Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Ein römisches Idyll

Wenn man sich in Rom da sein Nest gebaut hat, wo die Fülle des Malerischen und charakteristisch Römischen noch nicht durch die moderne Bau-Invasion verdorben ist, so kann man noch römische Idyllen erleben, die an jene unvergeßlich schöne Zeit erinnern, wo Rom, wie ein Märchen aus alten Tagen, wie eine von der rollenden Zeit vergessene, zaubervolle Sage, inmitten der modernen Welt dalag, ein Ort zur Beschaulichkeit und zum Träumen geeignet, wie kein anderer in der Welt. So ist wirklich mein Nest.Leider nun auch durch Neubauten verdorben. Anm. d. Verf.

Rings um mich bauen sich jene großartigen Trümmerfelder auf, über denen die Weltgeschichte wie mit ausgebreiteten Flügeln zu schweben scheint, ein melancholisches memento mori für die Gegenwart, während die sich ewig erneuernde Natur mit ihrem tröstenden Grün reizvoll die zerfallenden Mauerwerke überzieht. Da ist das Forum, der Palatin, das Kolosseum, und in der Ferne blaut die sanfte Linie des Albanergebirges. Will man nun an diesen herrlichen Frühlingstagen einen Spaziergang in der Morgenfrühe machen, so hat man zu wählen zwischen so vielem Schönen. Ich fange mit dem Platz S. Pietro in Vincoli an, der auch neben meiner Wohnung liegt. Es ist ein vornehmer Platz in seiner Abgeschlossenheit und Ruhe, auf der einen Seite die gleichnamige Kirche mit dem Haus der dazu gehörigen geistlichen Herren, gegenüber das Kloster der Maroniten, der Mönche vom Libanon, in deren Garten eine der größten Palmen Roms steht, hinter der man im bläulichen Duft in der Ferne die Acqua Paola auf dem Ianiculum und davor das Kapitol mit seinem Turm sieht. Die dritte Seite des Platzes ist von einem alten Palast begrenzt, der einst den Borgia gehörte. Die Mutter der Lucrezia wohnte dort, und er hat etwas Unheimliches durch eine dunkle Bogenwölbung, unter der eine steinerne Treppe in die tief unten liegende Straße führt. Unwillkürlich malt sich die Phantasie allerlei Schreckbilder aus von den dunklen Taten, die zur Zeit der Borgia unter diesem Bogen, zwischen den schwarzen feuchten Mauern, geschehen sein mögen; die Neuzeit aber hat sie entsühnt, indem das Gebäude dem polytechnischen Institut eingeräumt wurde. Die vierte Seite des Platzes ist von dem Garten der Maroniten voll herrlicher Bäume eingefaßt; es ist wenig Verkehr dort, immer gute reine Luft, und jetzt erfüllt ihn Duft der Orangenblüten aus dem Garten hinter der Kirche herwehend.

Es lohnt sich der Mühe, auf diesem schönen, stillen Platz wandelnd, den Tag zu beginnen. Hier stört den Morgenfrieden kein lautes Gewühl des Marktes, noch das dumpfe Gerolle schwerbeladener Karren, oder die ohrenzerreißenden Stimmen der Ausrufer von Zeitungen, Gemüsen, Obst und dergleichen. – Es sind nur gute, stille Beschäftigungen, die hier den Tag anfangen. Da schleicht ein altes Mütterchen herbei, tritt in die Kirche zum Gebet, um dann die Last des Alters am Tag leichter zu tragen. Ein junges Mädchen geht auch dahin, vielleicht um von der Madonna Stärkung zur Arbeit oder Kraft, der Versuchung zu widerstehen, zu erbitten. Eben kommt ein alter Mann herbei, an jeder Hand ein kleines Enkelkind, und tritt in den heiligen Raum ein. Er kniet nieder, die Kleinen knien neben ihm, falten die Händchen und schauen mit großen, ernsten Augen hinauf zu dem Gewölbe der Kirche, als möchten sie den lieben Gott doch auch sehen, zu dem der Großvater sie beten lehrt und dessen Schutz er sie empfiehlt, denn sie sind Waisen und wer kann sagen, wie lange der greise Nonno noch für sie wird sorgen können. Mir scheint es, als ob über die Züge des gewaltigen Moses von Michelangelo – der in dieser Kirche seit drei Jahrhunderten sitzt und mit erhobenem Zorn auf die Menschheit schaut, die immer noch um das goldene Kalb tanzt, – als ob über die strengen, marmornen Züge ein menschliches Rühren flöge und der Zorn für Augenblicke dem unendlichen Erbarmen mit diesen stillen Betern Platz mache, die in der Not des Lebens keine andere Zuflucht wissen als zu der unsichtbaren Macht, die sie in Tempelhallen gegenwärtig glauben.

Vor der Kirche beginnt nun aber anderes Leben sich zu regen. Jünglinge der bürgerlichen Stände ziehen ernst und sittsam dem Polytechnikum zu, um ihren Studien obzuliegen. Von verschiedenen Seiten wandern Mütter oder Dienstmädchen herbei, um die kleinen Kinder zu den Kommunalschulen, deren sich einige in der Nähe befinden, zu führen; niemals gehen die Kinder, auch die ärmsten nicht, allein, immer ist ihnen die Begleiterin zur Seite, neben der sie verständig und artig einhergehen, ihre Schulbücher tragend, oft auch ein Sträußchen Blumen für die Lehrerin, da die freigebige Natur hier auch dem Armen so liebliche Aufmerksamkeiten möglich macht. Nun zieht aber etwas anderes, den Kindern freilich nicht zu Fernes, den Blick des still Wandelnden auf sich. In der dunklen Wölbung des Borgiabogens erscheinen plötzlich zwei Hörner, und nach ihnen der mächtig große Kopf eines Ziegenbocks, der gravitätisch, im stolzen Gefühl seiner Feldmarschallwürde, die steile Treppe erklommen hat; ihm folgt ein langer Zug von schwarzen, weißen, grauen Ziegen, die das finstere Gemäuer furchtlos passieren, um den gewohnten Weg gerade über den Platz in die gegenüber mündende Straße fortzusetzen. Hinter ihnen her kommt der Hirte, das zottige Fell an den Hosen, in der einen Hand den langen Stab, mit dem er die säumenden Tiere zum Marsche antreibt, in der anderen das Blechgeschirr, in das er vor den Häusern seiner Klienten die Milch melkt. Dies war alte römische Sitte und erinnert an patriarchalische Zustände vergangener Zeiten. Noch ist aber der feierliche Zug nicht ganz vorüber, da zieht von der tieferen Straße neben dem Maronitenkloster herauf ein neuer ebenso feierlicher Zug von lauter schwarzen, schönen Ziegen. Die ehrwürdigen Häupter des Zugs schreiten wacker voran und sind schon beinah, den ersten Zug kreuzend, über den Platz hinüber, als sie plötzlich gewahr werden, daß die jungen Zicklein stehen geblieben sind und sich neugierig nach dem Hirten umsehen, der unten an der aufwärts steigenden Straße angehalten hat und mit einer Frau spricht. Ob nun die Alten es nicht leiden mögen, daß die jungen Geschöpfe so vorwitzig sind und gleich wissen wollen, was sich für ihr Alter vielleicht noch gar nicht paßt – genug, sie machen Halt, und es beginnt ein gewaltiges Meckern, das crescendo heranwächst bis zu einem ganz gebieterischen Ruf. »Chiamano i figli« (sie rufen die Kinder) sagt neben mir ein alter Straßenkehrer, den ich jeden Morgen wegen seiner Sorge für die Reinlichkeit des Platzes lobe, mit solcher Innigkeit im Ton der Stimme, daß man sah, er wisse, was Vatersorge um das Wohl der Kinder ist. Nun kommen sie auch angetrabt, die jungen Schelme, und die Ehrwürdigen wenden sich zum Weitergehen, da jetzt auch der Hirte langsam schreitend naht. Auch er trägt die zottigen Hosen, die lange dunkle Jacke und hat den breitkrämpigen Hut tief auf die Stirn gedrückt und den langen Stab immer horizontal unter dem Arm, ein Zeichen, daß er gut und geduldig ist und ein hinkendes Tier, wenn es nicht recht fort kann, nicht gleich schlägt, wie es der andere Hirte tut. Wenn er an mir vorüberkommt, wirft er mir einen Seitenblick zu, und ein kleines Nicken des Kopfes bedeutet einen dankenden Gruß, da er sieht, wie ich seine schwarzen Ziegen bewundere.

