Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Erstes Kapitel

Neue Einsamkeit

Friedrich und Charlotte bestanden darauf, daß ich die ersten Tage bei ihnen bleiben sollte, bis ich eine Wohnung gefunden und überhaupt einen Entschluß gefaßt hätte. Ich nahm dies auch mit Dank an, denn nach dem Glück des Zusammenlebens mit einer selbstgewählten, sympathischen Umgebung, nach dem innigen Herzensverkehr mit den Kindern, war mir die plötzliche Einsamkeit ärger wie der Tod, und ich klammerte mich wie der Ertrinkende an einen Strohhalm, an jedes Zeichen von Sympathie und Liebe, das mir zuteil wurde. So rührte es mich unaussprechlich, als beim Mittagstisch ich die einzige war, die einen Teller mit guter Bouillonsuppe erhielt. Im Hause herrschte damals noch nichts weniger als Luxus; Friedrich mußte streng arbeiten, um dem Haushalt zu genügen, und Charlotte trug ebenfalls durch Stundengeben das Ihrige dazu bei. Es gab daher keineswegs an jedem Tage Bouillonsuppe, und jener Teller war von Charlotte vom vorigen Tage her vorsorglich für Friedrich zur Stärkung nach der Arbeit aufgehoben. Daß ich ihn nun erhielt, rührte mich bis zu Tränen. Es war ein Ausdruck des Wunsches, mir wohlzutun, bei dem alle Worte ohnmächtig und überflüssig waren, aber ich sagte es ihnen durch Tränen, daß ich diesen Teller Suppe nie vergessen würde. Nach einigen Tagen fand ich ein kleines Zimmer in der Nähe, für einen äußerst geringen Preis, in das ich einzog, um zu überlegen, was nun weiter zu tun. So war ich wieder allein, wieder auf diese freudlose Einsamkeit eines englischen lodging-Hauses beschränkt, die mir doppelt farblos und entsetzlich vorkam nach der von Licht und Liebe erfüllten Heimat, aus der mich ein jähes Schicksal vertrieben. Aufs neue mußte ich mich fragen, was anfangen? Zu der freudlosen, undankbaren Arbeit des Stundengebens zurückzukehren, dazu fehlte mir der Mut, seitdem ich bei dieser Art Arbeit auch deren Segen im Gedeihen und der Entwicklung der Kinder gesehen hatte. Ich beschloß, es mit schriftstellerischer Tätigkeit zu versuchen. Ich verhehlte mir nicht, welche Schwierigkeiten und Enttäuschungen auf diesem Wege meiner warten würden, aber die Beschäftigung selbst wenigstens verhieß mir unendlich viel mehr Befriedigung als das Stundengeben, und wenn es mir gelingen konnte, mit eigner Produktion durchzudringen, so war, das fühlte ich, der einzig wahre Weg möglichen Trostes gefunden. Ich hatte schon während meines Aufenthaltes im Herzenschen Hause einen Versuch mit einer Übersetzung aus dem Russischen in die englische Sprache gemacht. Er war günstig ausgefallen. So gedachte ich zunächst mit Übersetzungen fortzufahren und mir so die Bahn für weiteres zu brechen. Ich ging auch alsbald an die Arbeit, aber noch war sie weit davon, ihre heilende Kraft an mir bewähren zu können. Ein unsäglicher Schmerz wühlte Tag und Nacht in meinem Herzen, und es war mir unmöglich, der Qual über das Vorgefallne auch nur auf Stunden Ruhe zu gebieten. Ich schwankte hin und her zwischen dem Zweifel, ob ich nicht hätte einen andern Weg einschlagen und die ganze Katastrophe verhüten können, und der Überzeugung, daß ich nicht anders hätte handeln können. Die Bitterkeit, daß es von der andern Seite zu dieser Trennung hatte kommen können, kämpfte mit dem Schmerz um das Verlorene und der Sehnsucht, dahin zurückzukehren, wo ich so glücklich gewesen war, wo ich, wie auf einem natürlichen Boden, mit allen Kräften meines Wesens mich festgewurzelt hatte. Erschütternd war mir das erste Wiedersehen mit Herzen, der mit seinem Sohne kam, mich zu besuchen, noch erschütternder das mit den beiden Kindern, die man zu mir sandte. Sie waren erstaunt, betroffen, die ihnen so vertraute Freundin nun plötzlich in so ganz veränderter Umgebung wiederzufinden, und als man sie wieder fortführen wollte, brach die kleine Olga in leidenschaftliche Tränen aus und verlangte, bei mir zu bleiben. Eine der härtesten Proben, die ich zu bestehn hatte, war, als am Sonntag, dem Tag, wo im Herzenschen Hause sich, nach meiner Anordnung, die Bekannten abends zusammenfanden, Friedrich und Charlotte dem gewohnten Zuge nicht widerstehen konnten und sich wie sonst dahin begaben. Wie furchtbar es mir war, als sie zu dem bekannten Kreise gingen, dessen Seele, nächst Herzen selbst, ich bisher gewesen war, das ahnten sie nicht, sonst hätten sie es sicher nicht getan. Als ich allein zurückblieb, dachte ich mit bitterem Weh darüber nach, wie vergänglich im Grunde die Wirkung der Persönlichkeit ist, wie schnell die Spur verweht, die wir mit der ganzen Macht unserer Liebe und unserer Hingebung gegraben zu haben meinten – gerade wie wenn die Welle über den Meeressand läuft, in den wir einen geliebten Namen eingeschrieben haben. Wir durften uns, auch bei wirklicher Bescheidenheit, sagen, daß wir einen Platz im Leben in nicht ganz unbedeutender Weise ausfüllten; nun kam das Schicksal und riß uns von ihm weg; uns schien es unmöglich, daß nicht eine offene Kluft bliebe, daß nicht das Leben für einen Augenblick still stände, wie es in uns selbst zerbrochen schien – arge Täuschung! Die Welle des Lebens rauschte weiter, die Lücke schloß sich, die Spur verwischte sich, die Flut wallte dahin wie früher, der Seufzer, der uns vielleicht gegolten, verhallte ungehört in dem Geräusch der Brandung. Ist der Schlüssel zu diesem Geheimnis vielleicht der, daß wir nicht zu heftig an der Kreatur hängen sollen, wie es in der Bibel steht? Was mit andern Worten heißen will, daß wir den Schwerpunkt unsres Wesens nicht in das Umfassen der Erscheinung, sondern in die Hingabe an die Idee setzen! Sollte es das sein, daß wir den Kreis der holden Täuschungen nur durchlaufen müssen, um endlich, losgelöst von der Erscheinung, geläutert und gereinigt nach all den schweren Proben, reif zu sein, in das Allerheiligste einzutreten, den Schleier von dem Angesicht der Wahrheit fallen zu sehen und keiner irdischen Qual mehr zugänglich zu sein? Oh, dann war ich noch nicht so weit; der tödliche Schmerz, den ich litt um mein verlorenes Paradies, machte es noch nötig, daß das Schicksal mir von neuem den Wanderstab in die Hand gab und meinen widerstrebenden Fuß hinausgehen hieß in die öde Wüste, die ich schon so oft durchmessen hatte.

