Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Zweites Kapitel

Persönliche Beziehungen und Teilnahme an fremden Schicksalen

Meine Beziehungen zu Mrs. Bell wurden immer inniger und freundschaftlicher. Sie kam so oft sie konnte, und ich bewunderte immer mehr die außerordentlichen Anlagen ihrer künstlerisch begabten Natur. Ihre Lage wurde jedoch immer trostloser, der Riß zwischen ihr und den Ihrigen immer weiter. Endlich erklärten ihr der Vater und der Mann, daß sie das Kind als »ward in chancery« geben, oder es in eine Pension zur ferneren Erziehung tun würden, um es den verderblichen Einflüssen der Mutter zu entziehen, die durch die »Fremden, mit denen sie verkehre, und die überhaupt alle gute, altenglische Sitte verdürben«, noch vermehrt würden. Der Gedanke, das Kind als »ward in chancery« zu sehen, d. h. als Mündel des Gerichtshofs der »chancery« zu sehen, war für die Mutter ein Todesschlag. Es entzog die Erziehung des Kindes für immer ihrem Einfluß, zufolge der in Beziehung auf die Frau so ungerechten englischen Gesetze. Dagegen vor Gericht zu protestieren, hatte sie keine Macht, denn der Wille des Vaters war darin entscheidend. So zwischen zwei Übel gestellt, wählte sie das, das wenigstens die Hoffnung auf eine zu ermöglichende Änderung ließ: die Pension; wiewohl sie bisher den Gedanken weit von sich geworfen hatte, ihr Kind einer jener englischen Pensionen anzuvertrauen, in denen die Heuchelei und Konvention beinah prinzipiell anerzogen werden. Sie erklärte ihren Tyrannen, daß sie darein willige, das Kind von sich zu geben, wenn sie ihr erlauben wollten, selbst nach einer Pension zu suchen. Sie kam dann zu mir, um mich zu bitten, sie auf diesen Wallfahrten zu den verschiedenen Schulen und Erziehungsanstalten zu begleiten. Natürlich tat ich dies sehr gern, teils um ihretwillen, teils um die Zustände des englischen Schulwesens näher kennen zu lernen. Da trat mir denn freilich in Wirklichkeit entgegen, was mir aus englischen Romanen und mündlichen Schilderungen bereits bekannt war. In den meisten dieser boarding-schools oder Erziehungsanstalten (natürlich gab es auch ehrenvolle Ausnahmen) waren die zwei Hauptgesichtspunkte der Erziehung: die Beobachtung der formellen Frömmigkeit und der formellen Feinheit des Betragens, d. h. des ladylike-Seins. Um die hohe Respektabilität und Vortrefflichkeit einer boarding-school zu bezeugen, dazu gehörte erstens: daß irgend ein »Reverend«, ein Pastor, darin den Religionsunterricht erteilte, ferner daß jeden Morgen gemeinschaftlich Gebete hergesagt wurden, daß die Pensionärinnen Sonntags, von der Lehrerin angeführt, wenigstens einmal zur Kirche zogen, daß sie am Sonntag nicht musizierten, malten, nähten, spielten, ja nicht lasen, außer im Gebetbuch. Dann kam das Betragen, d. h. also, daß die jungen Mädchen gehen, stehen, sitzen mußten, wie es sich für eine junge lady gehörte, daß sie niemals so »vulgar« sein durften, vertraulich mit Dienstboten zu sprechen – mit Menschen von noch geringerem Stande natürlich noch weniger (denn die Unterschiede der Stände sind ja von Gott eingesetzt!), daß sie bei Tisch Messer und Gabel in der vorgeschriebenen Weise halten, daß sie »modest« im Benehmen sein mußten, d. h. niemals von Herzen laut auflachten, sich im Wohnzimmer nie rasch bewegen durften usw. Aber Kleider bis aufs äußerste ausgeschnitten durften sie tragen; ja es wäre sogar unpassend gewesen, wenn sie abends im drawingroom anders erschienen waren. Das übrige Lernen verhielt sich diesen Hauptsachen analog und war im höchsten Grad oberflächlich, nur auf das »finishing«, das Fertigmachen abgesehen, wie es denn auch eigentliche »finishing school« gab, wo nur der letzte Firnis aufgetragen wurde. Welch ein furchtbares Mißverständnis: Schulen um fertig zu machen! Sollte doch die Schule gerade dazu dienen, dem Menschen die Bahnen anzuzeigen, auf denen er immer weiter wandeln und nie fertig werden soll. Sollte sie ihm doch die Augen öffnen, um mit dem eigenen Blick die Welt zu betrachten und von innen heraus die Form schön und edel zu entfalten, nicht aber ihm von vornherein eine Maske vortun, die die Maske aller ist und in der jeder individuelle Charakterzug verschwindet. Wir sahen mehrere solcher Erziehungsanstalten und wandten uns mit Widerwillen davon ab. Dann besuchten wir auch einige der noch nicht sehr lang entstandenen, sogenannten Ladies-Colleges, in denen allerdings ein großer Fortschritt zum Besseren sich anbahnte. Sie boten nur Klassen für höheren Unterricht in allen möglichen Fächern, der von Lehrern ersten Ranges erteilt wurde. Erst als man sah, wie wenig die Mädchen, die diese Klassen zu besuchen kamen, durch gründlichen Elementarunterricht vorbereitet waren, fügte man auch Schulen mit Elementarklassen hinzu. Diese Colleges entsprachen einem höheren Bedürfnis der Ausbildung für das weibliche Geschlecht; sie waren eine Errungenschaft des Geistes, der aus den Schranken alter Vorurteile hinausdrängte zu freierer Entwicklung. Das religiöse Element war dabei ganz untergeordnet; die Teilnahme daran war eine Sache der freien Wahl und kein konventioneller Zwang wie in den boarding-schools. Meist waren edle Frauen, von höherer Einsicht geleitet, Gründerinnen dieser Colleges. Ich kannte eine von ihnen, eine alte Mrs. Reed, die das »Bedfort Ladies-college«, zum größten Teil aus eigenen Mitteln, gegründet hatte. Sie war eine der feinen, tiefgebildeten energischen Naturen, wie sie das englische Leben, als Ausnahmen gewiß, aber dann auch, wie schon öfter bemerkt, in seltenster Qualität hervorbringt. Klein von Gestalt, mit einem geistvollen Gesicht, von weißem Haar umgeben, fast immer leidend, aber dabei immer liebenswürdig und geistig bewegt, war sie eine jener sympathischen Erscheinungen, durch die man nie verletzt, sondern geistig angeregt und gemütlich befriedigt wird. In ihrem schönen, komfortablen Haus in Regents-Park, wo sie allein mit einer Schwester lebte, verbrachte ich manche gute Stunde. Sie bewies mir ein besonderes Wohlwollen, und ich hegte für sie eine töchterliche Neigung. Wie ganz sie in der Aufgabe lebte, der sie sich gewidmet, und auf die sie, in echt englischer Weise, alle Kraft ihres Geistes und ihrer pekuniären Mittel konzentrierte, um, was sie tat, ganz und gut zu tun, beweist folgendes Fragment eines Briefes, den sie an eine Dame schrieb, die sie aufgefordert hatte, sich an einer Sammlung zur Förderung der Sache der Freiheit in Italien zu beteiligen:

