders für mich sorgen würde.

Allein der schöne Plan zerrann in nichts, da jene Wolken, die ihn hervorgerufen hatten, sich aufhellten und ihm das eigene Lebensglück wieder als möglich in Aussicht stellten.

Nun traf mich aber auch eine Nachricht, die für den Augenblick jeden Wunsch nach Entfernung aus der Welt, in der ich mich befand, verstummen machte. Es war die Nachricht, daß Richard Wagner in Paris angekommen sei und sich daselbst niederlassen wolle. Zugleich wurden drei Konzerte in Aussicht gestellt, die er im Hause der italienischen Oper geben und worin er eine Auswahl seiner Kompositionen selbst dirigieren werde. So sollte denn auch dieser heiße Wunsch mir in Erfüllung gehen, einmal etwas von Wagnerscher Musik, wenigstens mit vollem Orchester und von ihm selbst dirigiert, zu hören. Ich besuchte alle drei und fühlte mich wie in einem seligen Traum befangen, als ich diese Klänge vernahm, die eine andere schönere Welt, voll idealer Gestalten, voll großer, reiner, menschlicher Empfindungen, voll erhabener Leidenschaft und tiefer, aus dem innersten Kern des Herzens hervorbrechender Andacht vor mir aufschlossen; eine Welt, wie sie in den heiligsten Träumen meiner Seele mir vorschwebte, aus der nur die Musik mir bisher schöne, aber schmerzliche Grüße gebracht hatte, wie aus einer unerreichbaren Heimat, die nie Gestalt gewinnen könne. Hier aber fühlte ich, daß sie Gestalt gewonnen hatte. Da der Text mir bekannt war, ersetzte meine Phantasie die mangelnde Darstellung, und ich ahnte, daß hier ein Genius den Schlüssel gefunden habe, der das Reich des schönen bewußten Wahns erschließen sollte, in dem die sogenannte Wirklichkeit zum Wahnbild und das Ideal zur wahren Wirklichkeit werden würde.

Ich war wie getragen von einer inneren seligen Gewißheit, von einer unfehlbaren Offenbarung. Mein nächstes Ziel war, den Schöpfer so hoher Dinge wiederzusehen. Zwar hatte unser Zusammentreffen in England keinen freundlichen Charakter gehabt, und ich wußte nicht, ob es ihm genehm sein würde, mich wiederzusehn. Aber ich wollte es doch ehrlich versuchen. Ich fühlte, daß ich ihn verstand, und kam ihm mit der reinsten Huldigung für seinen Genius entgegen. So, dachte ich, wird sich auch die Brücke finden, auf der ich zu ihm gelange. Der Zufall fügte es, daß in einem Konzert, wohin ich mich mit einer ungarischen Dame, deren Bekanntschaft ich gemacht hatte, begab, wir hinter Wagner und seine Frau zu sitzen kamen. Die Ungarin kannte Wagners und redete sie an. Ich wandte mich zu ihm und begrüßte ihn. Er erkannte mich und sagte freundlich: »Ach ja, bei Ihnen habe ich auch etwas gut zu machen; ich war damals sehr schlechter Laune; daran waren aber bloß die englischen Nebel schuld.«

Darauf machte er mich mit seiner Frau bekannt und beide luden mich freundlich ein, sie zu besuchen. Es verstand sich von selbst, daß ich bald von dieser Einladung Gebrauch machte. Wagners hatten sich ein kleines Haus mit einem Gärtchen, nicht zu weit von den Champs Elysées, in einer stillen Straße eingerichtet. Es sah reizend behaglich darin aus; besonders Wagners Arbeitskabinett und das Musikzimmer daneben waren, wenn auch klein, doch von künstlerischer Bedeutung. Hier nun fingen eine Reihe glücklicher Stunden an. Wagner erschien mir jetzt erst im rechten Licht; die Londoner Nebel waren gewichen, und mit staunender Freude sah ich diese gewaltige Persönlichkeit sich vor mir enthüllen. Er schien viel geselliger gestimmt wie in London. Gastlich öffnete sich sein Haus des Abends wöchentlich einmal, und es drängten sich zu diesen Empfangsabenden bedeutende, freilich auch unbedeutende Menschen genug. Wagner aber beherrschte die Gesellschaft so völlig, daß man eigentlich nur ihn sah und hörte und die andern darüber völlig vergaß. Ich erinnere mich eines Abends, wo er vor mehreren Personen, zu denen auch ich gehörte, stand und über die Seltenheit dessen, was man Glück nennt, sprach, indem er schließlich die Worte der Eleonora d'Este anführte: »Wer ist denn glücklich?« Mein Herz klopfte jedem Wort, das er sagte, Beifall zu. Ich verstand ihn, aber es war mir seltsam, daß er vor so vielen so wundervolle Dinge sagte, denn ich sah es den meisten Gesichtern an, wie sie ihn nicht verstanden, und ich dachte: »Warum wirft er das Köstliche an die Unempfänglichen weg?« Freilich, vielleicht ist es so das Wesen des Genius, der schafft, sei es in Werken oder Worten, unbekümmert darum, wer ihn hört oder aufnimmt; gerade wie die Sonne scheint über Böse und über Gute.