Nachdem ich noch einem jungen Mädchen, das auf den Kirchenstufen sitzt und eifrig an einem Strumpfe strickt, guten Morgen gewünscht habe, wandere ich dem Wäldchen zu, das hinter dem Kolosseum seine grünen Schatten zum Schutz gegen die steigende Sonne bietet. Es wird so oft behauptet, der südliche Frühling komme dem im Norden nicht an Reiz gleich. Das können aber nur die sagen, die ihn nie ganz im Süden erlebt haben. Allerdings ist er nicht das Erwachen aus gänzlichem Tod, das langsame Sichbesinnen der Natur, daß sie den Menschen doch eine Entschädigung schuldig ist für die Entbehrungen des Winters; es ist vielmehr hier das freudige Symbol der unausgesetzten Schaffenskraft im Weltall, die neben dem dunkeln ernsten Laub der Bäume, das nie abstirbt, das frische jugendliche Grün oft in einer Nacht, wie mit einem Zauberschlag, hervorlockt, und den Strom des reichen Lebens verschwenderisch ausgießt in rasch entfalteten Blüten, gleich als wollte sie eisern gegen den menschlichen Wahn, daß es überhaupt Vernichtung und Tod gäbe, und es zur tröstenden Gewißheit machen, daß alles ewig ist.

Aber leider war das liebe Wäldchen, das mir so oft ein freundliches Asyl ist, heute gerade von den Rekruten besetzt, die in der Morgenfrische da eingeübt wurden, um das von niemand angegriffene Vaterland zu verteidigen und den immer von neuem proklamierten Weltfrieden, bis an die Zähne bewaffnet, glänzend zu beweisen. Zugleich machten die Trompeter des Regiments ihre Studien mit einem so ohrenzerreißenden Eifer, daß das grüne Paradies zur Hölle wurde, die ich mich beeilte zu verlassen. Da kam ich an der Kirche von San Giovanni und Paolo vorüber, die am Ausgang des Wäldchens neben einem Kloster der Passionisten liegt. Ich trat in die leere Kirche ein und in eine nie zuvor betretene Kapelle, wo gerade einer der Mönche kehrte und reinigte. Wieder wie in so vielen Kirchen Roms, war auch hier eine verschwenderische Pracht kostbarer Marmorarten angebracht, aber ehe ich mich noch recht umsehen konnte, bemerkte ich, daß der Mönch die Gittertür, durch die ich eingetreten war, verschloß. Ich fragte verwundert, warum er mich einschließe, da deutete er stumm auf eine kleine Seitentür, die ich nicht bemerkt hatte, und die durch die Sakristei in die Kirche zurückführte, ging aus derselben und ließ sie offen. Ich sah mich nun in dem reichgezierten Raum um und gewahrte unter dem Altar einen gläsernen Sarg, in dem die Leiche des Stifters des Ordens im Ordenskleid liegt. Ihm ist also die Kapelle geweiht. Ist dies Aufbewahren der Erscheinung nicht etwas dem ägyptischen Todeskultus Verwandtes, gleichsam als ob die entflohene Seele das verlassene Kleid wieder aufsuchen und anziehen würde, wie es ja freilich die katholische Kirche auch meint? Wer hat es aber nicht schon am Totenbett geliebter Menschen erfahren, wie seltsam fremd uns alsbald das Bild ansieht, wenn der Hauch des geistigen Lebens es nicht mehr belebt? Wenn es uns aber dennoch das Herz zerreißt, auch dies Vergängliche von uns zu lassen und der Verwesung zu übergeben, so ist es, weil damit der ewigen Trennung das Siegel aufgedrückt wird, weil das Wesen, um dessentwillen wir auch das Bild geliebt, uns nie mehr erscheinen wird. Goethe hat in den »Wahlverwandtschaften« in der Kapelle Ottiliens die Erhaltung des Bildes poetisch verklärt, aber schöner ist doch der Gebrauch der Alten, das Irdische durch die läuternde Flamme verzehren zu lassen und die Atome dem Kreislauf des Lebens unmittelbar zurückzugeben. Doch den Passionisten, denen das Kloster gehört, hat es anders geschienen, wie das Altarbild beweist, auf dem der Stifter des Ordens nicht als immaterielle Seele, sondern im schwarzen Ordenskleid, wie er da unter dem Altar liegt, gen Himmel fliegt, wo ihn Christus, inmitten der himmlischen Heerscharen, mit offenen Armen empfängt. Das Bild ist modern, ebenso sind es die Fresken, die die Seitenwände der Kapelle bedecken. Hier ging es mir aber seltsam. Als ich den Blick zu einer dieser Fresken erhob, fühlte ich mich plötzlich von Rührung ergriffen. Da kniete die Mutter allein vor dem dunklen Felsengrab, den Leichnam des Sohnes auf den Knien haltend, und schaute in bitterem vorwurfsvollen Schmerz gen Himmel. In der Ferne sah man Golgatha; die drei Kreuze zeichneten sich scharf ab von dem feurigrot beleuchteten Abendhimmel, während die Gruppe vorn im Schatten war. Jener flammende Himmel schien wie ein ewiges Verdammungsurteil über die Menschen, die immer von neuem das »Kreuziget, kreuziget ihn« rufen, wenn der Genius, der ihnen die Erlösung durch Freiheit und Liebe verkündet, unter ihnen erscheint. Und daneben der einsame Todesschmerz der Mutter, die ihn allein durch die Intuition der Liebe verstanden hat, und der Leichnam, auf dessen Lippen noch das »es ist vollbracht« zu schweben scheint; ja, vollbracht das ungeheure Opfer, und dabei die schwermutsvolle Frage: »waren sie es wert, werden sie es würdigen, wird es ihnen nützen?« – Alles das ergriff mich tief in der Weltentrücktheit dieser Kapelle; ich wandte mich dem gegenüber befindlichen Fresko zu und blieb nicht weniger bewegt davor stehen. Da kniete er am Ölberg, der vor dem letzten Opfer noch einmal zurückbebende Mensch, und rang mit seinem Dämon, der ihn zur Entscheidung drängte, und in dem milden, märchenhaften Licht, das durch das feine Laub der Oliven zitterte, schwebte der Engel heran, der ihm den Kelch der Entsagung und des Todes brachte, aber auch der Verheißung, daß denen, die getreu sind bis an den Tod, die Krone des Lebens werden wird.