»Ich stehe keinem nach im Haß gegen Tyrannei, Unterdrückung, Ungerechtigkeit aller Art. Italien hat besondere Ansprüche an meine Sympathie und Liebe. Aber ich habe mich einer Aufgabe in der Heimat gewidmet und darf mir nicht erlauben, davon abzuschweifen. Unser College bedarf gar sehr des Geldes, und jeder Schilling, den ich erübrigen kann, geht dahin, denn es sind wenige, die uns helfen! Die Frauen mögen untergehen – kein Mann kümmert sich darum. Sie sind Ihrer edlen Sache so ergeben, daß Sie vielleicht nicht bemerken, was um uns her vorgeht: den beklagenswerten Zustand, in dem die Erziehung der ›Ladies‹ ist, und die Art von Teufels-Kreuzzug, der dagegen gepredigt wird. Man muß genau mit einem unserer ›Colleges‹ bekannt sein, um die Stärke der Opposition zu verstehen, die dagegen gemacht wird; eine Opposition, an deren Spitze die Geistlichen stehen, die falschen Freunde der Frauen zu allen Zeiten, die ihre Autorität und ihren zu großen Einfluß von jeher mißbrauchten; eine Opposition, die in jeder Familie hervorgerufen wird durch den Geist des Monopols unter den Männern. »Unsere jungen Männer lieben die ›Colleges‹ nicht, sagte mir kürzlich eine Dame, welche kam, um das unsere zu sehen, aber ohne ihre Töchter, weil das ›eine zu offene Nichtachtung der Meinung ihrer Brüder‹ gewesen wäre. – Ja die Opposition ging so weit, daß es eine Zeitlang in Frage stand, ob wir die Sache aufgeben oder mit allen erdenkbaren Opfern dafür fortkämpfen sollten. Wir entschieden uns für das letztere.«

Zu dieser trefflichen Frau führte ich auch Mrs. Bell, und sie wurde von ihr auf das wohlwollendste aufgenommen und beraten. Sie entschied sich auch für eins der »Colleges«, dem eine Pension beigesellt war, und wo auch ihrem Einfluß noch ein Feld übrig blieb, da sie die Tochter dort öfter hätte sehen können. Mit diesem Vorschlag trat sie in der Familie hervor, indem sie zugleich ihrem Mann erklärte, daß sie, wie sie immer gesagt habe, selbst das Haus verlassen würde, sobald ihr Kind es verlasse, weil dieses das einzige Band sei, das sie noch an dasselbe binde. Ihr ward nur Hohn zur Antwort. Das Kind in eins der Colleges, in diese von »fremden Ideen« durchdrungenen Anstalten zu geben, sei außer aller Frage; man habe bereits eine in jeder Beziehung »respectable« Erziehungsanstalt gewählt, und die Schmach, das Haus zu verlassen, würde sie sich doch wohl selbst nicht antun, da es in England die höchste Schande für eine Frau sei, das Haus zu verlassen, und die Schuld davon unwiderruflich auf die Frau zurückfalle. Mrs. Bell kam in Verzweiflung zu mir; die Pension, die man genannt hatte, war gerade eine von jenen, in denen am meisten die oben beschriebenen Gesichtspunkte herrschten und die ihr darum einen unausbleiblichen Geistestod für ihr Kind in Aussicht stellte. Dazu fühlte sie es als absolute Notwendigkeit, aus dem Haus zu gehen, wenn das Kind fort sei. In dieser Hölle allein fortzuleben war auch für sie, physisch und moralisch, der Tod. Wir überlegten, tief bekümmert, was zu tun wäre. Endlich beschlossen wir, zu einem alten Advokaten zu gehen, demselben, der einst ihren Ehekontrakt gemacht hatte. Sie kannte den Kontrakt nämlich nicht, da sie bei Schließung ihrer Ehe noch so jung und gänzlich unerfahren alles mit sich hatte machen lassen, was die Herren ihres Schicksals wollten. Sie hatte nie selbst über Geld zu verfügen gehabt, wußte nicht, welche Mitgift ihr der Vater ausgesetzt hatte, da alles in die Hände des Mannes gegeben worden war, der ihr nach seinem Gutdünken kleine Summen gab. Nun hatte sie aber in Erfahrung gebracht, daß sie vom Advokaten Kenntnisnahme des bei ihm niedergelegten Kontrakts und eine Abschrift fordern könne. Wir beschlossen also, uns wenigstens zu versichern, welches ihre äußere Lage sei, und ob sie auf irgendeine Unabhängigkeit in pekuniärer Beziehung rechnen dürfe. Der Alte empfing uns zwar mürrisch, konnte aber, was gesetzlich war, nicht verweigern und machte uns demnach mit dem Inhalte des Kontrakts bekannt. Mrs. Bell ersah daraus, daß ihr eine jährliche Rente ausgesetzt war, die zwar im Verhältnis zu dem, was sie als einzige Tochter und Erbin zu erwarten gehabt hätte, gering war, aber doch hinreichte, ihr eine bescheidene Unabhängigkeit zu sichern. Eine legale Abschrift des Kontraktes wurde ihr auch zugesagt. Das war aber auch der einzige Trost, den wir erhielten, denn der alte knöcherne Gesetzesmann verneinte mit eisiger Ruhe alle anderen Fragen wegen etwaiger Rechte auf das Kind. Er schloß endlich mit dem positiven Ausspruch: »Sie haben absolut gar keine Rechte Ihrem Manne gegenüber; nicht nur, daß er über das Kind nach seinem Gutdünken verfügen kann, sondern er kann auch Ihr Vermögen nehmen, ja sogar, wenn Sie selbst etwas erwerben, und er will es, so kann er kommen und es in Beschlag nehmen.«