Meinen Freund Czermak, den eifrigen Bewunderer Wagners, führte ich dort ein, und er kam oft, mich zu jenen Empfangsabenden abzuholen. Ich lernte da, unter anderen mehr oder minder interessanten Persönlichkeiten, auch die Tochter Liszts, die Gattin Emil Olliviers kennen, eine wundersam fesselnde Erscheinung. Ollivier selbst hatte ich im Salon der Madame Holland gesehen, einer vornehmen Engländerin, die in Paris einen Salon hielt, der noch der Idee entsprach, die man sich von den früheren, so berühmten Pariser Salons machte, die man bei den Pariserinnen selbst nun vergebens suchte. Mir war von Anfang an aufgefallen, welch ein sonderbar steifer Ton in deren Gesellschaften herrschte; die Damen saßen auf einer Seite, die Herren standen auf der andern. Selten, daß sich einer der letzteren in den feierlichen Damenzirkel wagte, und wenn es ja geschah, so wendete er sich meist nur an die älteren Damen. Die jüngeren unverheirateten Männer redeten nie mit den jungen Mädchen, denn das wäre sogleich als eine Demonstration angesehn worden. Die geistreiche Plauderei, wie sie früher in den Salons de l'Abbaye bei Madame Récamier und auch noch unter der Restauration, in der belebten Epoche der französischen Literatur, durch Lamartine, Alfred de Musset, Victor Hugo und andere geherrscht haben mochte, war nirgends mehr zu finden. Nur jener reichen Ausländerin, die alle Winter in Paris zubrachte, war gelungen, was die Pariserinnen, die unter dem zweiten Kaiserreich Geist und Grazie eingebüßt hatten, nicht mehr vermochten. Sie besaß selbst keinen hervorragenden Geist, aber sie hatte das große gesellige Talent, kluge Männer sprechen zu machen und den Faden der Unterhaltung immer fein wieder anzuknüpfen, wenn er abzureißen drohte. So wurde sie die Vermittlerin einer geistig belebten, lebhaften, oft hoch interessanten Unterhaltung, in der, wie es bei wahrhaft schöner Geselligkeit sein sollte, immer nur einer auf einmal sprach, während die andern zuhörten und, wenn er geendet, in gleicher Weise gegen den verfuhren, der nach ihm das Wort nahm. Nichts zeigt vielleicht mehr wahren geselligen Takt und feine Bildung, als wenn man zuzuhören versteht. Bei Madame Holland versammelten sich die Männer der Opposition gegen das Kaiserreich, besonders die Anhänger der Orleanistischen Dynastie, aber auch deren frühere Opponenten, wie unter anderem der alte Odilon Barrot, den ich hier öfter sah. Dann waren dort: Rémusat, Jules Simon, Pressensé und andere, und es gab fast immer etwas Interessantes zu hören. Außer diesem war es nur noch ein Salon, der mir ein bestimmtes charakteristisches Bild zurückließ und der zugleich einen Anflug früherer Zeit trug. Es war ein Salon des Faubourg St. Germain: der von Frau von Staël, Schwiegertochter der Verfasserin von Corinna. Hier hatte sich noch etwas von der Tradition des achtzehnten Jahrhunderts erhalten. Man saß durcheinander, nicht in feierlichem Halbkreis, sondern wie es sich zur Plauderei eignet. Die jungen Damen waren mit Stickereien beschäftigt, die jungen Männer, alles cousins et cousines, standen oder saßen dabei und schwatzten gemütlich miteinander. Die älteren Leute sprachen unter sich. Da waren de Broglie und andere aristokratische Namen, da war auch der alte Guizot, dem ich vorgestellt wurde und mit dem ich mich längere Zeit unterhielt. Ich sagte ihm, daß mein Vater mich einst auf ihn und seine Politik verwiesen habe, als ich ihn um Belehrung über politische Ansichten gefragt, da er ihn für den wahren Staatsmann gehalten. Das schien ihn sehr zu erfreuen. Er sagte mir darauf, daß er allerdings prinzipiell die Republik für die beste Staatsform halte, sie aber als unausführbar betrachte. Als ich dieses Gespräch später Renan erzählte, lachte er und meinte, das sage der alte Schlaukopf immer, würde aber sehr wenig damit zufrieden sein, wenn die Republik wirklich eingeführt würde.