Wie es leider in allen menschlichen Verhältnissen zu gehen pflegt, wo einmal Verwirrungen entstanden sind, die sich durch die Intensität der Gefühle bis zu leidenschaftlichen Zuständen steigern, daß die »Mittler« dazwischen kommen und, wenn schon alles sich wieder gütlich auszugleichen schien, es aufs neue verwirren, so ging es auch hier. Hätte ich mich entschließen können zu gehen, die bisherigen Verhältnisse mit ihrer zu mächtigen Anziehungskraft zu fliehen und die Ferne zwischen mich und das Verlorene zu legen, so würde sicher der Kampf in mir ein gewaltsameres, die heroischste Anstrengung verlangendes, aber auch schnelleres Ende gefunden haben. Schurz, der mit den Seinigen in kurzem nach Amerika zurück wollte, redete mir lebhaft zu, sie zu begleiten und mir drüben im Verein mit ihnen eine neue Heimat zu gründen. Eigensinnig wie das Schicksal ist, indem es das Gewünschte meist dann erst gewährt, wenn es seinen Wert für uns verloren hat, kam mir diese Aufforderung jetzt zum zweiten Male, als mein Herz wieder mit so starken Banden an die alte Welt geknüpft war, daß ich mich nicht imstande fühlte, sie zu zerreißen und den Ozean zwischen mich und das Zerrissene zu legen. Nichts charakterisiert vielleicht das Pathologische leidenschaftlicher Schmerzen so sehr als die Unmöglichkeit, sich von ihren Ursachen loszureißen und durch einen moralischen Klimawechsel dem Organismus die Bedingung zur Genesung zurückzugeben. Wer es immer gleich vermöchte, dem wäre wahrscheinlich in den meisten Fällen geholfen; allein es ist eben eine Amputation, und nicht alle haben den Mut, sich ihr zu unterwerfen. Ich hatte ihn auch nicht, wie ich ihn auch damals nicht gehabt hatte, als mein sterbender Freund und die sterbende Hochschule mich in Deutschland festhielten, obgleich ich in den Zwischenzeiten, als mein Herz mit jeder subjektiven Empfindung abgeschlossen hatte, sehnlichst darnach verlangt hatte, mir mein Schicksal in der neuen Welt zu gründen. Wer vermag mit diesen Widersprüchen in der menschlichen Natur zu rechten? Wer sie immer gleich in sich besiegen könnte, der wäre eben über das Schicksal erhoben und könnte von keinem Wechsel mehr berührt werden. Außerdem, daß durch das Hin- und Hertragen jener allezeit bereiten und überall sich einfindenden »Mittler« manches bittere Element mehr in den ohnehin schon so bittern Kelch gemischt worden war, so folgte ich auch noch meiner angeborenen selbstquälerischen Neigung, die Schuld des Vorgefallenen plötzlich in mir selbst zu suchen. Ich sagte mir, daß mit noch etwas mehr Geduld, mehr Nachgeben, mehr Ausdauer und Selbstverleugnung ich jene mir so teuer gewordenen Verhältnisse hätte bewahren und in ihrer früheren beglückenden Einfachheit erhalten können. Ich verfiel dabei demselben Irrtum wie die Charlotte in den Wahlverwandtschaften, die auch meint, daß sich das einmal aus dem Geleise Gebrachte wieder einrichten ließe, sobald allen nur die vernünftige Einsicht gekommen sei, wie die Verwirrung entstanden und wie sie zu lösen sei. Indem ich mich selbst und meine Empfindung analysierte, schien es mir auf einmal, daß im Übermaß der Freundschaft, Liebe und Hingebung ich, mir selbst unbewußt, vielleicht zuviel von den andern gefordert hätte, daß die Selbstsucht meinen Blick getrübt und mir Verhältnisse und Personen im falschen Lichte hätte erscheinen lassen, ja daß vielleicht Eifersucht auf meine innegehabte exklusive Stellung mich ungroßmütig hätte handeln lassen. Es kam wie ein plötzliches Glück über mich, als diese Erkenntnis mir aufging, denn es schien mir, als sei damit jedes Hindernis beseitigt, als könne ich in die früheren Verhältnisse zurückkehren und mich in noch selbstloserer Pflichttreue den geliebten Kindern widmen. Ich schrieb an die russische Dame einen Brief, worin ich ihr in reinster Aufrichtigkeit und Freude die Entdeckung, die ich in mir selbst gemacht zu haben glaubte, mitteilte und ihr von ganzem Herzen die Hand zum neuen Bunde bot, indem ich nicht daran zweifelte, daß mit dieser Erkenntnis jedes Hindernis zur Wiedervereinigung und zum gemeinschaftlichen Wirken gehoben sei. Zu gleicher Zeit schrieb ich an Johanna Kinkel und teilte es ihr mit, indem ich hinzufügte, daß nun doch die unbegreifliche Verwirrung gelöst sei und alles gewiß sich wieder friedlich einrichten werde. Zu meiner Verwunderung erhielt ich von Johanna eine Antwort, in der sie mich bedauerte, eine solche Erkenntnis ausgesprochen zu haben, und mir versicherte, daß, soviel sie das Leben kenne, dies nur das entgegengesetzte Resultat von dem haben würde, das ich erwartete. Von Herzen erhielt ich eine Antwort auf jenen nicht an ihn gerichteten Brief, abermals voll warmer enthusiastischer Anerkennung; er schrieb:

»Ja, das ist das wahre, das große Gebiet, auf dem ich mich zu Hause mit Ihnen fühle: das Gebiet der reinen uneigennützigen Freundschaft. Sie bringen ein Opfer; es ist eine verhängnisvolle Notwendigkeit, die uns in einen tragischen Konflikt geführt und ein gemeinsames Leben zerstört hat. Niemand ist schuldig dabei, alle waren aufrichtig, aber es war ein falscher Ton hineingekommen, der hinderte. Was ich wünschte, das war jene feierliche Trennung, die ich damals vorschlug, Ihr rasches Scheiden aus dem Hause hinderte alles, aber Ihnen gebührt jetzt der Ruhm, ja der Ruhm, alles wieder zum Guten zurückgeführt zu haben. Ich habe viel nachgedacht gestern über Ihren Vorschlag: Nein! das gemeinschaftliche Leben würde halb vernarbte Wunden wieder öffnen. Aber verbinden wir uns für Unternehmungen von russischen Übersetzungen in derselben Stadt oder anderswo; überall haben Sie an mir einen Bruder. Leben Sie wohl. Nun, meine Herren Verleumder? Die Freundschaft hat gesiegt.

A. Herzen.«

Ja, die Freundschaft hatte gesiegt; aber das Opfer blieb unwiderruflich vollzogen und die Trennung blieb mit ihrem Schmerz. Ich ging nun wieder in das Haus, sie zu besuchen, aber es war mir jedesmal ein tiefes Weh, und die freudlose Öde meiner Einsamkeit nachher war mir so bitter, daß ich es als eine Art Erlösung begrüßte, als der Tag der Abreise nach Hastings mit Kinkels herankam. Kinkels hatten mich nämlich überredet, für die Zeit der Sommerferien mit ihnen an das Meer zu gehen. Bei diesen lieben Freunden war die Zeit der Freiheit vom Stundengeben und der Abreise in das mühsam erarbeitete Seebad stets ein Fest. Sie suchten mit liebevoller Teilnahme mich zu überzeugen, daß es ihnen diesmal doppelt ein solches sei, da ich mitkomme und in ihrer Liebe und Treue einen heilenden Ersatz für das Verlorene finden würde. Unaussprechlich rührte es mich, als auf dem Wege nach Hastings während der Durchfahrt durch einen Tunnel ich mich plötzlich von zwei kleinen Kinderarmen warm und liebend umschlungen fühlte. Es war die kleine Adela, das Ebenbild ihrer Mutter, die es wußte, wie tief die Trennung von den Kindern, die sie auch kannte und liebte, mein Herz getroffen, und die nun in der Dunkelheit des Tunnels den Mut bekam, dem schüchternen Mitleid ihrer kindlichen Seele diesen stummen Ausdruck zu verleihen. In Hastings richteten wir uns in einem kleinen Häuschen am Meer ein – ungleich bescheidner und einfacher, als ich es mit Herzens gewohnt gewesen war, aber hinreichend wohnlich, um unter so trefflichen Freunden glücklich zu sein. Ich wäre es auch gewesen, hätte nicht die frische Wunde noch allzu stark geblutet. Doch ging ich mit Ernst und starkem Willen an die Arbeit: eine Übersetzung aus dem Russischen, für die mir in London Abnahme zugesagt worden war. Man fing in England an zu begreifen, daß auch in Rußland bereits eine Literatur existiere, und eine gewisse Neugierde gab sich kund, diese unbekannte Region des menschlichen Geistes näher kennen zu lernen. Obgleich es die Zeit der Erholung war, so hieß das bei Kinkels keineswegs Zeit des Müßiggangs, sondern nur Arbeit nach Neigung. Eine strenge Zeiteinteilung gab auch hier dem häuslichen Leben einen ernsten, würdigen Charakter. Am Vormittag zogen Kinkel, die Kinder und ich hinauf auf das alte Schloß, das auf einem Fels gelegen das Meer überschaut und innerhalb seiner ruinenhaften Mauern einen reizenden Garten birgt, in dessen verschiedenen Lauben wir uns einzeln, ein jeder zu seiner Arbeit, einrichteten. Die Kinder arbeiteten nach des Vaters Aufgabe, und so blieb Johanna der Morgen frei, um in Muße, die ihr in London selten zuteil wurde, ihrer Kunst, d. h. der Musik zu leben. Am Nachmittag übernahm sie den Musikunterricht der Kinder, den sie mit seltener Begabung leitete, so daß das kleine Quartett bereits zu lieblichen Leistungen befähigt war. Dann blieb Kinkel frei für seine Arbeit. War endlich die Arbeitszeit vorüber, so zogen wir alle zu einem Spaziergang in die schöne Umgegend von Hastings aus, fuhren auch zuweilen nach entlegeneren interessanten Orten, z. B. nach dem Schlachtfelde, wo einst die angelsächsische Herrschaft ihr Ende und der edle Harold seinen Tod fand. Öfter aber auch ließen Johanna und ich Kinkel mit den rüstigen Kindern zu einer weiten Fußwanderung allein ausziehen. Wir gingen dann zu zweien die näheren Klippenpfade hin und tauschten Gefühle und Gedanken miteinander aus. Das waren Stunden, in denen ich mich fast glücklich fühlte; vor mir erschloß sich eine der reichsten und großartigsten weiblichen Naturen, die ich je gekannt, und es war mir ein Genuß, in dieser Seele zu lesen und mich in ihr wie in einer Heimat zu fühlen. Ich empfand dann immer, wie unwahr die Gemeinplätze über weibliche Freundschaften sind, natürlich bei Frauen, die etwas Besseres kennen als die Alltäglichkeiten des Lebens. Ich glaube im Gegenteil, daß eine Freundschaft zwischen edlen Frauen eines der uneigennützigsten und edelsten Gefühle auf Erden ist. Auch die Abende waren genußreich und voll innigster Gemütlichkeit, wenn die Kinder zu Bett gegangen waren, und Kinkel, seine Frau und ich allein blieben. Da wurde meist zusammen gelesen, oft eigene Produktionen des einen oder des andern. Ganz besonders schön waren die Abende, an denen uns Johanna ihre begonnenen Memoiren vorlas, die sie leider nie vollendet hat. Es war bei dieser Lesung, bei dem köstlichen Humor, mit dem sie Anekdoten aus dem Leben ihrer Großeltern und Eltern erzählte, daß ich zum erstenmal wieder herzlich lachte, worüber Johanna große Freude hatte.