Erstaunt, betroffen, von Schmerz durchdrungen vor der Ungeheuerlichkeit solcher Gesetze und einer Gesellschaft, die ruhig unter solchen Gesetzen lebt, saßen wir eine Weile schweigend im Wagen, der uns unserem fernen Stadtviertel (wir bewohnten beide dasselbe) zuführte. Aus der gänzlichen Hoffnungslosigkeit der Situation heraus aber überkam uns beide plötzlich ein Anfall ausgelassenen Humors, der ja überhaupt die Blüte ist, die auf dunklem Grunde sprießt und von dem eine starke Beimischung in Mrs. Bells phantasievoller Künstlernatur war. Wir entwarfen den Plan einer zu stiftenden Gesellschaft der Elenden (association of miserables), bestimmten den Grad des Elends, der zur Aufnahme befähige, und verfolgten dies Projekt bis in die kleinsten Einzelheiten in so drastischer Weise, daß wir zuletzt bis zu Tränen lachen mußten und uns in der Stimmung ironischester Weltvernichtung trennten.

Es vergingen mehrere Tage, ohne daß ich etwas von ihr hörte; dann aber erschien plötzlich ihr Mädchen, die ihr sehr ergeben war, und brachte mir einen Zettel, auf dem mit Bleistift geschrieben stand: »Man hält mich im Haus gefangen, möchte mich für wahnsinnig erklären; wenn Sie können, gehen Sie zu Ashurst, daß er zu meiner Hilfe herbeikommt.«