Diese eben angeführten Salons waren die einzigen, wie schon gesagt, die mir noch eine Idee davon gaben, was der ehemalige, so berühmte Pariser Salon gewesen sein mußte. Freilich eben auch nur eine schwache Idee, denn welch ein schwaches Abbild waren selbst die interessantesten Leute, die sie füllten, gegen jene geistvollen Menschen des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie sich z. B. bei Madame Necker versammelten, und unter deren Gesprächen die junge Germaine Necker ihre ersten geistigen Anregungen empfing!

Wie ganz anders war der oben erwähnte deutsche Salon in Paris. Hier war es nicht das geistreiche, belebte Gespräch einer Menge bedeutender Menschen, sondern es war die überlegene Größe und Allseitigkeit eines Genius, die ihm die Bedeutung gaben. Es traf sich, daß einer der wärmsten Anhänger und zugleich ein Schüler Wagners, Klindworth, ein trefflicher Klavierspieler, nach Paris kam. Nun wurden die Empfangsabende in das Musikzimmer oben verlegt, und an jedem wurde etwas aus den Werken Wagners aufgeführt, wobei Klindworth die Begleitung übernahm, Wagner selbst aber die verschiednen Stimmen sang. Man hätte denken sollen, daß dies wenig geeignet hätte sein können, einen vollkommnen Eindruck zu geben, und doch war es so. Keiner verstand es so, obgleich mit wenig Stimme, seine Intentionen und den ganzen ergreifenden Eindruck des neuen Gesanges, den er einführen will, klar zu machen. Ich begriff von vornherein, daß sich eine völlig neue Gesangesschule mit diesen Werken bilden müsse, daß es mit der bloßen Kantilene, zu der eine gute und geschulte Stimme ausreicht, vorüber sei. Es war der wahre, dramatische Gesang, der hiermit anfing, in dem das Wort von ebenso hoher Bedeutung ist, wie der es begleitende musikalische Ausdruck, und in dem daher eine ganz andere, wahrere Deklamation stattfinden muß, als in dem bisherigen Gesang. Es war ein Glück für mich, daß ich so mit den lang ersehnten Werken bekannt wurde, denn es ging mir dadurch von vornherein ein richtigeres Verständnis dafür auf, als wenn ich sie zuerst in den meist stümperhaften Ausführungen der deutschen Theater gehört hätte. So lernte ich Lohengrin und Tristan und Isolde ganz, die Walküre und Rheingold zum größten Teil kennen. Ich war auch noch besonders bevorzugt, da Wagner sehr gut gegen mich war und mir völlige Freiheit gab, auch am Morgen allein zu kommen und zuzuhören, wenn er mit Klindworth musizierte. So geschah es eben einmal, daß die beiden Tristan und Isolde beinah von Anfang bis zu Ende durchnahmen, vor mir als einzigen Zuhörerin. Immer tiefer nahmen mich diese gewaltigen Schöpfungen gefangen, immer heller wurde die Offenbarung in mir, daß dies allein der wahre Fortschritt in der Kunst und ihr höchstes Ziel sei: die Vereinigung aller Künste zum musikalischen Drama. An Urkraft der Empfindung, an Größe der Leidenschaft, an voller menschlicher Wahrheit der Gestalten konnte ich alles dies nur mit Shakespeare vergleichen, aber hier ist außerdem noch die Musik, die den gewaltigen Gang der tragischen Handlung wie mit einem verklärenden Äther umgibt. Und welche Musik! Es verhält sich mit ihr auch wie mit Shakespeare. Man vergißt, daß sie etwas von einem menschlichen Gehirn Geschaffenes ist. Sie scheint wie aus dem Wesen der Dinge selbst herausgestiegen, eine Naturnotwendigkeit, ein organisches Ganzes mit der Wahrheit der Gestalten. Raum und Zeit verschwinden bei Anhörung eines solchen Kunstwerks. Wir durchleben ein tragisches Verhängnis, aber umwoben von jenem idealen Zauber, der von allem Schmutz und allen Flecken der irdischen Existenz befreit und im tragischen Untergang, im heiligsten Leiden die Seele erlöst.