Im Grunde aber blieb meine Stimmung unverändert. Der Schmerz um das Verlorne nagte an meiner Seele. Oft erwachte ich des Morgens, indem ich laut den Namen Olga rief, jenes kleinen Wesens, das ich mit mütterlicher Liebe liebte, und fand mein Kissen von Tränen naß, die ich, während ich von ihr träumte, vergossen hatte. Ja zuweilen wuchs der Schmerz zu solcher Höhe an, daß der Überdruß am Leben und an der Arbeit, die mir kein beglückendes Resultat mehr gab, mich mit dunklen Fittichen umrauschte, und das Meer, wenn es am Abend im Mondesglanz schimmernd vor mir lag, mich mit leiser Gewalt hinabzog in die verschwiegne Tiefe, wo endlich alle Qual und alles vergebliche Sehnen ihre Ruhe finden würden. Diese geheimsten Regungen verschwieg ich Kinkels; es hätte sie zu sehr betrübt, da sie so liebevoll alles taten, was in ihren Kräften stand, um mir zu helfen. Aber brieflich teilte ich sie einem mit, dessen Freundschaft sich mir, seit jener schweren Katastrophe, als ein wahrhaftiger Anker im Schmerz und Verlassensein bewährt hatte. Dies war Domengé, jener Franzose, der ein täglicher Zeuge meines Lebens im Herzenschen Hause gewesen war. Er war von allen, die im Hause aus- und eingingen, derjenige, der mit ungebrochner Treue auf meiner Seite stehen blieb, während andere, ja mehrere meiner eignen Landsleute, es vorzogen, sich auf die Seite zu stellen, wo ein gastfreies Haus ihnen Annehmlichkeiten bot, während sie von mir, die nichts zu bieten hatte, sich scheu zurückzogen. Als ich nach Hastings ging, versprach Domengé, mir oft zu schreiben, und hielt auch Wort, was ihm um so höher anzurechnen war, als er, bei seinen sonstigen trefflichen Eigenschaften, die Schwäche hatte, nicht sehr präzis mit Einhaltung der Zeit oder der Erfüllung solcher Versprechungen zu sein. Seine Briefe waren immer trostreich, aber auch streng in der Art, wie er gegen meinen Schmerz zu reagieren suchte. Doch erkannte ich auch in dieser Strenge seine Freundschaft und den Wunsch, mir zu helfen. Einst hatte ich ihm in einer besonders bitteren Stunde geschrieben, wo nicht nur der Schmerz um das Verlorne, sondern auch die tiefe Gereiztheit über kleinliche Einmischung dritter Personen mich zu keinem Frieden kommen ließen, und ich dabei mir auch Selbstvorwürfe nicht ersparte. Darauf antwortete er sogleich:

»Ihr letzter Brief voll eines noch tieferen Schmerzes als die vorhergehenden, macht es mir zur dringenden Pflicht, Ihnen einmal alles zu sagen, was ich über Ihre Lage denke und was ich in meinem Gewissen bestimmt für die Wahrheit halte. In den großen wie in den kleinen Krisen des Lebens gibt es nur ein, ich will nicht sagen Heilmittel, denn gewisse Schmerzen wollen gar nicht geheilt sein, aber es gibt nur ein Festes, Unerschütterliches, einen einzigen Anhalt, der nicht in unseren Händen zerbricht, indem er uns verwundet, und das ist die Wahrheit. Selbst die festesten Seelen können sie nicht gleich durch die Tränen und die Verwirrung der Leidenschaft oder des Schmerzes hindurch erkennen. Aber nach Verlauf einiger Zeit ist es eine absolute Pflicht für alle, sie zu verstehen, so wie sie ist, ohne Vorurteil gegen sich selbst oder gegen die andern; es ist ganz besonders eine Pflicht für uns, die wir das Bewußtsein haben, zu dem Vortrab zu gehören.

Nun wohl; diese Pflicht, Sie haben sie noch nicht erfüllt, und deshalb findet Ihr Leiden keinen Trost. Sie sagen sich nicht die Wahrheit über sich selbst. Welcher Schuld klagen Sie sich an? Einer absoluten Hingebung von beinah drei Jahren, die Sie nur in der edelsten Weise bezeugt haben? Im Feuer Ihrer Hingebung reiben Sie sich damit auf, an sich selbst eine eingebildete Schuld zu finden. Sie erzürnen sich gegen sich selbst, indem Sie sich verleumden. Das ist ein seltner Fehler, aber es ist dennoch ein schwerer Fehler. Wenn die Hingebung bis zur Aufopferung des legitimen Selbstgefühls, des individuellen Stolzes geht, so bleibt sie zwar noch edel, aber sie ist unnatürlich; sie ist in Gefahr, das Grundgesetz der Natur, die Erhaltung der Persönlichkeit zu zerstören. Dieser Fehler muß bestraft werden, und er wird es in Ihrem Fall durch ein providentielles Leiden.«

Nun folgte eine Analyse der verschiedenen Personen, die in diesem intimen Drang beteiligt gewesen waren, von denen er einigen die wahre Schuld an ihm beimaß; dann fuhr er fort: »Ich überlese meinen Brief mit tiefer Traurigkeit; dennoch werde ich ihn abschicken. Sie haben mich dazu gebracht, eine Analyse zu machen, vor der bis jetzt mein geheimster Gedanke zurückschreckte. Machen Sie sie nun auch von Ihrer Seite, ohne Leidenschaft, ohne Vorurteil, weder für noch gegen sich selbst, weder für noch gegen die andern; Sie müssen es tun im Namen der Wahrheit.

Das Opfer ist abscheulich; diese Vernichtung dessen, was man geliebt, dieses Umwerfen von Idolen, die man mit aller Liebe geschmückt hat, ist die grausamste Aufgabe des Lebens. Weinen, weinen Sie über diesen vorzeitigen Tod eines Teils Ihres Herzens, nähren Sie Ihren Schmerz, lassen Sie ihn nicht heilen; aber sagen Sie nicht: weshalb danach noch leben? was bleibt nach all den verlornen Illusionen?