Aufs äußerste erschrocken, fragte ich das Mädchen, was vorgefallen sei; die konnte mir aber nur sagen, daß am Abend vorher eine heftige Szene zwischen Mrs. Bell und ihrem Mann stattgehabt hatte, daß Herr Bell infolgedessen seine Frau in ihrem Zimmer eingeschlossen, das Kind von ihr entfernt und einen Arzt gerufen hätte, aber nicht den gewöhnlichen Hausarzt. Ich bedachte mich nicht lange, eilte zu Ashurst, jenem Advokaten, der sich so wohlwollend gegen Mrs. Bell gezeigt hatte, und forderte ihn auf, tätlich als ihr Anwalt einzuschreiten. Dann irrte ich um ihr Haus herum, sah zu den Fenstern ihres Schlafzimmers hinauf, das im obersten Stock lag, und dachte der Armen, die dort allein saß, in ein heißes Zimmer eingeschlossen, bei einer für England ungewöhnlich brennenden Frühlingssonne, und in Empfindungen versenkt sein mußte, die sie, bei einiger Dauer solchen Zustandes, wohl hätten zum Wahnsinn treiben können. In das Haus zu gehn konnte ich nicht wagen; erstens wurde niemand bei ihr vorgelassen, und dann haßte mich die Familie bereits gründlich, weil ich, als Fremde, wie sie meinten, Mrs. Bell noch in ihren Irrtümern bestärke. Am folgenden Morgen kam das Mädchen wieder; es war ihr abermals gelungen, unter einem Vorwand das Haus zu verlassen, um mir einen Brief zu bringen, den ihre Herrin in der Nacht geschrieben hatte und worin sie mir das Vorgefallene erzählte. Es war ihr also angekündigt worden, daß das Kind in wenigen Tagen in die ihr verhaßte Pension gebracht werden würde. Der furchtbare Abscheu, den sie vor dieser Erziehung empfand, der Gedanke, sich vom Kinde zu trennen, von dem einzigen, was sie noch im Leben hatte, ergriff sie mit verzweiflungsvollem Schmerz, und sie beschloß, einen letzten Versuch zu wagen. Sie ging abends in das Zimmer ihres Mannes und beschwor ihn, ihr das Kind zu lassen, mit ihr und dem Kinde das unselige Haus der Eltern zu meiden und aufs neue eine eigene Häuslichkeit zu gründen, in der das Kind und die Sorge für seine Zukunft das gemeinsame Band zwischen ihnen sein solle. Sie bat und flehte, ja sie warf sich ihm zu Füßen; er aber sprang auf, klingelte heftig, befahl den Arzt einer Privatirrenanstalt zu rufen und schloß die natürlich in äußerster Aufregung sich Befindende ein. Eugenie wußte, was das bedeute; es war nicht das erstemal, daß sich ein Fall der Art in England ereignete, daß man ein Mitglied der Familie, dessen man sich entledigen wollte, in eine Irrenanstalt brachte, und daß gewissenlose Ärzte solcher Privatanstalten sich dazu hergaben, ein Zeugnis von Geistesverwirrung auszustellen, auf das hin die Gesunden als Kranke in ihre Anstalt gebracht und dort oft erst zu Kranken wurden. Ungefähr um dieselbe Zeit hatte sich ein solcher Fall mit einer Notabilität Englands ereignet, der natürlich viel von sich reden gemacht hatte. Sir Henry Lytton Bulwer, der bekannte Romanschriftsteller, hatte seine Frau in ein solches »lunatic asylum« gesteckt, aus dem sie aber bald entlassen werden mußte, da von anderer Seite eingeschritten und ihre geistige Gesundheit bewiesen wurde. Dieses gräßliche Schicksal bedrohte also auch Eugenie, und es hätte sie wahrscheinlich wirklich zum Wahnsinn geführt nach all dem bittern Elend, das sie erlebt hatte. Herr Ashurst begab sich nach dem Hause, wurde aber mit dem Bescheid abgewiesen, Mrs. Bell sei krank und könne niemand sehen. Er beriet sich mit einem der ersten Rechtsgelehrten Londons und ging am folgenden Tag wieder hin, um im Namen des Gesetzes, als legaler Anwalt Mrs. Bells, Einlaß zu verlangen. Zum Glück waren die Großeltern und Mr. Bell eben außer dem Hause, da sie das Kind, ohne es von der Mutter haben Abschied nehmen zu lassen, in die Pension begleiteten. Herr Ashurst wurde also von dem getreuen Mädchen ohne weiteres zu Eugenien geführt, hatte Zeit, sich mit ihr zu besprechen und Maßregeln zu verabreden. Die andern kehrten zurück, während er noch da war. Herr Bell trat wütend in das Zimmer und fragte, mit welchem Rechte er sich bei seiner Frau befände. Ashurst erwiderte ruhig: Mit dem Rechte ihres Anwalts, verließ Eugenie und begab sich zu den Eltern, wohin Bell ihm folgte. Hier nun versuchte Ashurst in edelster Weise an die menschlichen Gefühle zu appellieren, verhehlte nicht, daß Eugenie wisse, daß sie die Tochter einer anderen Frau sei, und gab zu bedenken, wie natürlich es sei, daß diese Entdeckung sie noch mehr entfremdet habe, als es die ungerechte Opposition gegen ihr eigenstes Denken und Fühlen bereits getan hatte. Die Aufdeckung dieser Tatsache wurde mit großer Betroffenheit aufgenommen, aber nicht geleugnet. Alle übrigen Argumente Ashursts blieben jedoch fruchtlos. Er sah sich also genötigt, im Namen des Gesetzes zu verlangen, daß eine Konsultation stattfinde von zwei der ersten Männer der medizinischen Fakultät, um in einer längeren Unterredung mit Eugenien deren Geisteszustand zu beurteilen. Es mußte, wenn auch noch so unwillig, zugestanden werden. Ashurst ging das Nötige zu besorgen, nachdem er mir zuvor die Beruhigung gegeben hatte, daß soweit alles geschehen und für den Augenblick nichts weiter zu fürchten sei. Am darauffolgenden Tage reisten die Eltern Eugeniens ab, da in Schottland gerade die Zeit der Salmfischerei begonnen hatte und Eugeniens Vater dieses wichtige Geschäft nicht versäumen konnte, selbst in dem Augenblick nicht, wo sein einziges Kind vor einer so furchtbaren Entscheidung stand. Wahrscheinlich wollte er den unangenehmen Dingen, die noch bevorstanden, entgehn und überließ es Herrn Bell, diese zu Ende zu führen. Eugenien gab dies herzlose Verlassen den letzten Stoß und löste sie für immer von jenem, der ihr das Leben gegeben, es aber auch zu einer so schweren Prüfung für sie gemacht hatte. Den Tag darauf erschienen die zwei ersten Ärzte Londons, denn das Gesetz will, daß immer zwei zu gleicher Zeit einen solchen Fall beurteilen. Sie hatten eine mehrstündige Unterhaltung mit Eugenien, hauptsächlich über religiöse Dinge, da dahin die Hauptanklage der Verwandten gerichtet war. Sie suchten sie durch allerlei Kreuz- und Querfragen zu überraschen und zu verwirren. Eugenie aber, fühlend, daß es sich um Tod und Leben handle, nahm ihre ganze Geisteskraft zusammen und antwortete so schlagend, so logisch, so gewandt, daß die Herren endlich mit dem Bekenntnis aufrichtigster Hochachtung von ihr schieden und dem unten harrenden Herrn Bell die Erklärung abgaben, daß seine Frau nicht nur geistig völlig gesund, sondern ungewöhnlich begabt und bedeutend sei. Die Doktoren wollten zu Eugenien zurück und ihr das Verdikt ankündigen, aber Herr Bell sagte, er selbst werde das tun, und entließ sie. Dann ging er zu seiner Frau und sagte ihr: »Du bist frei, ich kann dich nicht halten; so geh nur und sinke tiefer und tiefer!« Dies war der Abschiedsgruß, der sie aber kaum noch verletzte, neben dem Glück frei zu sein. Noch am selben Tage verließ sie das Haus der Qual, nahm nur ihre Garderobe und kleinen persönlichen Besitztümer mit sich und kam vorläufig in ein Zimmer, das sich gerade in dem Hause, wo ich lebte, leer fand. Mein kleines Wohnzimmer teilte ich mit ihr, und wir nahmen unsere Mahlzeiten gemeinschaftlich ein. Ich sah mit wahrer Bewunderung, wie freudig die an äußeren Komfort Gewöhnte sich in die beschränkte Einfachheit dieses Lebens fand, und wie das Gefühl, nun ohne Widerstand ein Leben geistiger Entwicklung führen zu können, sie hinaushob über alles persönliche Unglück, ausgenommen natürlich die Trennung von ihrem Kinde. Diese lastete schwer auf ihrem Gemüt, da man ihr verweigerte, die Tochter zu sehen, und sie nur durch das Mädchen Nachricht von ihr erhielt und eine Botschaft zu ihr gelangen lassen konnte. Endlich wurde ihr das unerträglich, und sie beschloß, mit Ashursts Zustimmung, vor Gericht zu gehen und sich den Zutritt zu ihrem Kinde zu sichern. Zu völliger Scheidung waren keine legalen Gründe da; auch war damals noch nicht das neue Scheidungsgesetz im Parlament durchgegangen, durch das die früher nur mit enormen Kosten und daher nur für die Reichsten zu ermöglichende Ehescheidung auch minder Begüterten möglich gemacht wurde. Es blieb ihr daher nur übrig, Trennung von Tisch und Bett und den Zutritt zu ihrem Kinde zu fordern. Die peinlichen Tage der Gerichtsverhandlung kamen. Ich entließ die arme Eugenie mit schwerem Herzen, denn ich wußte, welche Aufgabe es für sie war, die furchtbare Geschichte ihres Lebens vor fremden Männern zu erzählen – noch dazu vor Engländern, denen die Art ihres Kampfes und ihre Entfremdung von den herrschenden Ideen in Religion und Gesellschaft selbst im besten Fall als eine Verirrung des Geistes erscheinen mußte. Zum Glück waren die Verhandlungen privat, im Kabinett des Lord-Kanzlers, der ein äußerst wohlwollender Mann war. Jeder der beiden Gatten wurde besonders von ihm verhört. Eugenie erzählte mir, daß er während ihrer Erzählung Tränen in den Augen gehabt und sich wahrhaft väterlich gegen sie erwiesen habe. Dennoch war die Entscheidung eine ganz den englischen, für die Frauen so harten Gesetzen, gemäße. Zwar erhielt sie Erlaubnis, ihr Kind zu sehen, was wahrscheinlich die Folge des günstigen Eindrucks war, den ihr Wesen hervorgebracht hatte, aber nur ein einziges Mal die Woche, und dann nur zu der Stunde und für die Zeitdauer, die Herr Bell bestimmen würde. So hart dies war, so war sie doch froh, wenigstens nicht ganz von dem Kinde geschieden zu sein. Auch hatte sie die Hoffnung, jetzt vielleicht besser auf sie einwirken zu können als früher, schon durch das Beispiel, daß eine Frau auch allein, in bescheidenen Verhältnissen, ohne eignes Haus und Dienerschaft, in einem »lodging« (einer Mietwohnung) ein achtungswertes Leben führen könne. Ferner hoffte sie, daß sie ihr ihre Anschauungen jetzt vielleicht unbedingter würde klar machen können. Ihre pekuniären Verhältnisse hatte Ashurst insofern genügend geordnet, als sie das ihr vom Vater im Ehekontrakt ausgesetzte Jahrgeld zugesichert erhielt. Der Mann gab ihr nichts, aber sie war entschlossen, mit jener für ihre bisherigen Ansprüche geringen Einnahme auszukommen, ja davon zurückzulegen für etwa kommende Notfälle, und auch so die Ihrigen Lügen zu strafen, die sie in Beziehung auf Geldsachen stets wie ein unmündiges Kind behandelt und ihr Hang zur Verschwendung vorgeworfen hatten. Sie mietete in meiner Nähe eine kleine Wohnung, richtete ihr Leben in streng geordneter Weise ein, umgab sich mit Büchern, deren sie nun so viele zu lesen hatte, und begann ihre Besuche bei ihrer Tochter, die jedesmal auf zwei Stunden und zu unbequemer Zeit festgesetzt waren. Sie unterwarf sich all den demütigenden Bedingungen ohne Murren, fest entschlossen, ihre Mutterpflicht, soweit die Verhältnisse es noch gestatteten, bis auf das äußerste zu erfüllen. Sie kam pünktlich zur gesetzten Zeit und blieb bis zur letzten Minute. Nichts hielt sie zurück, nicht Unwohlsein, nicht schlechtes Wetter. Verbittert wurde ihr auch dies karg zugemessene Glück durch die offenbare Beeinflussung des Kindes von Seiten der Familie und der Lehrerin, die in der Frau, die ihr Haus verlassen und gegen die Hochkirche sich aufzulehnen gewagt hatte, nur ein gefallenes Wesen sehen konnte; ferner durch die Wahrnehmung, wie sehr ihr Widerwille gegen das Pensionswesen recht gehabt hatte, und wie oberflächlich und nur auf den Schein gerichtet Unterricht und Erziehung in der Anstalt waren; endlich durch die traurige Gewißheit, daß das Kind sich mehr und mehr jener Welt zuneigen und von der ihren entfernen werde. – Aber dennoch wurde sie keinen Augenblick in dem Entschluß wankend, sich bis zur letzten Möglichkeit ihrer Aufgabe zu widmen und gegen das Verderben anzukämpfen.