Bei dem Anhören dieser wunderbaren Schöpfungen erfaßte mich das Gefühl, das beim Lesen von »Oper und Drama« einst schon so schlagend meinen Verstand überzeugt hatte. Nun ging mir auch ganz das Verständnis für den Mann auf, dessen gewaltiger Dämon ihn zwang, so unglaublich Großes zu schaffen. Von der Zeit an wußte ich, daß mich nichts mehr an ihm irre machen würde, daß er mir verständlich bleiben würde auch in dunkeln Stunden, in heftigen Äußerungen seiner reizbaren Natur, in Sonderbarkeiten, die die große Menge veranlassen würden, Steine auf ihn zu werfen. Ich wußte es, daß er von nun an auf mich rechnen könne in Not und Tod, und daß sein Genius eine der wenigen Leuchten sein würde, deren Glanz mir überhaupt noch es wert machen würde, zu leben. Ich war eines Tages dort zum Essen eingeladen. Als ich hinkam, fand ich alle in freudiger Aufregung, denn am Morgen war plötzlich die Nachricht gekommen, daß Napoleon wünsche, den »Tannhäuser« an der großen Oper aufgeführt zu sehn. Der Direktor, der noch vor wenigen Wochen Wagner mit einem kühlen Bescheid abgefertigt hatte, war nun ganz Untertänigkeit und Bereitwilligkeit, alles nach des Meisters Wünschen einzurichten. Die plötzliche Veränderung war der Fürstin Metternich zu danken, die, als große Verehrerin der Musik Wagners, den Kaiser dazu bestimmt hatte. Natürlich war auch ich höchlich erfreut, und der Entschluß stand sogleich in mir fest, es auf irgendeine Art möglich zu machen, im folgenden Winter zu dieser Aufführung wieder nach Paris zu kommen. Denn erst im folgenden Winter war an die Möglichkeit einer Aufführung zu denken, da der nötigen Vorbereitungen zu viele waren, unter anderen zunächst die Übersetzung des Textbuchs, und da ohnehin die Wintersaison für dies Jahr bereits ihrem Ende nahte.

Auch unser Aufenthalt in Paris nahte seinem Ende. Die Familie Cobden war längst geschieden, da Cobden seiner Gesundheit wegen nach Algier geschickt wurde. Madame Schwabe, ihre Familie und ich hatten das große Hotel verlassen und eine Etage in der Straße Rivoli bezogen. Der Frühling war wunderschön in Paris. In einer Nacht entlud sich ein heftiges Gewitter und am andern Morgen prangten, wie durch einen Zauberschlag, die Bäume der Champs Elysées, die Gärten und Büsche im frischen Schimmer des ersten Grüns. Wagner sagte mir, daß ihm diese Erscheinung große Freude gemacht habe. In Rheingold nämlich schlägt Donner an den Felsen, worauf die Wolken sich zum Gewitter zusammenballen, und als sie sich verziehen, prangen Walhall und die Erde im Frühlingsschmuck. Nun waren ihm gerade in jener Nacht Gedanken darüber gekommen, ob dies zulässig sei. Da hatte ihn denn dieser Vorgang in der Natur angenehm beruhigt.