Ich beugte mein Haupt vor diesem erhabensten Gedicht der Menschheit, und still und bewegt trat ich durch die kleine Tür in die Sakristei, um fortzugehen. Da standen zwei Passionistenmönche in schwarzer Tunika und schwarzem Skapulier, auf der linken Brust den Namen Jesu und ein kleines silbernes Herz mit einem Kreuz, und sprachen miteinander. Sie sahen erstaunt auf die unerwartete Erscheinung, die da so plötzlich aus dem verschlossenen Innern des Heiligtums hervortrat. Ich aber dachte: Verständet ihr nur alle den wahren Sinn des Mysteriums, dessen Behüter ihr euch wähnt, da würde das Erdenleben zu einem Idyll, wie es mir dieser Morgen war, und die Opfer der erlösenden Liebe vollbrächten sich nicht mehr am Kreuz, sondern in schöner Freiheit von Mensch zu Mensch.

*

Sehr lebhaft hatten sich mir gerade in den Tagen Betrachtungen darüber aufgedrängt, wie wenig das Ideal christlicher Liebe und Eintracht in jenem Stand, der am ersten dessen Vertreter sein sollte, verwirklicht sei. Gewiß, wenn irgendeine Institution der Geschichte den Eindruck einer kompakten Einheit macht, die wie ein organisches Ganze erwachsen zu sein und sich in organischer Ordnung und Harmonie zu bewegen scheint, so ist es die Hierarchie der katholischen Kirche, und doch ist dies ein vollkommener Irrtum. Kaum haben sich von jeher irgendwo schroffere Gegensätze, tieferer Haß, schlimmere Verleumdungen kundgegeben, als wie unter den Trägern jener Religion der Liebe, deren Verkündigerin die Kirche ist. Und nicht allein den lebenden gilt der Streit und der Haß, – auch den Toten. Jetzt eben toben beide wieder um eine der edelsten Gestalten, die der katholische Klerus in der Neuzeit aufzuweisen gehabt hat, um Antonio Rosmini, den philosophischen Denker, in dem die Würde des wahrhaft apostolischen Priesters einmal wieder lebendig geworden war. Er lebte am Lago Maggiore, und in seinem Kollegium empfingen viele der ausgezeichnetsten Männer des damaligen Italiens ihre Bildung und blieben seine Anhänger und Freunde. Die Jesuiten aber machten ihm von Anfang an einen wütenden Krieg, denn sie hatten alsbald gesehen, wie gefährlich er ihnen werden würde. Durch unausgesetzte Verfolgungen und Verleumdungen brachten sie es auch endlich mit Hilfe des damaligen Königs von Neapel dahin, daß Pius IX., als er im Exil in Gaeta war, die Ernennung Rosminis zum Kardinal widerrief. Um sich wegen dieses Widerrufs zu entschuldigen, pflegte der Papst zu sagen, er sei der Gefangene eines Königs, der Rosmini für ein Haupt der Insurrektion halte. Später indes veranlaßte Pius IX. selbst das »Dimittantur«, und die Jesuiten wagten, trotz ihrem Haß, doch den Streit wegen Rosmini nicht wieder aufzunehmen. Erst nach dem Tode Pius IX. brach das verhaltene Feuer wieder aus. Jesuiten und Dominikaner vereinigten sich, trotz ihrer früheren Feindseligkeiten, gegen den gemeinsamen Feind, den ernstesten, erleuchtetsten, frömmsten Geist, den die Kirche in diesem Jahrhundert gehabt hat. Begünstigt durch die Nachsicht des neuen Papstes, eröffneten sie damals einen Feldzug; schon ist es ihnen gelungen, die Bücher des religiösen Philosophen dem Dimittantur zu entziehen, und nicht zufrieden damit, daß man ihm bei Lebzeiten die Kardinalswürde, die ihm schon verliehen gewesen war, wieder genommen hatte, und daß er endlich aus Schmerz über die unwürdigen Verfolgungen gestorben ist, arbeiten sie darauf hin, ihn noch nach dem Tode als Ketzer erklären und seine Bücher verbrennen zu lassen. Noch widersteht der Papst, aber wird er den wiederholten Angriffen der vereinigten Zeloten immer widerstehen können?

Ein eben veröffentlichtes, bisher noch nicht gedruckt gewesenes Buch des frommen Denkers, dessen bereits begonnene Veröffentlichung im Jahre 1840 durch Rosmini selbst unterbrochen wurde, um den damals etwas beruhigten Streit nicht wieder anzufachen, hat jetzt das feindliche Lager aufs neue in vollen Aufruhr gebracht. Man geht sehr weit in der eigenmächtigen Verfolgung dieser Schriften. Vor einiger Zeit wurde in der Hauptdruckerei Roms der Druck einer neuen Auflage der Briefe Rosminis begonnen, dieses trefflichen Buches, in dem sich das innere Leben der edlen Persönlichkeit von Jugend auf dem Leser kundgibt. Einer der eifrigsten Gegner, der im Vatikan Sitz und Stimme hat, kam in die Druckerei, sah die bereits gedruckten ersten Bogen und befahl wutentbrannt, den Druck sofort einzustellen. Nach einem Bericht im Vatikan wurde das Verbot von dort bestätigt. Die Sache machte aber Aufsehen und rief den Protest hervor, und als man sie von anderer Seite vor den Papst brachte, versicherte dieser, nichts davon gewußt zu haben.