In dieser Lage verließ ich sie in der Mitte des Sommers, um an der Meeresküste wieder etwas Erholung von dem angestrengten Arbeiten zu suchen. Sehr willkommen war mir der Vorschlag einer liebenswürdigen Landsmännin, mit ihr zusammen an die See zu gehen. Es war dies Sophie Klingemann, die Gattin von Karl Klingemann, der als hannövrischer Gesandtschaftssekretär schon seit langen Jahren in London lebte und in dortigen Kreisen als geistvoller, liebenswürdiger Ehrenmann und intimer Freund Mendelssohns bekannt war. Seine Gattin, Tochter eines Mannes, den ich hoch verehrt hatte, war mir in Deutschland als junges Mädchen bekannt und befreundet gewesen. Ich hatte die Jugendfreundin in London wieder aufgesucht und war in dem gastfreien, durch eine intelligente Geselligkeit ausgezeichneten Hause stets auf das freundlichste aufgenommen worden. Da Klingemann durch Geschäfte in der Stadt zurückgehalten war, fuhr ich mit Sophie, ihrem Kind und der Bedienung nach Eastbourne, einem kleinen, damals erst aufblühenden Seebadeort, der sich nur durch einen dem Baden günstigen Strand und durch die dort plötzlich steil, fast senkrecht aufsteigenden weißen Kalkwände der Klippen auszeichnet. Dort lebten wir ein paar Wochen still zufrieden miteinander, und das alte Jugendband wurde aufs neue ein recht liebevolles, obgleich unsere Lebensrichtungen ziemlich auseinander gegangen waren. Besondere Umstände nötigten Klingemanns aber, früher abzureisen, als sie gewollt, und so blieb ich allein zurück. Hatte ich in London angestrengt arbeiten müssen, um zu leben und mir den Sommeraufenthalt möglich zu machen, und hatte ich mich dort mit dem beschäftigen müssen, was am meisten Geld brachte, nämlich Übersetzungen aus dem Russischen und Journalartikel, sowohl für englische wie für deutsche Blätter, so erlaubte ich mir hier nun die Lust des freien Schaffens. Ich schrieb an einem Roman, der schon früher angefangen, aber vor der dringenden Arbeit zurückgelegt worden war. Täglich zog ich mit Büchern und Schreibzeug an das Meeresufer, setzte mich dort auf den Sand und schrieb, während die Welle sich zu meinen Füßen brach und ein großer Frieden der Einsamkeit mich umgab. Eines Tages saß ich auch so unterhalb des gemauerten Uferkais, mit dem Gesicht nach dem Meer gewandt und ganz in meine Arbeit vertieft, als plötzlich ein Regen von kleinen Steinchen um mich niederfiel. Verwundert sah ich in die Höhe nach dem Kai hin und gewahrte zwei Damen und einen Herrn, die oben standen, lachend nach mir heruntersahen und auf diese Weise meine Aufmerksamkeit herausgefordert hatten. Den Herrn hatte ich nur einmal, schon vor mehreren Jahren, näher gesehen und gesprochen, aber es war nicht möglich, ihn zu vergessen oder sich in der Persönlichkeit zu irren, wenn man ihm nur einmal begegnet war. Ich erkannte ihn auch augenblicklich wieder; es war Joseph Mazzini. Die beiden Damen waren Schwestern, aus jener englischen Familie, in der Mazzini eine zweite Heimat gefunden hatte und in der er gleich einem Heiligen verehrt und geliebt wurde. Beide waren verheiratet; ich hatte sie an einem Abend in Herzens Hause kennen gelernt, noch ehe ich selbst darin lebte. Seitdem hatte ich aber nur die eine, Emilie, wiedergesehen, die öfter in das Herzensche Haus kam und die ich auch nach meinem Scheiden aus diesem zuweilen besuchte, als sie eine Wohnung nahe der meinigen bezogen hatte. Sie war ein anziehendes Wesen, voll feinster Bildung, war Malerin von Bedeutung, und hatte das schönste Bild von Mazzini gemacht, das von ihm existierte, in dem sich sein Wesen am besten aussprach. Was sie aber mehr als alles andere interessierte und beschäftigte, das waren die italienischen Angelegenheiten, eine natürliche Folge des Umgangs mit dem von der ganzen Familie so hoch geliebten und verehrten Freund. Sie hatte mich vom Anfang unsrer Bekanntschaft an sehr angezogen, und ich freute mich, als ich öfter Gelegenheit hatte, sie zu sehen und manchen gemütlichen Abend bei ihr zuzubringen. Bei ihr machte ich auch die Bekanntschaft von Jessie White, jenem energischen, mutigen, geistvollen Mädchen, die sich später einen Namen in der Geschichte des italienischen Befreiungskrieges durch Garibaldi machte und schließlich durch Heirat mit einem Italiener Italien zur Heimat erkor. Emilie Hawkes war es denn auch, die mich dort in Eastbourne am Strande erkannt und den andern genannt hatte. Ihre Schwester Karoline, eine sehr hübsche Frau, der ich bis dahin noch nicht näher getreten war, forderte mich auf, sie zu besuchen, und lud mich gleich, um jeden formellen Besuch überflüssig zu machen, für den folgenden Tag zum Essen ein. Sie war mir nicht so anziehend wie Emilie, und es tat mir fast leid, in meiner Einsamkeit gestört zu werden, doch konnte ich die Einladung nicht abschlagen und ging also hin. Auch bereute ich es nicht, denn die ganze Gesellschaft bestand aus den zwei Schwestern, Mazzini und mir. Ich hatte demnach volle Gelegenheit, den Mann kennen zu lernen, dessen Namen die Tyrannen zittern machte und den alle, die ihn näher kannten, schwärmerisch liebten und verehrten. Seine äußere Erscheinung rechtfertigte die Furcht nicht, die er seinen Feinden einflößte. Er hatte nichts von jenem kühnen, stolzen Typus des Condottiere, den Orsini besaß. Die Haltung seiner feinen, magern, mittelgroßen Gestalt hatte etwas Bescheidenes, fast Gedrücktes, sein Kopf, mit den edlen, geistvollen Zügen und der gedankenvollen Stirn, war der eines Philosophen und Weisen. Nur aus den wunderbar schönen, dunklen Augen blitzte es zuweilen gewaltig auf und verriet die Flamme der Tat, die in seiner Seele brannte. Er sprach geläufig englisch, doch mit dem südlichen, singenden Akzent, der der unmelodischen Sprache etwas Anmutiges gab. Emilie Hawkes, die mich immer wegen des von ihr gehaßten Materialismus, zu dessen Anhängern sie mich zählte, halb im Scherz, halb im Ernst angriff, brachte das Gespräch gleich auf dieses Thema und bat Mazzini, mir seine Weltanschauung auseinander zu setzen. Dies tat er in der liebenswürdigsten Weise. Er geriet dabei in das Feuer dessen, der eine absolute Wahrheit auszusprechen meint und andere auch von dem unfehlbaren Dogma überzeugen möchte. Der Urgrund alles Seins war für ihn ein geistiges Prinzip, das er Gott nannte und aus dem die Ideen des Guten, Schönen, Wahren als eingeborne Ideen uns mitgegeben seien. Die Perfektibilität der Welt war sein Dogma, und die Arbeit daran war die Pflicht des Menschen und dessen Lebensaufgabe. Er verglich das Leben mit einer um einen hohen Berg herum laufenden Spirale; von jedem höheren erreichten Punkte aus ließ sich ein größerer Teil des zurückgelegten Wegs übersehen; erst auf dem Gipfel aber war das Ganze zu überschauen und wurde der volle Begriff von Grund, Zweck und Ziel des Daseins klar. Wenn man will, so war sein Standpunkt insofern noch ein katholischer, als ihm Glaube ohne Werke nichts war, und hätte er die Bibel übersetzen sollen, er hätte sicher gesagt: »Im Anfang war die Tat.«