Was bleibt, das sind Sie: die Bejahung Ihres Wesens; Ihr Selbst mit allem, was Ihnen aus der Vergangenheit gehört, mit Ihrer Hingebung, mit Ihrer Liebe; das sind Sie, geprüft, aber stärker geworden durch die Prüfung; Sie, die Sie sich selbst und andern Rechenschaft schuldig sind von den Kräften, die Ihnen gegeben sind und für die es ein so edles Feld der Tätigkeit, in der Gegenwart und Zukunft nach allen Seiten hin gibt. ›Weshalb noch leben?‹ Ach streichen Sie dies Wort aus, das die Angst des tiefsten Leidens kaum entschuldigen kann. Weshalb leben? Um das Leben der Hingebung fortzusetzen, um noch morgen zu leiden, wenn es sein muß, wie Sie gestern gelitten haben, nicht mehr für einen oder ein paar Menschen, sondern für die Menschheit, für die Millionen Unglücklicher, die uns umgeben und die, ich hoffe es fest, wir befreit haben werden, ehe wir sterben.«

Ich las diesen edlen Brief mit tiefer Rührung, ich empfand alles, was er Wahres enthielt und unterzog mich der Prüfung, die er von mir forderte, immer und immer wieder. Aber was half es? Ich arbeitete ja redlich, unaufhörlich; ich tat, was ich konnte, aber immer kamen mir die Worte des Herzogs aus der »Natürlichen Tochter« von Goethe in den Sinn, als ihn der Weltgeistliche über den Tod Eugeniens zu trösten suchte

»Wie schal und abgeschmackt ist solch ein Leben,
Wenn alles Leben, alles Treiben stets
Zu neuem Regen, neuem Treiben führt,
Und kein geliebter Zweck auch endlich lohnt.«

Von Herzen erhielt ich dann und wann Nachricht; er erhielt mich in der allgemeinen Kenntnis dessen, was im Hause vorging. Er schrieb mir unter anderem, daß er eine kleine Erholungsreise auf das Festland habe machen wollen, daß aber der Minister des Innern in Paris ein bestimmtes Verbot gegeben habe, ihm den Paß zu visieren als einem »sehr gefährlichen Individuum, das in politischen Zwecken reise und unter dem Namen Isländer schreibe«. Er fügte hinzu, daß er nun ein Landhaus in der Nähe von London genommen habe, und kündigte mir an, daß er eine Einleitung schreiben wolle zu den Memoiren der Fürstin Daschkoff, die ich gerade in das Deutsche übersetzte. Das war ein Buch, das wir noch zusammen, vor der Ankunft seiner Freunde, gelesen hatten und das uns lebhaft interessiert hatte. Diese Freundin Katharinas der Zweiten, dieser letztern an Geist und Bildung ebenbürtig, aber durch Charakter und Sitte weit überlegen, ist sicher eine der bedeutendsten weiblichen Erscheinungen unter allen, die aus dem engen Kreis des häuslichen Lebens heraus in die Öffentlichkeit getreten sind. Später sandte er mir diese Einleitung; sie war außerordentlich interessant und wurde den Memoiren, die bei Hoffmann und Campe in Hamburg herauskamen, vorgedruckt. Der alte Campe schrieb mir bei dieser Gelegenheit: »Alles, was Sie von Herzen übersetzen, nehme ich unbedingt an, denn er hat sich das Bürgerrecht in der deutschen Literatur erworben.« Herzen fügte hinzu, daß er in der nächsten Zeit viel arbeiten wolle, »denn«, schrieb er, »ich muß fortfahren, obgleich ich mich recht müde und alt fühle, aber im Angesicht des Erfolges ist es nicht möglich, nicht fortzufahren«.

Und wirklich steigerte sich der Erfolg seiner Publikationen in überraschender Weise. Ein angesehener Buchhändler übernahm ihre Einführung in Rußland, und trotz der polizeilichen Aufsicht fanden sie in unzähligen Exemplaren dorthin ihren Weg und zündeten in der Jugend mit unwiderstehlicher Gewalt. Auch die Besuche russischer Reisender mehrten sich, sowie die Zusendung von Artikeln und Mitteilungen für das neugegründete russische Blatt: »Die Glocke«, deren Schall ganz besonders der Aufhebung der Leibeigenschaft galt.

Auch über seine Lektüre schrieb er mir, unter anderem, als ich ihn wegen des neu erschienenen Buchs von Proudhon: »De la Justice« gefragt hatte, da ich es lesen wollte: »Seit lange bin ich nicht von einem so tiefen Schmerz ergriffen worden, als durch das Buch von Proudhon. Die romanische Welt geht unter – dies ist ein Leichenstein; Proudhon machte sich selbst zur Statue wie die Frau Loths. Nachdem er alles verstanden hat, kommt er dazu, den Menschen der Familie zum Holokauste zu bringen und danach – danach – soll der Triumph der Gerechtigkeit kommen! Der dritte Teil, das Kapitel über den Fortschritt ausgenommen, ist traurig – traurig – traurig. Das ist ein Greis, der sein Testament schreibt; ein Mensch, der einen Band (zweihundert Seiten und mehr) katholisch-romanischer Unbilde gegen die Frauen schreiben konnte, ist kein freier Mensch.«