Dessen ungeachtet – oder vielleicht gerade deshalb erst recht – mehrt sich aber besonders in Oberitalien der Anhang Rosminis unter der jüngeren Geistlichkeit in hohem Grade. In den Klöstern männlicher sowohl wie weiblicher Rosminianer entfaltet man eine segensreiche Wirksamkeit auf dem Gebiete der Erziehung und der hilfreichen Barmherzigkeit. Sie verschmähen es nicht, dem Fortschritt der modernen Wissenschaft eifrig zu folgen, es gibt dort mehrere ausgezeichnete Gelehrte, und das ganze Streben ist auf reine Frömmigkeit im wahren Sinn einer christlichen Kirche gerichtet. Man wird dadurch an die reformatorische Bewegung erinnert, die in Italien am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts stattfand. Möchte es ihnen besser gelingen als den edlen Vorkämpfern jener Zeit, und möchte sich ein Papst finden, der ihren Feinden, den Sturmgeistern der Kirche, das Wort zuriefe, das Clemens VIII., müde der ewigen Wühlereien mit denen, deren Vorgänger den Frieden der Welt und die Ruhe der Gewissen störten, diesen zurief: »Aufrührer, ihr seid die Störenfriede in der Kirche Gottes.«

*

Ich lebte damals in sehr häufigen und herzlichen, besonders aber geistig anregenden Beziehungen zu einer eifrigen Katholikin, der Fürstin Caroline Wittgenstein. Schon bei meinem ersten Aufenthalt in Rom, in den Wintern der Jahre 64 und 65 (mit den beiden Töchtern Herzens) hatte ich ihre Bekanntschaft gemacht; wir waren uns aber nicht näher gekommen, obwohl zu der Zeit die damalige römische Gesellschaft sehr mit ihr beschäftigt war, und eine förmliche Parteinahme für und gegen sie stattfand. Es war der Augenblick, wo nun endlich durch den Tod des Fürsten, ihres Gemahls, alle Hindernisse gehoben schienen, die ihrer Verbindung mit Liszt, der großen Liebe ihres Lebens, entgegengestanden hatten. Nur in der Absicht, dieses Eheband, in dem sie nie Glück gefunden hatte, durch die Kirche lösen zu lassen, war sie nach Rom gekommen und hatte ausdauernd, trotz aller widerwärtigen Erschwerungen, die ihr in den Weg gelegt wurden, und sogar mit materiellen, bedeutenden Opfern, ihr Ziel verfolgt. Nun stand sie vor dem errungenen Erfolg. Liszt war auch in Rom, ich sah ihn öfter, sowie einige seiner Schüler, die ihn stets umgaben, und unter denen besonders einer, ein Engländer, mit fanatischer Liebe an ihm hing. Eines Abends fand ein Konzert statt, von römischen Fürstinnen für einen wohltätigen Zweck veranstaltet, in dem Liszt, großmütig wie immer, spielte. Am Morgen darauf erschien eben jener Engländer bei mir, in größter Bestürzung, und sagte, Liszt sei verschwunden, niemand wisse von ihm, und man fürchte, es sei ein Unglück geschehen. Natürlich erregte die Sache das größte Aufsehen, und in den damals noch so kleinen, geselligen Verhältnissen war von nichts anderem die Rede. Der Schüler war trostlos; nach einigen Tagen jedoch erschien er wieder freudestrahlend; Liszt war wieder da, nur in der Kleidung eines Abbé; er hatte sich aber dem treuen Schüler in die Arme geworfen und gesagt: »Ich bin immer derselbe.« Im Vatikan, in der Privatkapelle des Kardinals Hohenlohe, war die Aufnahme in den geistlichen Stand vollzogen worden, und unmittelbar nachher hatte Pio IX. den neuen Priester empfangen, der sich ihm mit den Worten vorstellte: »Saint père, la moisson est grande, voici un moissoneur de plus

Was da vorgegangen war, welche inneren Motive diese plötzliche Wandlung am Vorabend der anderen, endlich möglich gewordenen Entscheidung herbeigeführt hatten, blieb der Welt ein Geheimnis, und müßige Neugier bemühte sich vergebens, den Schleier zu lüften, der von den Beteiligten mit größter Diskretion über den Grund der vollzogenen Tatsache gedeckt war. Man erfuhr nur, daß es der größte Wunsch der Fürstin sei, daß die Leitung der geistlichen Musik in der Kirche Roms, die mehr und mehr moderner Mittelmäßigkeit verfiel und die erhabenen Werke alter Meister vernachlässigte, Liszt in die Hände gegeben werde. Warum es auch hierzu nicht kam, warum Liszts Stellung zum Vatikan keine sehr günstige wurde, blieb ebenfalls ein Geheimnis für die Welt, so viele Vermutungen und Gerüchte auch in Umlauf gesetzt wurden.

Ich stand der Fürstin damals zu fern, um an dieser großen Krisis ihres Lebens teilzunehmen, und dann verließ ich Rom für viele Jahre und hörte kaum etwas von ihr. Erst als ich mir Rom zum bleibenden Wohnsitz erwählt hatte, kam ich wieder in Berührung mit ihr, und sie zeigte mir alsbald ein so herzliches Wohlwollen, und ihre große Intelligenz versprach mir so viele genußreiche Stunden, daß ich gern der Aufforderung Folge leistete, sie öfter zu besuchen. Sie kam auch häufig zu mir und holte mich im Wagen zu weiten Spazierfahrten in die römische Campagna ab, wobei sie mir interessante und anmutige Erzählungen über ihre polnische Heimat und das dortige Landvolk machte. So sagte sie einmal, als wir seltsame Wolkenbildungen in der Campagna bewunderten, eine Eigentümlichkeit ihres heimischen Klimas, namentlich im Süden Polens, sei die große Elektrizität der Luft, und infolgedessen die auffallend schönen und phantastischen Wolkenbildungen. Da sei es Gewohnheit der Landleute, in den weiten Grasebenen auf dem Rücken zu liegen, dem Spiel und Zug dieser Wolken zuzusehen und zu träumen; vielleicht Träume voll Poesie und Glück, als Entschädigung für die nackte, armselige Wirklichkeit.