Je schöner Paris und die reizende Umgegend waren, desto schwerer wurde mir der Gedanke an das Weggehn. Der Winter hatte eine große heilende Wirkung auf mich gehabt. Das milde Klima hatte meiner Gesundheit gut getan. Die neuen angenehmen Beziehungen, an die sich keine traurigen Erinnerungen knüpften, hatten mich freundlich angeregt. Das bewegtere geistige Leben und der leichtere Verkehr der Franzosen, im Vergleich mit den Engländern, waren mir erfrischend gewesen. Manche kleinere literarische Arbeit, von der ich fühlte, daß sie gelungen war, hatte innere Befriedigung gegeben. Herzen schrieb mir in Beziehung auf die Artikel, die ich in Kinkels Zeitung sandte: »Vous travaillez – vous vivez d'une bonne vie; c'est autant de pris sur le diable.« – Alles das, vor allem aber die Bekanntschaft mit Wagner und seinen Werken, waren so viele Bande, die mich an Paris knüpften, und ich überlegte hin und her, wie ich es möglich machen sollte, wiederzukommen. Da erhielt ich zu meiner Überraschung einen Brief von Herzen, in dem er mich aufforderte, die Erziehung der Kinder, besonders Olgas wieder ganz zu übernehmen, da die häuslichen Verhältnisse sich so gestaltet hätten, daß die Erziehung darunter leide und nicht zu seiner Zufriedenheit ausfalle.

Eine schönere Genugtuung für das Vergangne konnte mir nicht werden. Das volle Vertrauen, das er mir einst geschenkt und das der unerschütterlichen Freundschaft, die ich ihm geweiht hatte, entsprach, hatte nun wieder über alles andere gesiegt. Die Liebe zu dem Kinde, das Mütterliche in mir, wallte hoch auf. Doch kämpften andere Bedenken damit, andere Anziehungen, vor allem die zur Freiheit. Ich hatte es sattsam einsehn gelernt, daß Liebe auch Abhängigkeit ist, vielleicht sogar die größte. Bei einer bloß äußeren Abhängigkeit bleibt die Seele frei und unabhängig von dem Opfer äußerer Gewohnheiten und Neigungen. In der Liebe, auch in der mütterlichen, wird die Seele Sklave, und man bringt nur zu oft das Opfer seiner selbst, d. h. das, das man nicht bringen darf. Ich konnte mich daher nicht gleich entscheiden und schrieb nun Herzen, daß, wenn ich es annähme, wenn ich alle Vorteile, die Madame Schwabe mir biete, aufgäbe um Olgas willen, ich es zur Bedingung machen müsse, von nun an völlig freie Hand in deren Erziehung zu behalten und den nächstfolgenden Winter mit ihr wieder in Paris zuzubringen, wo meine Gesundheit sich entschieden bessern und ich auch Gelegenheit finden würde, das Beste für Olga zu tun.