So blieb ich wohl etwas vertraut mit den geistigen Eindrücken seines Lebens, aber es war doch nicht mehr dasselbe, als wie das tägliche unmittelbare Mitteilen und das sich Hineinleben in einen gewissen Kreis von Interessen und Gedanken. Mich hatte die in jenem Augenblick so vielversprechende Entwicklung des russischen Lebens lebhaft interessiert. Ich sah und hoffte da, wie Herzen selbst, eine Lösung der Zeitfragen, wie sie im alternden Europa nicht mehr möglich schien, und der Erfolg der Herzenschen Tätigkeit war mir eine werte Angelegenheit geworden. Nun war mir das alles wieder entrückt, und auch das entbehrte ich schmerzlich, wie es denn überhaupt wohl nur oberflächlichen Menschen gegeben ist, sich mit Leichtigkeit von einer bestimmten Richtung, die das Leben genommen hat und die man mit Eifer verfolgt, loszureißen und zu einer andern überzugehen. Dem edlen Menschen ist es ein Bedürfnis, ein Ziel fest in das Auge zu fassen und es mit aller Konzentration seiner Kräfte zu verfolgen. Dann erst entfaltet sich ihm der ganze Reichtum seiner Befähigung, auch alles andere zu verstehen und in alle Gebiete des Lebens denkend hinüber zu blicken. Er hat dann wie Archimedes den einen Punkt gefunden, von dem aus er die Welt aus ihren Angeln hebt. Dem Genius zeichnet die eigene Natur das Ziel in Flammenzügen vor, ihm ist die Mühe des Suchens erspart, und nur die Hindernisse, die Welt und Verhältnisse ihm in den Weg legen, machen ihm das Verfolgen seines Zieles oft zur Qual. Wenn sie ihn zwingen, diesem Ziel zu entsagen, ihn gewaltsam aus seiner Bahn drängen, so ist es Tod und Vernichtung für ihn. Die von der Natur minder reich Begnadeten müssen suchen, bis sie den wahren Punkt finden, von dem aus ihr Wesen in Einheit und Mannigfaltigkeit zugleich sich entfaltet und still beglückt die Blüte seiner selbst erreicht. Von diesem Punkt verdrängt zu werden ist ein unaussprechliches Leiden, ja ein verzehrender Schmerz. Manche gehen daran unter, und die Starken, die ihn überleben, tragen doch den Schmerz der Wunde durch das Leben mit sich. Es stieg mir damals der Gedanke auf, welch eine Macht die sogenannten legalen Bande noch über die Gemüter der Menschen, selbst auch der freiesten, haben – oft, ohne daß sie es sich eingestehen. Hätte mich irgendein legales Band an die Familie geknüpft, anstatt der freien Sympathie und Freundschaft, so hätte der Freunde Ankunft keine Änderung gemacht, es wäre natürlich alles geblieben, wie es war. Im Laufe des Lebens sollte mir noch öfter Gelegenheit werden, diese Erfahrung in der frappantesten Weise bestätigt zu sehen. Die öffentlich Verlobte, die angetraute Gattin, die leibliche Mutter werden nicht so leicht verlassen werden, wie die noch so heiß, nur heimlich Geliebte, die treueste, edelste Freundin, die, welche in jeder Beziehung eine wahre Mutter gewesen ist. Woran liegt das? besonders bei Menschen, für die weder der Segen des Priesters, noch die Sanktion des Gesetzes mehr einen Wert haben, die vielmehr nur in Freiheit, nach ihrem innern Sittengesetz handeln? Hat die menschliche Schwäche doch jenes äußern Moralkodex, jener bindenden Fessel des legalen Zusammenhangs nötig? Auf der Voraussetzung dieser Nötigung beruht schließlich alle Gesetzgebung, ja alles, was die Kirche zum Sakrament erhob, um sich dadurch zum obersten Tribunal der Gewissen und der menschlichen Verhältnisse zu machen. Es beruhen darauf Eide, Kontrakte, Geschäftsverbindungen, Beamtentum usw., und je zivilisierter eine Gesellschaft wird, je mehr ist das ganze Leben in eine förmliche Architektur solcher konventionellen Verpflichtungen eingegrenzt und innerhalb derselben geordnet. Ist es darum sittlicher, edler? Was jedem menschlichen Verhältnis, jeder menschlichen Handlung den Wert verleiht, ist die innere Treue, die aufrichtige Hingebung, die Gewissenhaftigkeit und Liebe. Sind diese verschwunden, so ist die äußere Verpflichtung wie eine Schale ohne Kern, wie das am Sonntag zur Kirche Gehen, weil es respektabel ist, aber nicht weil ein tiefes, religiöses Bedürfnis dahin treibt, wie die ausgesprochene Eidesformel, der der Mensch vielleicht in seinem Innern flucht. Wenn aber die verschärfte Gesetzmäßigkeit des Lebens nicht zum Ziel führt, höchstens ein Automatentum schafft, das nach einem gewissen Uhrwerk ohne innere Belebung arbeitet, was soll dann das Leben schützen vor einem immer wiederholten Auseinanderfallen in willkürliche Richtungen, vor dem Spiel der Leidenschaften und dem Faustrecht, gegen das das Gesetz nur vermittelst bewaffneter Gewalt sich wehren kann? Einzig eine idealere Auffassung des Daseins: die ideale Pflicht gegenüber dem starren Gesetz, das ideale Prinzip als Motiv der Handlung. So war die Treue, jene echt germanische, eingeborene Tugend, die das Charakteristische der Helden des deutschen Heldengesanges ist und sie veranlaßt, Krone und Reich zu lassen, um die gefangenen Gefährten zu suchen und zu befreien. Ist die Menschheit wirklich befähigt, ein höheres ethisches Dasein zu erreichen, so wird sie auf weitem Umweg aus ihrem konventionellen Lebensgebäude zurückkehren in die bewußte Einfachheit idealer Prinzipien, die als Empfindung bereits in großen Seelen lebendig waren von Anfang der Zeiten an. Die Rede des Mannes wird dann ja, ja! und nein, nein! sein, ohne der Eidesformel zu bedürfen, die Bande, die im Geist und der Wahrheit geknüpft waren, werden höher gelten als die, welche Priester oder Beamte sanktionierten; kurz, das Wesen wird den Schein ersetzen, und die ideale Einfachheit des Guten wird an die Stelle der komplizierten Schutzmauer der Konvention gegen das Böse treten.

Aber ach! welch ein ferner Zukunftstraum, wenn nicht überhaupt ein Traum! –

Die Zeit der Ferien nahte ihrem Ende und Kinkels rüsteten sich zur Abreise. In mir aber reifte der Entschluß, vorerst in Hastings zu bleiben. Es schien mir, als ob das Leben in der hier wirklich schönen Natur und die Nähe des Meeres endlich beruhigend auf meine verwundete Seele wirken müßten. Auch schreckte mich hier der Gedanke nicht so zurück, wieder einige Stunden zu geben, da die Entfernungen klein waren, die Ermüdung demnach nicht so groß sein konnte, es eben auch nicht das alte bekannte Feld war, auf das zurückzukehren mir so schmerzlich gewesen wäre. Ich wollte dies in so weit tun, um die Bedürfnisse des täglichen Lebens damit zu bestreiten, die auch in Hastings nicht so hoch kamen als in London, und hoffte noch Muße übrig zu behalten, mich dann frei den lieberen Beschäftigungen zu widmen. Bei dieser Gelegenheit empfand ich es wieder recht, wie viel leichter es für den Reichen ist, jedem, auch dem tiefsten Schmerz, zu begegnen. Ich hatte eine Sehnsucht in mir, von der ich fühlte, daß sie eine große Versöhnung über mich gebracht haben würde. Dies war die Sehnsucht, nach Italien gehen zu können, nach dem Lande meiner Jugendsehnsucht. Hätte ich mich in die Schönheit von Natur und Kunst versenken, mir als Ersatz für die geliebte Olga ein Kind suchen können mit solchen schwarzen, ahnungsvollen Augen, wie die raffaelischen Kinder haben, die in die Ferne schauen, als sähen sie in das Wesen der Dinge selbst – so würde der Schmerz seinen Stachel verloren haben und zur sanften Wehmut geworden sein. Aber freudlose, mühselige Arbeit an die Stelle des verlornen Glücks setzen zu müssen, das ist hart. Das muß man in Betracht ziehen, und zwar in erster Reihe, wenn man an die Unterschiede denkt, die der Besitz des schnöden Metalls zwischen den Menschen feststellt. Dem Reichen, auch wenn er das Geliebteste verloren hat, bleibt noch die Macht, dem Verlornen einen erhabenen Tempel zu bauen, in dem der Schmerz in seiner Heiligkeit unberührt bleibt; ihm bleibt die Macht, fremde Tränen zu trocknen und das Lächeln getrösteten Elends sein eigen Leid mit versöhnendem Schimmer überstrahlen zu lassen. Dem Armen, dessen Herz blutet, was bleibt ihm? Die innere Arbeit der Resignation, die unter dem Druck des äußeren Tagelöhnertums nur zu oft zur Tantalus-Qual wird.

Ich teilte Kinkels meinen Entschluß mit. Sie billigten ihn, obwohl es ihnen leid tat, mich zu verlassen. Als aber der Tag der Abreise da war und ich sie zur Eisenbahn begleitete, als ich ihnen Lebewohl sagte und der Zug, der sie entführte, fortbrauste, da war es mir doch, als wankte der Boden unter meinen Füßen. Ein Gefühl des Verlassenseins kam über mich, wie ich es beinah noch nie empfunden. Ich ging in die kleine Wohnung am Meer, die ich mir genommen, richtete mich ein und suchte gleich durch einen festen Plan der Beschäftigungen Ruhe zu gewinnen. Aber ich vermißte die lieben Freunde überall, und schwermutsvoll lauschte ich dem einförmigen Rauschen des Meeres unter meinen Fenstern, das nun die einzige Stimme war, die zu mir sprach. – Am folgenden Tag schon erhielt ich einen Brief von Johanna:

»Liebste! Du sollst das erste Lebenszeichen erhalten, das ich von meinem wieder eroberten Schreibtisch aus sende. Gestern blieb die blaue Seeluft noch eine gute Weile über uns, aber nach der letzten Hügelkette hinter Reigate nahm schon die Welt wieder graue Farben an, und der Londoner Lärm empfing uns mit den wildesten Lauten. Das Äußerste von Zivilisation sieht den allerwildesten Zuständen wieder ähnlich. Ich habe heute (es ist Abend) noch nicht bis zum Auspacken der nötigsten Gegenstände durchdringen können, denn unabweisbare Besuche kamen von früh an bis jetzt. Ich hoffe, die Einsamkeit des heutigen Tages hat gut auf Deine Seele gewirkt. Die große, prächtige Natur, die Dich umgibt, hat etwas so Tröstendes. Gewiß, die Poesie besucht Dich bald wieder und Du wirst mit Wald und Meer verschwistert leben, bis wieder ein Menschenauge Dich recht liebevoll ansehen wird. Ich habe schon heute Dein Bild besucht und lange mit Leid betrachtet, wie schwermütig Du darauf aussiehst. Ich wollte, Du lachtest einmal wieder recht herzlich, und doch weiß ich jetzt nichts vorzubringen, um Dich lachen zu machen; ich müßte Dich denn an die Szene mit den Gewichtssteinen meines Urgroßvaters erinnern. Wir haben stündlich an Dich gedacht, und Deinen Namen höre ich so oft, als ob Du noch bei uns wärest. Deine Stimme umgibt uns noch immer. Ich glaube, es wird nicht lange währen, so fährt einer von uns hinüber nach Hastings.