Sie wohnte in einer sehr bescheidenen, möbliert gemieteten Wohnung im dritten Stock, die ziemlich geschmacklos, ohne alle wahre Eleganz, wie es damals in den römischen Mietwohnungen meist der Fall war, ausgestattet war, besonders hingen abscheuliche Bilder aller Art an den Wänden, deren Duldung von seiten der Fürstin mir unbegreiflich war, da sie einen leidenschaftlichen Kultus für die Kunst hatte, freilich vor allem für die Musik. Auch nahm der Flügel einen großen Platz in dem kleinen Salon ein, in dem sich um das Kamin herum der Versammlungsplatz befand, d. h. der Lehnstuhl der Fürstin, auf dem sie ihre Besuche empfing, daneben ein Tisch stets mit Vasen voll Blumen, oft mit sehr stark duftenden, beladen, was den Kopf der Fürstin, trotzdem sie mit ihm fortwährend arbeitete, nicht anzugreifen schien; Bücher, Noten, Schriften lagen überall, selbst im Vorzimmer umher, nach okzidentalen Begriffen in ziemlicher Unordnung, doch ihr, die jeden Augenblick etwas nachzuschlagen, etwas auszuführen hatte, bequem. Charakteristisch war eine große kristallne Bonbonniere, immer mit Schokolade und anderen Bonbons gefüllt, die dem Besucher sogleich angeboten wurden, nach slavischer Sitte, wie man mir sagte. Das Ganze dieses Raumes sowie auch der übrigen Räume der Wohnung war wirklich weder standesgemäß noch einfach schön, und als ich später auch mit Liszt nahe genug befreundet war, um mit ihm über dergleichen Dinge zu sprechen, sagte er mir einmal ganz in Verzweiflung, er habe nun endlich in einem bekannten fürstlichen Palast Roms das, was man eine Wohnung nennen könne, für die Fürstin gefunden, und nun sei durch ein Zusammentreffen von Umständen Veranlassung gewesen für die gegenwärtigen Hausleute, der Prinzeß Carolina sich sehr dienstwillig und aufopfernd zu erweisen, und da wolle sie nun aus Dankbarkeit das Logis nicht verlassen.

Übrigens vergaß man auch bald genug die wirklich nicht sympathische Einrichtung, saß man einmal auf einem der Stühle, die um den der Fürstin herum für die Besucher bereit standen, denn wenn sich nicht bald ein bedeutendes Gespräch über irgendeinen inhaltvollen Gegenstand entspann, so war es sicher die Schuld des Besuchers, und nicht die der Fürstin. Sie war nicht schön, war es nie gewesen und erzählte mir einmal lachend, daß ihre Mutter, eine elegante, schöne, den Weltfreuden zugetane Frau, sich betrübt habe, daß sie so häßlich sei, und daß sie ihr zum Trost gesagt hätte, sie solle nur ruhig warten, nach der Auferstehung werde sie wunderschön sein. Übrigens hatte sie eines jener Gesichter, die keine eigentliche Jugend haben und daher oft mit dem Alter eher gewinnen, und wenn man mit ihr sprach, und der Gegenstand des Gesprächs sie interessierte oder begeisterte, so belebten sich die Züge so ausdrucksvoll und die Augen glänzten so feurig, daß man vergaß zu prüfen, ob sie schön sei oder nicht, denn man fühlte sich unter dem Bann einer außerordentlichen Persönlichkeit, eines ungewöhnlichen Intellekts, die der äußeren Reize nicht bedurften, um zu fesseln. Doch war sie nicht ganz gleichgültig gegen das, was der äußeren Erscheinung Anmut verleiht, sie kleidete sich meist in helle Farben und sagte mir einmal, da ich viel schwarz trug, sie habe das früher auch getan, aber dann sei es ihr klar geworden, daß der liebe Gott es nicht wollen könne, da er die Erde so schön mit den Blumen in allen Farben geschmückt habe, und seit der Zeit hatte sie auch alle Farben des Frühlings und Sommers in ihrer Kleidung, besonders an den flatternden Bändern der übrigens häßlichen Hauben, die sie trug; und ebenso wählte sie ganz besondere Anzüge, wenn sie, was häufig geschah, sich photographieren ließ, z. B. den vier Jahreszeiten gemäß, oder im Wagen, den Blick nach oben gerichtet, um »den letzten Stern zu suchen«.

Aber diese kleinen Koketterien verzieh man ihr gern, um der vielen Vorzüge wegen, die ihren Umgang von dem gewöhnlichen Alltagsverkehr unterschieden; denn man konnte sehr verschiedener Meinung mit ihr sein, aber das Gespräch wurde nie banal, und die Kontroverse blieb, auch wenn sie von beiden Seiten eifrig, ja hitzig wurde, stets in den Grenzen des freundlichsten, wohlwollendsten Verkehrs. Ihre Bildung war eine universelle, und sie fühlte sich auf keinem Gebiete des Wissens fremd. Sie hatte sich viel mit Schopenhauerscher Philosophie beschäftigt, und unsere Gespräche führten uns oft darauf. Sie war nicht ungerecht gegen ihn, aber sie bestritt seine Ansicht über den Willen und sagte, der Mensch träte ins Leben mit absoluter Freiheit, zu werden, was er wolle; sie führte mir dabei, da wir meist französisch sprachen, ein Wort der französischen Bibelübersetzung an: »Dieu traita, l'homme avec révérence« und mit einem Ausdruck von fast übermütigem Trotz setzte sie hinzu: »Je n'aurai pas voulu son cadeau de la vie, s'il ne m'avait pas donné la liberté.« Sehr sympathisch war ihr Schopenhauers Zurückgehen auf indische Weisheit und indische Ansichten; auf diesem Gebiet hielt sie ihr Wissen für unfehlbar, und sie wurde fast böse, als ich sagte, ich glaube gar nicht, daß das Nirvana das absolute Nicht-mehr-Sein bedeute, sondern daß es vielmehr den seligen Zustand der Erlösung von der Welt der Sansara und die Wiedervereinigung mit Brahm, mit der Gottheit, ausdrücke. Das bestritt sie mir absolut und sagte, es sei entschieden das Nichtsein, da das Sein den Indern ja als eine Schuld, als etwas zu Verneinendes erschienen sei. Ebensowenig wie hierüber aber bekehrte sie mich zu Ansichten auf andern Gebieten, besondern dem religiösen, so gern ich mich von ihr über theologische Dinge belehren ließ, die mir bisher gänzlich fern gelegen hatten und unbekannt geblieben waren, in denen sie aber gründlich unterrichtet war und die sie mit einer eignen Innigkeit und Wärme vortrug, so daß man fühlte, sie wollte dafür gewinnen. Ob sie, wie man es von ihr sagte, überhaupt gern Proselyten machte, weiß ich nicht, aber gewiß ist, daß sie es bei mir versuchte, und zwar mit einer Ausdauer und einem Eifer, die mir nur bewiesen, daß sie mich aufrichtig liebte, wodurch ihr Wunsch gerechtfertigt erschien, meine Seele hinüber zu retten in den Schoß der allein seligmachenden Kirche. Einmal in der Fastenzeit, wo gewöhnlich Prediger aus anderen Orten in den römischen Kirchen predigen, forderte sie mich auf, mit ihr in die Kirche S. Luigi de' Francesi zu gehen, wo eben der Bischof Mermillod, der aus der Schweiz fortgemußt hatte, die Fastenpredigten hielt. Ich ging mit ihr und fand die Predigt durch einige fein ausgeführte Gedanken anziehend. Das freute die Fürstin, und nach einigen Tagen erhielt ich eine Einladung, zu ihr zu kommen, um den Bischof Mermillod, der da sein werde, kennen zu lernen. Da ich wußte, daß er mit meinen katholischen Verwandten in Wien viel verkehrt hatte, war es mir angenehm, seine Bekanntschaft zu machen, und ich ging hin. Sein Äußeres und seine etwas hochmütige Art zu sprechen und zu fragen, nahmen mich nicht für ihn ein, aber der Fürstin zuliebe ging ich freimütig darauf ein, seine Fragen zu beantworten, die sehr inquisitorisch forschten, warum ich mich den Überzeugungen meines katholisch gewordenen Bruders in Wien nicht angeschlossen habe. Nach einiger Zeit entfernte sich die Fürstin und ließ uns allein, wahrscheinlich in der Hoffnung, daß er nun direkter auf das Ziel losgehen sollte. Er sagte denn auch gleich, es komme eigentlich nur auf drei Fragen an, die schon Bossuet einem Engländer, der ihn um Rat fragte, als das Wesentliche vorgelegt habe, zuerst die Frage, ob man an Gott glaube, zweitens ob man an Christus glaube, und drittens – und das sei das Wesentlichste – ob man an die Kirche glaube. Darauf sagte er, er werde mir Bücher schicken, und ich solle ihm freimütig Rechenschaft geben von dem Eindruck, den sie mir gemacht hätten. Als die Fürstin wieder eintrat und nach dem Resultat unserer Unterredung fragte, sagte er mit zuversichtlichem Lächeln: »Das wird schneller gehn, als Sie denken« und ging. Die Fürstin, in einem Sturm des Entzückens, ergriff, ehe ich es mich versah, den Saum meines Kleides und küßte ihn, und als ich ganz erschrocken rief: »Aber Fürstin, was tun Sie?« sagte sie mit wirklich freudestrahlendem Angesicht: »Der Gedanke, mit Ihnen an den Altar zu treten, ist zu schön und riß mich fort.« Ich dankte ihr gerührt für ihre Liebe, ging aber bekümmert fort, da ich wußte, daß ihr auch jetzt, wie schon bei allen früheren Versuchen, die bittere Enttäuschung bevorstand.