Ich war damals theoretisch noch in der positivistischen Richtung befangen, die sich bei mir, vielleicht als Reaktion gegen den unbestimmten suchenden Idealismus meiner Jugend, besonders seit der Hochschule zu Hamburg und der dort gemachten näheren Bekanntschaft mit den Naturwissenschaften Bahn gemacht hatte. Mein Empfinden zwar widersprach dieser Richtung eigentlich auf Schritt und Tritt, und ich ertappte mich hundertmal, aus der Welt der positiven Tatsachen heraus, auf dem Fluge ins Gebiet der metaphysischen Hypothese. Ich diskutierte eifrig mit Mazzini, und es wurde spät, ehe unser Kreis auseinander ging. Aber wir schieden mit dem mir abgenommenen und von mir freudig gegebenen Versprechen, uns oft wiederzusehen, auch später in London, wo zum Glück meine Wohnung nicht allzufern von der Karolinens lag, in deren Nähe auch Mazzini wohnte.

Große, bedeutende Menschen können nicht in unser Leben eintreten, ohne eine tiefe Spur darin zurückzulassen; ja es wäre sogar traurig, wenn es anders wäre. Es ist damit keineswegs gesagt, daß wir unsere Persönlichkeit aufgeben oder uns ihnen blindlings unterwerfen sollen. Aber wie die Pflanze an den Strahlen der Sonne wächst und reift, so wird auch die eigene Persönlichkeit wachsen und reifen, indem sie sich an der größeren mißt und von ihrem Lichte so viel als möglich aufnimmt. Wenn Mazzini auch eine von der Herzens völlig verschiedene Natur war, so fühlte ich doch, wie ich es damals bei Herzens Bekanntschaft gefühlt hatte, daß der Durchgang dieses Gestirns durch mein Leben mich zwar nicht aus meiner Bahn bringen, wohl aber eine tiefe Anziehungskraft auf diese ausüben würde.