Noch ehe ich eine Antwort hierauf erhielt, bekam ich einen andern Brief, von jemand, den ich bisher nur dem Namen nach kannte, von Mr. Hodge, jenem Engländer, dem Freunde Orsinis, dem dieser letztere in seinem Testament die eine seiner Töchter zur Erziehung übergeben hatte. Die andere hatte er einem anderen Engländer, auch einem intimen Freunde, vermacht. Er hatte sie nicht gern bei der Mutter lassen wollen, da er diese für wenig geeignet hielt, sie zu erziehen. Die zweite war aber kurz nach des Vaters Tod gestorben. Mr. Hodge schrieb mir, daß er noch unverheiratet und zu jung sei, um die Erziehung eines kleinen Mädchens zu leiten. Er habe sich daher bei den Schwestern Emilie und Karoline erkundigt und den Bescheid erhalten, er könne nichts Besseres tun, als sie mir anzuvertrauen, wenn ich es übernehmen wolle. Er fügte hinzu: »Ich brauche wohl keine Entschuldigung, daß ich mich so an Sie wende; denn wir haben auf denselben Schlachtfeldern gekämpft und sind uns deshalb keine Fremde.« Das Zusammentreffen dieser beiden Anerbietungen bestimmte meinen Entschluß. Es schien mir eine schöne Fügung des Geschicks, gerade diese beiden Kinder zusammen erziehen zu können und, in der Entfaltung edelster Weiblichkeit in ihnen, beiden Vätern ein würdiges Denkmal zu setzen. Mein Herz schlug ihnen entgegen wie zwei geliebten Töchtern. Ich sah eine glückliche Lösung meines Schicksals in dieser Aufgabe, der meine Körperkraft noch gewachsen war, die mein Herz befriedigte und die mir noch Zeit ließ, für meinen Geist zu sorgen. Ich antwortete Hodge also, daß ich freudig auf sein Anerbieten eingehe, schrieb in demselben Sinn an Herzen und verwies beide auf meine demnächstige Ankunft in London. So kam der Tag der Abreise heran. Mit Wagner hatte ich noch so viel verkehrt, wie nur irgend möglich. Ich war so glücklich gewesen, ihm durch meine Vermittlung einen nicht unwesentlichen Dienst leisten zu können, und er hatte sich bei dieser Gelegenheit mit der Offenheit, wie man sie einer langjährigen Freundin zeigt, über seine Verhältnisse ausgesprochen. So waren wir uns auch gemütlich nahe gekommen, und die Sorge um ihn und sein Geschick lag mir schwer auf der Seele. Ein Genius, wie der seine, konnte nur frei in den Höhen seiner Ideale schaffen, ohne herabsteigen zu müssen zu Konzessionen an den schlechten Unverstand der Menge. Um das aber in Ruhe zu können, hätte er frei sein müssen von jeder pekuniären Not, und das war er nicht. Gänzlich mittellos, verstand er es auch nicht, den Verlegern und den deutschen Theatern gegenüber, die durch seine bereits so populär gewordenen Werke große Einnahmen hatten, seine Interessen zu wahren. Er hatte dem praktischen Leben gegenüber jene Hilflosigkeit des Genius, die so rührend ist, weil sie mit einer tiefen Naivetät der Begriffe über die Verhältnisse des gewöhnlichen Lebens zusammenhängt, die nur von der Bosheit und Mittelmäßigkeit mißverstanden werden können. Tausend Pläne, wie ihm zu helfen sei, kreuzten sich in meinem Hirn, und es war wieder einer von den Fällen, wo ich die eigne Mittellosigkeit mit bitterem Schmerze empfand und mich mit Leidenschaft nach dem Glück sehnte, das darin liegen muß, aus reichen Mitteln dem Genius die Bahn zu ebnen, auf der er Unsterbliches schafft. Ist das doch die einzige Art, den ungeheuren Wert, den das an sich so wertlose Metall in der Welt erlangt hat, zu heiligen, wenn man es zu edlen Zwecken verwendet – indem man die toten Mächte der Materie im Dienste der Lichtgeister braucht.

Den Tag vor unserer Abreise ging ich noch einmal hinaus nach dem père Lachaise (der großen Totenstadt von Paris), der einer meiner liebsten und häufigsten Spaziergänge war. Dort besuchte ich zum letztenmal Börnes Grab, an dem ich schon öfter geweilt hatte in dankbarer Erinnerung der frohen Stunden, die mir dieser feine, ironische und doch so tief empfindende Geist beim Lesen seiner Schriften einst gegeben. Es war mir stets peinlich gewesen, sein geistvolles Reliefbild hier auf dem kalten Stein zu sehen, dicht von andern Steinbildern umgeben, deren lebende Originale seinem ästhetischen Sinn vielleicht höchst unsympathisch gewesen wären. Ich wollte daher nicht von Paris scheiden, ohne ein schützendes Grün zwischen ihn und seine Nachbarn gesetzt zu haben. Ich kaufte dazu einige Efeupflanzen, die ich mit hin nahm und mit Hilfe des Kirchhofgärtners zur Seite des Grabsteins pflanzte. Dann saß ich lange dort inmitten des zauberischen Grüns, mit dem der Frühling die Totenstadt geschmückt hatte, und machte mir das Resultat meines Pariser Aufenthaltes klar. Es war ein gutes; ich hatte vieles in Frankreich lieben und schätzen gelernt, manches Wissenswerte erfahren und viel in mir beruhigt. Der größte Gewinn aber, den ich davon trug, – das fühlte ich deutlich – war die Bekanntschaft mit Wagner und seinen Werken. Mit einem frohen huldigenden Gruß an die deutsche Heimat und den deutschen Geist verließ ich die französische Erde. Die grünen Wellen trugen mich und meine Reisegefährten dem stolzen Insellande wieder zu, das wie eine natürliche Festung mit seinen hohen Klippenwällen in geschlossener Individualität daliegt.


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