Am folgenden Tag war Mermillod bei mir gewesen, hatte mich nicht getroffen, aber ein Paket Bücher gelassen: die Predigten Lacordaires und das Leben der Mme. Seton, einer konvertierten Amerikanerin, die ihr Leben nach ihrer Bekehrung ganz der Arbeit für ihre leidenden Mitmenschen gewidmet hatte. Nachdem ich die Bücher gelesen hatte, sandte ich sie zurück und schrieb dabei an Mermillod:

»Ich habe die Reden des père Lacordaire sowie das Leben von Madame Seton mit dem größten Interesse gelesen. Ich neige mich immer vor den Worten und vor einem Leben, die den Opfern der erbarmenden Liebe, die der Tod des Egoismus ist, geweiht sind. Ich bewundere alles, was den Menschen über seine engere Sphäre erhebt, sei es der Schwung des Gedankens zu den höchsten Anschauungen, sei es die Tat des Herzens und des reinen Mitleids. Ich bestätige voll Glück meinen Glauben daran, daß wir in uns einen Funken jenes ewigen Lichts tragen, das im Grunde des Seins leuchten muß, und das unsere schwachen Sinne nur von ferne ahnen können. Ich erkenne es als unsere höchste Pflicht, diesen Funken in uns zur Flamme werden zu lassen und das Göttliche in uns zu verwirklichen, das sich auch in einem jeden von uns inkarniert hat. Aber wovon ich nicht überzeugt worden bin und es nie sein werde, das ist die Annahme, daß die Wahrheit ein für allemal gegeben sei, und daß eine dogmatische Kirche sie für immer umschließe. Ich glaube im Gegenteil, daß die Wahrheit in ewigem Wachsen sei und eine Hülle nach der anderen abwerfe, um immer vollkommenere Blüten und Früchte zu tragen.«

Natürlich hörte ich darauf nichts mehr von Mermillod, und auch die Fürstin schwieg vollkommen über das Vorgefallene, von dem sie ohne Zweifel unterrichtet war. Aber sie ihrerseits ließ nicht ab, ihr Ziel zu verfolgen. Einmal, wo wir wieder eine längere Unterredung über die Vorzüge der katholischen Kirche gehabt hatten und ich gern gestand, daß ich sie als Organisation bewunderungswert finde, und daß ich mit Verehrung anerkenne, wie sie der erste Versuch gewesen sei, die Menschheit durch ein geistiges, ideales Band zu einer Gemeinschaft zu vereinen, forderte sie mich geradezu auf, mich ihr anzuschließen. Ich sagte, halb scherzend, um der Dringlichkeit des Versuchs, die unserem guten Verhältnis leicht hätte schädlich werden können, zu entgehen: »Aber ich brauche doch die Kirche, von Menschenhänden gemacht, nicht, um meinen Gott zu verehren; ich tue es draußen in seiner großen herrlichen Kirche, wo er offenbar wird in der Schönheit jeder Blume, im Vogelsang, in Goldwolken, wo ihn seine Schöpfung preist mit Worten, wie sie kein menschlicher Mund je gesprochen.«

»Nein, meine Liebe,« sagte sie, »es ist gerade in der Kirche, wo er sich besonders offenbart. Kommen Sie ihr nur näher, so werden Sie es selbst erfahren.«