Gute Nacht, Beste, wir haben Dich so sehr lieb.

Von Herzen

Deine Johanna.«

Diese liebevollen Zeilen taten mir innigst wohl; ihnen folgten bald andere, alle vom gleichen Hauch wahrer Freundschaft durchweht. Sie brachten immer einen Strahl von Freude in mein Leben. Zudem hegte ich die Hoffnung, daß Emilie Reeve es würde möglich machen können, herüber zu kommen und den Winter mit mir zuzubringen. Mit diesem seltenen Wesen war ich, seit der Trennung von dem Herzenschen Hause, oft zusammengetroffen und nah verbunden. Hatte ihre erste, schriftliche Annäherung uns damals überrascht und von vornherein die Ansicht gegeben, daß wir es hier mit einem Geist ersten Ranges zu tun hätten, so war mir dies nur im engen Verkehr zur Überzeugung geworden. Ich hatte sie in der letzten Zeit öfter in ihrem eigenen Hause aufgesucht und die Mitte kennen gelernt, in der sie aufgewachsen war. Eine kleinbürgerliche Familie, die in bescheidnen Verhältnissen in einer jener zentralen Londoner Straßen wohnte, die mit ihren dunkelbraunen Häusern wie von selbst jeden weiten freien Gedanken auszuschließen scheinen, da frische Luft und frisches Grün weitab wie in unbekannten Zonen weilen und kaum je ein klarer Sonnenstrahl die trübe dunsterfüllte Atmosphäre durchdringt. So beschränkt wie der äußere Horizont war auch der innere: man las an Wochentagen die Times, erfüllte seine Berufsgeschäfte und ging am Sonntag zur Kirche; das war alles. Ja so konservativ – einförmig – englisch waren die Begriffe im Hause, daß selbst die Dampfwut, die doch so ziemlich jedem Engländer eigen ist, hier noch nicht eingedrungen war. Eine der Schwestern Emiliens sagte mir, als ich von einer kleinen Exkursion mit der Eisenbahn erzählte, sie begriffe gar nicht, wie man mit einem Expreßzug fahren könnte, da das doch so schwindelerregend schnell gehe und so gefährlich sei. In diesem engen äußern und innern Dunstkreis war Emilie aufgewachsen wie eine bleiche Blume in Kellerluft, aber eine Blume, die nur des Lichts und der Wärme bedurfte, um Farbe und Glanz zu gewinnen. Von den Ihrigen wurde sie beinahe verspottet, von den Schwestern mit einem Gefühl unendlicher Superiorität behandelt, wie ein kindisches Wesen, das weder den Haushalt zu führen noch die Sonntagstoilette zum Besuch der Kirche zu verfertigen wußte, an die man doch, bei den beschränkten Mitteln, selbst Hand anlegen mußte. Ja nicht nur das, sondern sie war sogar höchst gleichgültig gegen diese Toilette und verwendete lieber das nicht reichliche Taschengeld zum Ankauf von Büchern. Und was für Bücher! Shakespeare? Nun, gegen den konnte man nichts sagen, denn am Ende wagt es doch kein Brite, etwas gegen den großen William vorzubringen. Aber Byron, diesen unmoralischen Menschen? Aber Shelley, diesen Gottesleugner? Dazu philosophische Bücher aller Art – wozu braucht die ein Mädchen? Zum Glück versteht sie sie wohl gar nicht, sie ist zu einfältig dazu, laß sie denn fortvegetieren in ihrer Weise! so trösteten sich die Guten.

Aber der Sonnenstrahl fand seinen Weg auch in den Keller und beleuchtete die Blume und machte sie in stiller Farbenpracht erglühen. Ein Pole, aus dem Vaterland in das Exil getrieben, wurde Mieter eines überflüssigen Zimmers im Hause. Er erbot sich, Emilien französische Stunden zu geben, wenn sie ihm dafür Unterricht in der englischen Sprache erteilen wollte. Emilien erschloß sich ein neuer Horizont durch den Umgang mit dem erfahrnen und gereiften Mann. Ihre politischen und religiösen Ansichten befreiten sich schnell von der anerzognen konventionellen Beschränktheit, ihr scharfer, logischer Geist, der im Denken vor keiner kühnen Initiative zurückschreckte, zeigte ihr die Schattenseiten des englischen Wesens im schärfsten Licht. Sie wurde von da an eine unversöhnliche Feindin der englischen Heuchelei auf jenen beiden Gebieten. Aus dem gegenseitigen Lehren wurde bald ein gegenseitiges Lieben. Da aber die Verhältnisse von beiden Seiten den Gedanken an eine eheliche Verbindung vorerst unwiderruflich ausschlossen, so trat die Notwendigkeit der Trennung und Entsagung ein, die Emilie mit derselben passiven Seelenstärke übernahm, mit der sie bisher die freudlose Geisteseinsamkeit ihres Lebens getragen hatte. Ihr Freund ging nach Paris, sie blieben aber in unausgesetztem Briefwechsel. Seit dieser Zeit hatte sich bei Emilien das Interesse für die Schicksale der slavischen Völker entwickelt, das sie auch dazu führte, nachdem sie eine von Herzens Schriften gelesen hatte, an diesen zu schreiben. Hierdurch wurden wir mit ihr bekannt und wurde der Weg gebahnt, der sie später aus ihrem engen Lebenskreise heraus führen sollte. Mein Scheiden aus Herzens Haus hatte sie tief betrübt, aber sie hatte mir seitdem eine verdoppelte, zarte und tiefe Neigung gezeigt. Wir sahen uns oft, und ich bewunderte in ihr jene geschlossene Kraft des englischen Geistes, der, wenn er sich einmal über das Niveau des Gewöhnlichen erhebt, mit unerbittlicher Logik zu den kühnsten Konsequenzen fortschreitet und mit einem universellen Blick weit über sein in Formen gefangenes Inselland hinaus schaut. Da ist dann kein Schwanken zwischen Theorie und Praxis, kein Zerwürfnis zwischen Innerlichkeit und Form, keine Idealität, die am Licht des Tages in ohnmächtige Nebel zerfließt, wie so oft bei den germanischen Stammverwandten. Theorie und Praxis gehen vielmehr Hand in Hand; was sich innerlich als fester Kern gestaltet, erscheint auch als bestimmt ausgeprägte, ruhig in sich abgeschlossene Individualität, die das eigentümlich nationale mit dem universellen Element zu verschmelzen weiß. So zeigen sich uns die englischen Geistesgrößen, die Poeten, Denker und Staatsmänner, so begegnet man, in minder hohen Sphären, einzelnen Gestalten, die wie aus Marmor gemeißelt, in fester plastischer Ruhe uns entgegentreten. Nur herrscht in ihrem Herzen nicht die Kälte des Steins, sondern eine tiefe warme Empfindung in derselben Ganzheit, die sie überhaupt charakterisiert. Wem ein solches englisches Herz sich in Liebe gegeben hat, der mag darauf rechnen bis zum Tode.

Eine derartige Gestalt war Emilie Reeve, und wenn ihr Sein nicht in weitere Kreise hinaus wirkte, so war dies anfänglich die Schuld der engen Verhältnisse, in denen sie geboren war, dann aber eines zu frühen Todes, der sie abrief, als sie gerade angefangen hatte, ihre Kräfte glänzend auf einem Felde edelster Tätigkeit zu bewähren.