Ich kehrte kurz nach jenem ersten, schönen Zusammentreffen nach London zurück, da es nottat, daß ich mich wieder an die Geld bringende Arbeit begab. Bei Herzen machte ich Besuch und fand ihn im Begriff, nach Manchester zu gehen, wo eine Gemäldeausstellung alter und moderner Bilder stattfand, zu der aus allen Teilen Englands, aus öffentlichem und Privatbesitz, das Beste geliefert wurde, was dies reiche Land besitzt, das sich aus allen Ländern das Beste zusammenzutragen gewußt hat. Zu meiner großen Freude erhielt ich von Madame Schwabe, mit der ich immer in Verbindung geblieben war, eine Einladung, sie in Manchester zu besuchen, um die Ausstellung zu sehen, und dann für einige Wochen mit ihr nach dem Norden von Wales auf ihr schönes Landgut zu gehen, wo ich schon im ersten Sommer meines englischen Aufenthalts eine so angenehme Zeit verlebt hatte. Noch ehe ich ging, kam Herzen zurück und schrieb mir vor meiner Abreise:

»Ich bin sehr zufrieden mit der Manchester-Ausstellung; der Reichtum des Vorhandenen, das Lokal, die Abwechslung ernster Musik mit den Bildern. – Alles das gibt eine tiefe Ruhe und einen großen Genuß. Der künstlerische Epikuräismus ist der einzige Hafen, das einzige Gebet, das wir haben, um auszuruhen. Murillo beherrscht alles. Beachten Sie, außer der Madonna, eine Frau, die aus einem Kruge trinkt, und einen kleinen Knaben mit Schafen. Rembrandt, Van Dyck und Rubens sind sehr gut repräsentiert, Van Dyck besonders in großer Fülle. Ich habe mich Rubens etwas genähert, betrachten Sie besonders sein herrliches Bild der Königin Thamary.

Vergessen Sie nicht Ruysdael, Van Kuyp und die andern großen Landschaftsmaler der Niederländer zu studieren. Übergehn Sie Ihre alten Deutschen, ausgenommen das Porträt des Vaters von Albrecht Dürer.

Gehen Sie gar nicht in den Saal der modernen Malerei, ober wenigstens nur, um die Porträts von Reynolds zu sehen, z. B. Garrick und seine Frau.

Vergessen Sie auch nicht, eine kleine Geliebte anzusehen, die ich in der Ausstellung habe, keine Aristokratin vom Pinsel Raffaels oder Murillos, sondern eine Sigismonda von Furini.

Die russische Völkerwanderung setzt sich fort. Ein Gardekapitän ist ganz militärisch gekommen und sagte: ›Da ich in London war, hielt ich es für meine Pflicht, mich vorzustellen.‹ Sie können denken, daß ich gleich den Ton eines Generals annahm.

Alles hier grüßt Sie freundlichst.

»P. S. Ich bitte sehr, übergehn Sie nicht die Porträts von Velasquez.« –

Was mir die Reise noch erfreulicher machte, war der Umstand, daß Kinkel und Johanna, die auch zur Ausstellung wollten, mit mir fuhren. Der Weg wurde so in heiterster Weise zurückgelegt, und in Manchester trennten wir uns mit dem Versprechen, uns jeden Tag in der Ausstellung zu treffen. Im Hause von Madame Schwabe wurde ich wieder freundlichst empfangen. Sie war inzwischen Witwe geworden, aber ihr gastliches Haus vereinigte noch wie früher Gäste aus allen Ständen und Ländern, und zwischen diesen fanden sich stets einige hervorragende Persönlichkeiten, denen zu begegnen angenehm war. Die schöne Art der englischen Gastfreundschaft, dem Gaste, neben allem Komfort des häuslichen Lebens, die volle Freiheit zu geben, seine Zeit anzuwenden, wie es ihm gefällt, ließ auch mir den vollen Genuß der Ausstellung auf meine Art, und indem ich mich da jeden Morgen mit Kinkels zusammenfand und zum Teil mit ihnen die Kunstwerke besah, wurden es Stunden reiner künstlerischer Freude, die ein gemeinschaftliches Frühstück im Restaurant der Ausstellung auf das heiterste unterbrach.

Diese Ausstellung war einmal eine von jenen gelungenen Unternehmungen, bei denen nicht bloß der Gesichtspunkt der Massenanhäufungen herrschte, der jetzt in jedem Gebiet des Lebens das Charakteristische der Zeit ist. Ein wirklich ästhetischer Sinn hatte bei der Anordnung vorgewaltet. Es war eben nur die Kunst, nicht auch die Industrie, auf die es hier abgesehen war. Das Lokal, eigens dazu erbaut, war ebenso schön als zweckmäßig eingerichtet, um dem ungeheuren Übelstand gewöhnlicher Galerien so viel als möglich zu entgehen, wo sich alles, auch das Heterogenste, das Mittelmäßige und Schlechte, neben dem Besten bunt durcheinander findet, eins dem andern schadet und der unbedeutende Nachbar einem die Ruhe nimmt, das Große, das isoliert sein sollte, würdig zu genießen. Es war alles streng nach Schulen geschieden, und jeder der großen Meister hatte seinen Saal für sich, wo man mit ihm allein war und ihn in den verschiedenen Phasen seines Genius beobachten konnte. Hier sah man erst, wie viel der Reichtum Englands den Ländern entführt hat, in denen die Kunst ihre Heimat hatte – leider zumeist der Privatreichtum, der also all das Kostbare in den Palästen und Landhäusern der Reichen verbirgt. Zu dieser Ausstellung hatten jedoch alle in liberalster Weise, was sie besaßen, zum allgemeinen Genuß gesandt. Wie schon Herzen mir geschrieben hatte, so war es Murillo, der aufs reichste vertreten war und dessen Bilder allein ein großes Gemach füllten. Ich lernte zum erstenmal die spanischen Maler wirklich kennen und war erstaunt über den tiefen nationalen Charakterzug, der durch sie und ihre Dichter geht. Neben einer wunderbaren Realistik, die uns gleichermaßen in Murillos Bettelknaben, in Velasquez' Fürsten und Granden, wie in Calderons und Lope de Vegas Gestalten mit lebenswarmer Wirklichkeit entgegentritt – überall glühende, fanatische Innerlichkeit, dämonische Ironie, zauberhafter, berauschender Duft der Poesie, der aber, wie der Giftbaum der Wilden, etwas Tödliches in sich hat. So steigert sich der Begriff der Ehre bis zum wahnsinnigen Dogma, so glüht die verzückte, zur Ekstase gesteigerte Andacht der Heiligen, so sprüht dämonisch aus den dunklen Feuerblicken Zurbaranscher Mönche die Leidenschaft der Askese. Man begreift es, wie in dem Lande solcher Künstler, solcher Dichter die Inquisition entstehen konnte und Feuer und Schwert die Waffen der Religion werden mußten.