Es kamen dann lange Pausen, in denen dieser Gegenstand der Unterhaltung vollständig ruhte, denn sie war zu geistvoll, um nicht zu verstehen, daß ein lebhafteres Drängen nach dem ersehnten Ziel mich ermüden und schließlich von ihr entfernen werde; ich war ihr dankbar dafür, denn ich hatte eine aufrichtige Anerkennung für ihre großen Eigenschaften, und der geistige Verkehr mit ihr war mir genußreich und wert. Oft begegnete ich auch interessanten und gelehrten Leuten bei ihr, so unter anderen mehrere Male dem Grafen Schack, der uns Gedichte von sich vorlas, und obwohl er mir nicht den bedeutenden Eindruck machte, den ich erwartet hatte, doch manches sagte, was mich interessierte. Einmal sah er auf dem Tisch der Fürstin die »Memoiren einer Idealistin« liegen, nahm das Buch und schlug es auf, wo gerade ein Kapitelanfang, über dem geschrieben stand: »Mazzini«. Er steckte es darauf ohne weiteres in die Tasche und sagte: »O, das will ich lesen, dem Manne bin ich begegnet und habe mich lebhaft für ihn interessiert.« Später erzählte mir die Fürstin, er habe das Buch für seine Bibliothek gekauft, obgleich er im allgemeinen ein Gegner der Schriftstellerei von Frauen war. Eine andere Persönlichkeit, die ich dort kennen lernte, und die mir die tiefste Sympathie einflößte, war der gelehrte Benediktinermönch Padre Tosti von Monte Cassino, von dem ich schon durch Gregorovius, der sich lange seiner Studien wegen in dem Kloster aufhielt und den Tosti sehr ehrte, gehört hatte. Die milde, liebenswürdige Persönlichkeit des greisen Priesters zog mich auf das innigste an, ganz eingenommen aber wurde ich für ihn durch ein von ihm selbst verfaßtes episches Gedicht, das er der Fürstin mitzuteilen versprochen hatte und bei dessen Lesung er auch mir freundlich erlaubte, gegenwärtig zu sein. Das Gedicht war von so hoher Schönheit, daß die Fürstin und ich gleich hingerissen davon waren; danteskische Größe der Naturbeschreibung, ergreifende Schilderung der Leidenschaft und himmlische Verklärung idealer Liebe, alles tönte aus dem Munde dieses Greises doppelt rührend und erhaben. Als er geendet hatte zu lesen, fragte ich ihn, ob das Gedicht gedruckt würde und sprach die Hoffnung aus, daß dem so sein möge. Der alte Priester lächelte und sagte, daß es nie gedruckt werden dürfe, da es ihn in den Bann der Kirche tun würde.

Den größten Freund der Fürstin aber, den sie über alles liebte und dem sie einen tiefen, ewigen Kultus in ihrem Herzen geweiht hatte, den großen Künstler Franz Liszt, sah ich nur selten dort, freilich durch Zufall, denn er kam jedes Jahr nach Rom und war dann täglich bei ihr. Zuweilen aber traf ich ihn doch da, so unter anderem einmal am Tage San Carlo, wo ich hingegangen war, der Fürstin Caroline, als an ihrem Namenstag, den man nach katholischem Gebrauch feierte, einige Blumen zu bringen. Liszt kam bald nach mir, fragte, ob sie seine Blumen erhalten, und erzählte uns, daß, als er früh am Morgen über den spanischen Platz gegangen sei, mehrere der Knaben, die dort mit großen, blumengefüllten Körben auf dem Kopf einhergehen, ihm zugerufen hätten: »Signor Francesco, è la San Carlo, bisogna portar fiori là«, indem sie nach der Straße gedeutet hätten, wo die Fürstin wohnte. Liszt lachte herzlich über seine offenbare Popularität unter diesen halb naiven, halb schlauen Verkäufern des Schönsten, was die Erde gibt, und ich lachte mit ihm, da auch ich diese so anständige Vertraulichkeit des italienischen Volks, die mehr das Gefühl der Gleichberechtigung als wie Zudringlichkeit ist, kenne und liebe. Die Fürstin hingegen war bestürzt und sagte fast beschämt, man habe ihr nur gesagt, es seien die Blumenverkäufer der Piazza draußen, und da sie ihren Gärtner habe, der an bestimmten Tagen Blumen bringe, so habe sie gesagt, man solle sie wegschicken. Es war ihr augenscheinlich sehr leid, ja höchst peinlich, so die Absicht des Freundes vereitelt zu haben, und es rührte mich, die fast demütige, schüchterne Art ihres Benehmens dem verehrten Manne gegenüber zu sehen, sie, die sonst so selbstbewußt, so sicher anderen gegenübertrat. Nur einmal hörte ich ihn bei ihr spielen, wobei sie in Andacht versunken zuhörte. Ich hörte ihn aber oft in jenen Jahren in einigen anderen Häusern, besonders bei einer liebenswürdigen jungen Russin, wo sich ein kleiner, auserwählter Kreis zu musikalischen Aufführungen regelmäßig zusammenfand, und sein Spiel erschien mir in seinen vorgerückten Jahren noch unendlich viel bedeutender, als in den Zeiten seiner großen Konzerterfolge, wo ich ihn auch gehört hatte. Es war eine Ruhe, eine Seelentiefe, gleichsam eine Verklärung über dieses Spiel gekommen, das auch dem Instrument seine Beschränktheit nahm und ihm einen Zauber verlieh, wie ich es bei keinem der vielen großen Pianisten, die ich hörte, in dem Grad wiedergefunden habe.

Die Fürstin sprach mir oft von dem einzig geliebten Freund, immer mit der gleichen begeisterten Verehrung, nie kam ein Wort der Klage über ihn von ihren Lippen, das den Gerüchten hätte recht geben können, die ohne Aufhören von müßigen, nach Effektgeschichten haschenden Köpfen über die Vergangenheit und die tragischen Episoden dieses Verhältnisses in Umlauf gesetzt wurden. Nur einmal, in einer besonders gerührten und intimen Gesprächen geweihten Stunde, kam sie dazu, mit Offenheit über die herbste Epoche ihres Lebens zu sprechen und den Schleier zu lüften, der ein tief verwundetes Herz bedeckte; nie kam ein solcher Augenblick wieder, und das absolute Schweigen und die völlige Resignation einer stolzen Seele bildeten allein den Hintergrund der Beziehung zu dem Freund, die dem Publikum kund wurde. Ebenso war es aber auch von seiten Liszts ein nie endendes Beweisen seiner Anhänglichkeit und verehrenden Freundschaft, das er bis an das Ende aufrecht erhielt. Als er das letzte Mal nach Rom kam und mich zu besuchen bei mir eintrat, rief ich ihm entgegen: »Es ist doch schön, daß Sie Rom treu bleiben.« Da sagte er mit der fast bitteren Bestimmtheit, die er zuweilen bei seiner sonst so sanften Art zu reden hatte: »Es ist für eine Person, daß ich komme, sonst setzte ich den Fuß nicht mehr hierher.«