Der Wunsch, zusammen zu leben, war in uns beiden bei näherem Verkehr lebendig geworden. Nun schrieb ich ihr von Hastings aus, zu kommen, wenn es ihre Verhältnisse erlaubten, denn leider erlaubten es mir die meinen nicht, ihr ein freies Asyl zu bieten. In der Hoffnung auf dieses Zusammenleben verging mir die erste Zeit bei der Arbeit erträglich. Die einsamen Spaziergänge in die schöne Umgegend waren meine Erholung, und eines Tages, als ein wunderschöner Herbstmorgen mich weit über die Klippen gelockt hatte, alte Gedankenflüge wieder ihre Schwingen regten und die Phantasie mich durch den Schleier, den Schmerz und Leid ihr verhüllend übergeworfen, mit einem verheißenden Blick ansah, da war es mir, als ob die Sträucher und Blumen, die Wolken und die Wellen mir tröstend zuriefen: »Auch du bist eine Dichterseele, und in der Poesie allein ist die Wahrheit!«

Nun aber kam der Spätherbst mit seinen Nebeln, seinen Stürmen und kalten, regnerischen Tagen, das Meer brauste trüb und schaurig und hinderte mich am Schlafen. Von Emilie Reeve kam ein trauriger Brief, um zu sagen, daß ihre Verhältnisse es unmöglich machten, jetzt zu kommen; sie hatte auf eine literarische Arbeit gerechnet, die es ihr ermöglichen sollte; das war aber fehlgeschlagen. Nun war sie zu zartfühlend und schüchtern, um von den Ihrigen ein Opfer zu verlangen, wie sie denn überhaupt zaghaft war, nach außen in ihrem Schicksal irgendeine Initiative zu ergreifen, so kühn ihr Geist auch auf den Bahnen des Denkens vorwärts drang. Nach dieser bittern Enttäuschung wurde mir die Einsamkeit doppelt schwer zu tragen. Auf sympathischen Verkehr in Hastings durfte ich nicht rechnen, denn das Leben in den kleinen englischen Provinzstädten hat etwas Tötendes, und die paar Menschen, die ich bisher kennen gelernt hatte, langweilten mich unerträglich. Dazu wurde ich krank, und in einer schweren Leidensnacht, wo das Meer in wilden Melodien schaurige Grablieder sang und mein Herz in heftigen Schlägen an seine Wände pochte, als wollte es sie sprengen, beschloß ich nach London zurückzukehren, wo der große Strom des Lebens brauste, der durch sein Getöse selbst auf Augenblicke wenigstens zum Lethe wird, und wo der Umgang mit intelligenten bewährten Freunden doch von Zeit zu Zeit eine anregende Stunde möglich machte. Gleich in den folgenden Tagen führte ich den Vorsatz aus, denn so sind die Widersprüche in der menschlichen Natur, daß die Einsamkeit uns nur dann eine Helferin und Trösterin ist, wenn die Philosophie bereits die heilende Hand auf unsere Wunden gelegt hat, und der Weheruf des verödeten Herzens still geworden ist vor den Stimmen ewiger Geister, die uns beglückend umtönen und uns selbst entführen.

An Emilie Reeve schrieb ich, um sie zu bitten, mir ein kleines Logis in einer von mir bezeichneten Gegend zu mieten. Domengé, dem ich auch meinen veränderten Entschluß mitteilte, schrieb mir froh darüber und sagte: »Kommen Sie, diese trostlose Einsamkeit wird Sie töten. Hier rechnen Sie auf mich, wie auf einen Bruder.« Auch Kinkels schrieben erfreut, mich wieder in der Nähe zu haben. Nur Herzen erlaubte sich, einen Spott auszusprechen, als ich auch ihm geschrieben hatte, ich kehre nach London zurück. Er meinte, ich könne der Geselligkeit nicht entbehren, und diese Bemerkung von ihm, der drei Jahre lang mein freiwillig ganz auf die Häuslichkeit beschränktes Leben mit angesehen hatte, verletzte mich tief. Ich beschloß daher endlich, völlig mit dieser Vergangenheit zu brechen, meinen neuen Wohnort in London dort gar nicht anzuzeigen und nicht hinzugehen.

So kam ich nach London zurück, nahm das kleine Logis, das Emilie mir bei freundlichen Leuten, wo ich auch Kost im Hause haben konnte, ausgesucht hatte, und richtete mich wieder für ein Leben der Arbeit ein. Domengé hielt Wort, kam oft, mich zu sehen und zeigte mir die Ergebenheit eines Bruders. Emilie Reeve kam, und zu Kinkels ging ich von Zeit zu Zeit, so daß ich mich wenigstens von Teilnahme und Freundschaft umgeben wußte und mich ruhiger fühlte. So beschränkt auch meine Mittel waren und so unsicher der Erwerbsweg, den ich eingeschlagen hatte, so mietete ich mir doch ein Klavier, denn das Bedürfnis nach dem Trost, den nur die heiligste aller Künste geben kann, war in mir zu verzehrender Sehnsucht geworden. Von frühester Jugend an im elterlichen Hause mit Musik genährt und zwar mit dem Edelsten und Besten, was sie bis dahin gegeben hatte, war mir das, seit ich im Exil lebte, eine schwere Entbehrung, daß ich nur äußerst selten wahrhaft gute hörte, die in London zwar wohl zu hören ist, aber nur mit großem Kostenaufwand. Auch im Herzenschen Hause war es das einzige, was mir gefehlt hatte. Jetzt, wo ich allein war, fühlte ich, daß ich es nicht länger entbehren konnte. Zwar war ich nie eine Virtuosin gewesen und hatte nun auch durch den langen Mangel an Übung alle Fertigkeit verloren, doch konnte ich noch singen. Der Gesang war mir von jeher der einzige Ausdruck dessen gewesen, was in der Seele wie aus einer andern Welt herübertönt aus den Tiefen des Seins, wo das Wort nicht hinreicht. Wenn ich im Gespräch stets bis zum Verzweifeln schüchtern gewesen war, so konnte ich im Gesang jeder Empfindung Ausdruck geben. Es sprach dann gleichsam ein anderes aus mir, das ich doch so ganz und innigst selbst war. Deshalb hatte es mich einst so gelockt, auf das Theater zu gehen, weil es mir göttlich schien, jede tiefste und erhabenste Empfindung in Tönen ausströmen lassen zu können, das Idealste und Höchste vor den Menschen sein zu dürfen, ohne Furcht, mißverstanden zu werden oder die innere Flamme zu entweihen, wie es einzig und allein für den darstellenden Künstler möglich ist. Nie war mir sein Vorrecht in begeisternderem Licht erschienen, als damals, wo ich in den schönsten Tagen meiner Jugend die Schröder-Devrient sah und hörte, die größte aller dramatischen Sängerinnen, die je gelebt haben. In dieser unvergleichlichen und unvergeßlichen Künstlerin war mir das Hohepriestertum der darstellenden Kunst klar geworden. Sie weihte die Bühne wirklich zu einem Tempel, wo eine neue Religion herrschte, die Religion des bewußten Wahns, der uns vom Elend des Lebens im tragischen Spiegelbild versöhnend erlöst. Durch jene einzige hatte ich erkannt, was dramatischer Gesang sei, und indem ich diesen in der Stille zu meiner eigenen Befriedigung bei mir auszubilden suchte, war mir das Singen überhaupt zu einer Quelle des Friedens und des Trostes geworden.