Ich vergaß auch nicht die kleine Geliebte Herzens aufzusuchen, ein wunderbar liebliches Mädchenantlitz, dessen Ausdruck eine ganze Geschichte von Seelenschönheit, Güte und tragischen Schicksalen erzählte.

Kinkels verbrachten einen Abend im Hause von Madame Schwabe, wo Johannas Spiel alle Welt entzückte. Dann kehrten sie nach London zurück. Im Hause, wo ich weilte, war aber ein buntes Getreibe und so viel Geselligkeit, daß es mir zu viel war. Ich schrieb dies an Johanna, der ich eines Auftrags wegen schreiben mußte. Sie antwortete mir einige Tage darauf:

»Und hinter ihnen schloß im Nu
Des Glückes stille Pforte zu.«

»Uns ging es im Gemüte just wie Dir. Gleich hinter dem heitern, beruhigenden Kunstgenuß kam der wirre Strudel. Nach drei Stunden in London war es, als ob die Räder das Gehirn gefaßt hätten und es in tollem Schwünge umher trieben. Wie uns in den letzten Tagen die Menschen geplagt haben, das ist über alle Begriffe; man kann eben in London seines Lebens nicht froh werden, wenn man nicht die Haustüre dreifach verrammeln darf. Preise Dein Geschick, wenn Du für einige Zeit in einer fremden Familie ein Asyl gefunden hast. Ein abgeschlossener Kreis reißt doch nie so viele Stücke von unserer Individualität ab, als wenn die ganze Welt ihr Recht an uns geltend macht. Anfangs, so lange man in einem neuen Hause selber was Neues ist, mag vielleicht mehr von einem gefordert werden, aber da, wo viele neue Gestalten ab und zu strömen, solltest Du doch, glaube ich, endlich eine Abgrenzungslinie erobern können.

Hast du gelesen, daß wir eben um einen Tag vor dem großen accident die »Sheffield Line« passiert haben? Wären wir nun vorsehungswütig, so würden wir ein stolzes Gefühl haben, daß gerade wir Nixnütze gerettet wurden, indem minder Begnadigte daran mußten. So bleibt uns nichts als die Demut vor dem Zufall.

»Hast Du die Intrigue in Stuttgart beachtet, wie sie die Kaiserin Eugenie blamiert haben? Was denkst Du davon? Solche dumme Späße werden zuweilen die Weltgeschichte.

Laß uns oft von Dir hören. Ich bin Dir hier zu allen Diensten bereit.

Leb' wohl, Du Liebe, Gütige!
Von ganzer Seele

Deine Johanna.«

In Wales angelangt, gestaltete sich das Leben angenehmer als in der geräuschvollen Geselligkeit in Manchester. Der Herbst war schön und gestattete den Genuß der herrlichen Umgegend. Mehrere interessante Menschen waren bleibende Gäste des Hauses, andere kamen ab und zu. Unter den ersteren befand sich der Kunsthistoriker Professor Anton Springer mit seiner schönen Frau und drei engelhaften Kindern, deren Umgang mir für Geist und Gemüt gleiche Befriedigung gab. Dazu kam ein Freund Springers, ein junger Maler, namens Jaroslav Czermak, wie Springer Czeche von Geburt, eine selten liebenswürdige, schöne Natur. Zwischen ihm und mir legte gegenseitige Sympathie dort den Grund zu einer Freundschaft, die sich später fest und dauernd entwickeln sollte. Auch ein junger schwedischer Musiker, ein vertrauter Schüler Chopins, verweilte längere Zeit dort und erfreute uns durch sein geistvolles Spiel Chopinscher Kompositionen. Dann erschien, wenn auch nur flüchtig, eine Frau, deren Ruf seit kurzem ganz England füllte. Es war dies Mrs. Gaskell, die Verfasserin von »Mary Barton«, dem Romane, der mit so ergreifender Wahrheit die Leiden und Entbehrungen der arbeitenden Klassen in den Fabrikstädten schildert, daß selbst englische Staatsmänner, wie z. B. Richard Cobden, auf das tiefste von der Lesung desselben ergriffen worden waren. Mrs. Gaskell war die Frau eines Predigers in Manchester; obgleich hoch gebildet, hatte sie doch früher nicht daran gedacht, als Schriftstellerin hervorzutreten. Der grenzenlose Schmerz um den Verlust ihres einzigen Sohnes trieb sie für einige Monate in eine totale Zurückgezogenheit von der Welt. Als sie wieder daraus hervorging, hatte sie diesen trefflichen Roman geschrieben, in dem sie ihr eigenes Weh ausströmte in dem Weh der Tausende, die im Frondienst des Lebens ein so schweres Joch tragen, daß es die edelsten Naturen zerbricht oder zum Verbrechen treibt. Leider war meine Begegnung mit ihr zu kurz, um mir andres als einen schönen Eindruck edelster Weiblichkeit zu hinterlassen.

Die zwei Monate meines Aufenthalts in Wales hatten mich geistig und körperlich gestärkt. Ich nahm bis spät in die Jahreszeit hinein Seebäder und war beinahe den ganzen Tag im Freien, in der erfrischenden Seeluft. Endlich mußte aber doch geschieden sein, und Madame Schwabe selbst brach auf. Sie, Springers, Czermak und ich fuhren zusammen nach London. Als wir in den großen Nordbahnhof einfuhren, in dem die unzähligen Gasflammen trüb und durch den Nebel schienen und das Gebraust der Weltstadt uns entgegentönte, sagte ich lachend zu meinen Gefährten: »Es ist ganz, als ob man in den Rachen eines Ungeheuers einführe – es ist ein abscheuliches Produkt der Zivilisation, und doch umstrickt es uns mit Basiliskenzauber und wir können's nicht entbehren.«


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