Was die Fürstin trotz der herben Erfahrungen ihres Lebens aufrecht hielt, das war außer der Religion die Arbeit. Sie schrieb unausgesetzt und häufte Band auf Band meist theologischen Inhalts, aber auch anderen Gegenständen, politischen und künstlerischen, gewidmet. Es war das auch einer der Gründe, der sie in ihrer bescheidenen Wohnung festhielt, denn sie hatte da die Druckerei und den Raum, in dem ihre Bücher niedergelegt wurden, ganz in der Nähe. Zuweilen gab sie mir kleinere Aufsätze über diesen oder jenen Gegenstand zu lesen, aber während ihre Unterhaltung stets anregend voller Leben und Geist war, fehlte ihren schriftlichen Äußerungen Klarheit des Gedankens und Anmut der Form; die Schwerfälligkeit des Stils ermüdete und schreckte ab vom Lesen. Ihr größtes Werk jedoch »Über die inneren Gründe der äußeren Schwäche der Kirche«, sollte erst viele Jahre nach ihrem Tode veröffentlicht werden, und sie sagte mir einmal, als sie davon sprach: »O in fünfzig Jahren etwa werden die Herren da oben sagen, die Frau hatte doch recht.« Denn sie wußte sehr wohl, daß man ihr in den höchsten Regionen der Kirche Opposition machte. Früher noch, unter dem Pontifikat von Pio IX., war sie, besonders mit Antonelli sehr befreundet, im Vatikan gewesen, ja dieser Papst hatte sogar ein Wunder an ihr vollzogen. Sie litt zu der Zeit sehr an den Augen, und eines Tages, als sie sich in einer Privataudienz beim Papst befand, ließ sie sich auf die Knie vor ihm nieder, ergriff seine Hände, legte sie auf ihre Augen und bat ihn, sie zu heilen. Sie blieb so einige Minuten. »Ich weiß nicht, was der Papst machte,« sagte sie, »aber ich glaube, er betete; dann segnete er mich, und als ich nach Haus zurückkam und zu arbeiten versuchte, fand ich meine Augen gesund, und sie sind es bis auf diesen Tag geblieben.« Das mußte nun – ob durch Wunder oder nicht – wohl so sein, denn sie arbeitete meist bis spät in die Nacht hinein, und am Tag, wenn man zu ihr kam, glänzten ihre Augen so feurig im Lauf der Rede, daß man sah, sie litt nicht daran.

Seit vielen Jahren schon verließ die Fürstin Rom nicht mehr, auch nicht im Sommer, und wenn ich im Herbst von meinen nun zur Regel gewordenen Reisen durch Deutschland nach Frankreich zu Olga zurückkam, sagte sie mir immer, ich täte unrecht, soviel Kraft wegzugeben, im Alter müsse man nicht mehr reisen und sich konzentrieren auf das Innenleben und die Arbeit, so sei das Alter die glücklichste Zeit des Lebens. Und bei ihr war das anscheinend wenigstens zur Wahrheit geworden; es umgab sie wie eine Aureole von Freudigkeit und Frieden, die sie nicht hinderte, lebhaft teilzunehmen an allem, was die Außenwelt bewegte und besonders an den Schicksalen und Erlebnissen ihrer Freunde. Die letzten Jahre jedoch nahm ihre Gesundheit sichtlich ab, und sie verließ ihre Wohnung nicht mehr, weder im Sommer noch im Winter. Im Herbste 1886 kehrte ich mit einem bangen Gefühl zu dem Wiedersehen mit ihr nach Rom zurück, denn im Juli des Jahres war Liszt in Bayreuth während der dort stattfindenden Aufführungen gestorben. Ich fand sie stiller als sonst, äußerlich gealtert und mehr wie je an ihr dumpfes, jedem frischen Luftzug verschlossenes Zimmer und an ihren Lehnstuhl gebannt. Ich sah es gleich, daß auch ihre Lebensflamme dem Erlöschen zueilte; das Leben hatte seinen Wert für sie verloren, Liszt hatte prophetisch gesprochen, denn er hatte einmal geäußert, daß er überzeugt sei, sie werde ihn nicht überleben. Nach einigen Wochen wurde sie völlig bettlägerig und sah nur noch wenige Menschen. Ich gehörte zu diesen und verbrachte noch manche Stunde vor ihrem Bett. Jetzt sprach sie mir viel von dem geschiedenen Freund, und ich sah, daß sie glücklich war in der Hoffnung baldiger Wiedervereinigung. Sie hatte immer die Gewohnheit gehabt, mir, auch in derselben Stadt lebend, viele und lange Briefe zu schreiben, und auch jetzt noch, vom Krankenlager aus, erhielt ich deren häufig, so einen, wo sie nur von ihm und der Hoffnung sprach, ihn wiederzufinden und mit den Worten schloß: »Er lebt – ja er lebt, denn er liebte Jesus Christus.« Als ich dann wieder noch einmal länger bei ihr gesessen hatte, fragte sie plötzlich: »Ach, Liebe, warum wollen Sie nicht an die Gottheit Christi glauben?« Ich sah, es war ihr noch ein Herzenswunsch, dies letzte Werk der Bekehrung zu vollenden, und es schmerzte mich wahrhaft, ihr in diesen Abschiedsstunden noch die bittere Enttäuschung bereiten zu müssen. Ich schrieb ihr daher am folgenden Tag und bat sie liebevoll, dies Thema nicht mehr zu berühren, da ich doch nicht gegen meine Überzeugung handeln, sie nicht mit einer falschen Hoffnung hinhalten könne, und es mir schmerzlich sei, ihr immer nein sagen zu müssen. Ich erhielt eine Antwort, in der ich wohl herausfühlte, wie sie enttäuscht sei, aber ich verstand es ja, daß es ihr bitter sein mußte, diesen Wunsch nicht erfüllt zu sehen, in dem ich doch nur einen Beweis ihres innigen Anteils an meinem Heil erkennen konnte. Einige Tage wurde ich verhindert, zu ihr zu gehen, hörte auch, daß ihre Tochter gekommen und sie also nicht allein sei. Doch hatte ich nun bestimmt vor, am 10. März 1887 zu ihr zu gehen, als ich am 9. März abends ein Billet von einer Bekannten erhielt, die mir schrieb, daß die Fürstin gestorben sei. Ich eilte am folgenden Morgen hin, konnte sie aber nicht mehr sehen.

In der sympathischen Kirche Santa Maria del Popolo war die Totenfeier. Der Kardinal Hohenlohe vollzog die Messe, und es wurde ein Requiem von Liszt aufgeführt. Ich war dort mit Frau Minghetti, und als der Kardinal den Sarg einsegnete, der die sterbliche Hülle umschloß, sagte ich ihr in meinem Herzen ein gerührtes Lebewohl. Als wir aus der Kirche traten, kam Monsieur Herbert, damals noch Direktor der französischen Akademie in der Villa Medici, der mit der Fürstin befreundet gewesen war, uns zu begrüßen, und sagte: »Oui c'était quelqu'un!« Das war das rechte Wort; ja Fürstin Caroline Wittgenstein war jemand, und von wie wenig Menschen kann man das sagen.


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