Auch jetzt flüchtete ich mich in den Stunden, wo die Schwermut überhand nahm, zu jenem Heilmittel. Aber nicht immer gelang es mir, auch selbst damit die dunklen Geister zu bannen, die meine Seele belagerten. Ja zuweilen sogar ergriffen sie mich mit doppelter Gewalt, wenn in dem einsamen Raum meine eigene Stimme mir, wie aus dem dunklen Schacht des Daseins heraus, zu tönen schien und mir den hoffnungslosen Schmerz des Lebens in klagenden oder stürmischen Tönen zum Bewußtsein brachte. Dann mußte ich oft geradezu vom Klavier fliehen, nur damit mir jene geheimnisvolle Sphinx nicht allzu klar verkünde, was das Leben eigentlich sei, denn ich hatte noch nicht die Kraft gewonnen, diese furchtbare Offenbarung zu ertragen. So ging es mir auch eines Abends, als ich ein Schubertsches Lied: »Wehe dem Fliehenden, Welthinausziehenden usw.«, gesungen hatte. Das schneidende Weh durchschauerte mein Herz so tief, daß ich aufsprang und fühlend, daß ich es nicht länger tragen könne, nach einem Messer griff, das auf dem Tisch lag, um dieser Qual ein Ende zu machen. Aber indem mir die blanke Klinge entgegenblitzte, trat das Bild meiner Mutter vor meine Seele; der Gedanke, ihr noch diesen neuen, unerträglichen Schmerz zu machen, fesselte meine Hand wie mit eherner Gewalt, und das Messer sank zu Boden. Ich mußte mir aber selbst entfliehen, das fühlte ich, damit der Augenblick der Versuchung nicht vielleicht mit unwiderstehlicherer Macht wiederkehre. Rasch nahm ich Hut und Mantel, eilte hinaus in einen der vorüberfahrenden Omnibusse und fuhr nach dem Strand-Theater, wo an dem Abend Othello gegeben wurde von einem Künstler, dessen Leistung mir Domengé als ganz unübertrefflich geschildert hatte. Ich war jetzt so unbekannt in dieser Riesenwelt von London, es war mir auch so gleichgültig, was man davon denken könnte, daß ich keinen Anstand nahm, allein abends in ein Theater zweiten Ranges zu gehen. Ich gehörte jetzt zu den Proletariern, und ich war nicht zu stolz, es zu machen wie sie, um mir einen Kunstgenuß zu verschaffen. Ich ging ins Parterre, wo der Platz einen Schilling kostete, und saß auch neben einem Proletariermädchen von etwas zweifelhaftem Aussehen, die beständig aß von allerlei Vorräten, die sie sich mitgebracht hatte. Das war freilich keine angenehme Nachbarschaft, aber auch das war mir gleichgültig vor dem Verlangen, im Anhören eines erhabenen Kunstwerks das Elend der Welt und mein eigenes zu vergessen. Auch wurde ich bald mächtig gefesselt durch den Künstler, der den Othello gab. Es ist seltsam, wie sich in England oft auf den kleinen Bühnen zweiten, ja dritten Ranges bedeutende Talente finden, die in aller Bescheidenheit und vor einem Publikum, das in der Majorität gewiß nicht zu der sogenannten gebildeten Gesellschaft gehört, eine Auffassung und Belebung der großen tragischen Charaktere zeigen, die zu dem Vorzüglichsten gehören, was man sehen kann. So war Phelps am Adelphi-, so war nun dieser Dillon am Strand-Theater. Noch nie hatte ich den Othello so schön darstellen sehen, so ruhig, frei und würdig im Anfang, im edlen Bewußtsein seiner Kraft und seines Verdienstes den stolzen Venetianern gegenüber, so tief liebend und erfüllt von gänzlichem Vertrauen bei Desdemona, so widerstrebend gegen das Gift, das ihm der Verräter tropfenweise ins Herz träufelt, so furchtbar, als die Leidenschaft über ihn Herr geworden, und so rührend und wieder liebenswert, als das blutige Werk vollbracht ist, der Schleier von seinen Augen fällt und er mit erschütternder Bescheidenheit dessen gedenkt, was er einst war und wie er handelte, wie er liebte, und ewig hätte lieben mögen, ehe das wilde Unwesen in ihm, die unbekannte Macht, »die den Menschen schuldig werden läßt«, erwachte und ihn zur abscheulichsten Tat fortriß. Ein Othello kann danach nur sterben; seine Reue, sein Abscheu über sich selbst können ihn nur zur Selbstvernichtung führen; den heißen Drang des Lebens, der ihn zum Verbrechen brachte, muß er auf ewig verstummen machen, und darin zeigt sich Shakespeare so viel größer wie Calderon, der nach der gleichen Tat die tragische Versöhnung im armen Begriff gesühnter Ehre sucht. Durch diese treffliche Darstellung war es mir, als verstände ich nun erst Shakespeare ganz, er, dessen Stücke alle wie aus dem Grunde des Daseins selbst entstanden scheinen, bei denen man die Persönlichkeit des Dichters vollkommen vergißt, in denen man lebt. So versunken war ich in diese gewaltige Schöpfung, daß ich mich selbst und die Umgebung, in der ich mich befand, vergessen hatte. Ich erinnerte mich erst daran, als ich gegen das Ende etwas wie ein unterdrücktes Schluchzen neben mir vernahm. Ich sah mich um und gewahrte meine Nachbarin, die, ebenfalls ihrer Welt entrückt, auf die Bühne starrte. Ihre Eßvorräte waren zu Boden gesunken, heiße Tränen rollten über ihre Wangen, und für eine Stunde wenigstens hatte das tragische Kunstwerk auch sie vom Schmutz des Lebens gereinigt und erlöst.

Als ich nach Hause kam, hob ich still das Messer auf, das noch am Boden lag, und mein letzter Gedanke an dem Tag war ein Dankgebet an Shakespeare. Ja, nur der Genius und die hohe tragische Kunst machen das Leben erträglich!

Ich hatte nicht mehr an Herzen geschrieben, ihm nicht angezeigt, wo ich wohne, und hörte mehrere Wochen lang nichts von dort. Nun kam mein Geburtstag, der sonst im Hause immer fröhlich gefeiert worden war und den ich jetzt zuerst wieder einsam verlebte. Am Nachmittag erschien plötzlich der junge Alexander und brachte mir freundliche Zeilen vom Vater und ein Angebinde von seiten der Kinder. Sie hatten durch Nachforschungen ausfindig gemacht, wo ich eingekehrt sei, und hatten diesen Tag erwählt, um die unterbrochene Verbindung wieder anzuknüpfen. Mein Herz war nur allzu geneigt, zu vergeben und zu vergessen, was von dieser Seite ihm Übles geschehen, und so versprach ich, der dringenden herzlichen Einladung Alexanders Folge zu leisten und nächstens hinauszukommen nach dem mit der Eisenbahn zu erreichenden ländlichen Ort, wo sie jetzt wohnten. Nach einigen Tagen entschloß ich mich denn auch, hinzugehen, da meine Sehnsucht, die Kinder wiederzusehen, groß war. Doch zog sich mir das Herz zusammen vor tiefer Bewegung, als ich mich dem Hause näherte, in dem nun das einst von mir so liebend erfaßte Leben vor sich ging, ohne meine Hilfe, ohne meine stetige Teilnahme, und ich fühlte daran, wie wenig ich noch überwunden hatte. Herzen empfing mich mit alter Freundlichkeit, die Kinder voller Liebe, die Freunde höflich. Nur meine kleine Olga, die wiederzusehen mich bis zu Tränen rührte, war etwas scheu und zurückhaltend. Aber als nach einiger Zeit ich zufällig einen Augenblick mit ihr allein blieb, warf sie sich plötzlich um meinen Hals und küßte mich mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Ich verstand von dem Augenblick an, daß ein einschüchternder Einfluß auf das Kind geübt war und dieses nun instinktiv fühlen mochte, daß die allmächtige Liebe zwischen uns sich nicht mehr so frei zeigen dürfe wie früher. Dies war ein neuer Schmerz für mich; ich hatte gehofft, die Kinder noch glücklicher wiederzufinden, als sie bei mir gewesen waren, und ich fand, wenigstens bei Olga, das Gegenteil, mußte also einsehen, daß unsere Trennung nicht nur für mich, sondern auch für dies geliebte Wesen ein Unglück gewesen war. Um ihretwillen aber beschloß ich nun, jede bittere Empfindung, jedes erneute Leid zu ertragen und öfter hinzugehn, damit das Kind die große Liebe, die ich ihr gewidmet, sich noch nahe fühle, und diese wie ein unsichtbarer Schutzgeist über ihr wache.

Im Laufe des Winters machte ich einige Bekanntschaften, die mir zum Teil zu sehr angenehmen Beziehungen wurden. Unter diesen befand sich Angelika von Lagerström, eine unverheiratete Dame, ungefähr von gleichem Alter wie ich. Sie hatte sich auch, wie ich, der Bewegung der freien Gemeinden in Deutschland angeschlossen, und nur deshalb, ohne daß sie sich im mindesten bei politischen Vorgängen beteiligt hätte, wurde sie nicht nur aus Preußen verwiesen, sondern auch, als sie sich in Dresden niederlassen wollte, daselbst polizeilich verfolgt und in das Exil getrieben. Zunächst war sie in die Schweiz gegangen, dann nach England, wo sie, da sie auch kein Vermögen hatte, denselben Weg ging wie die andern, d. h. Stunden gab. Ihr Schicksal war auch nicht leicht; sie hatte eine angenehme, mit vieler Jahre Arbeit selbst erkämpfte Existenz in der Heimat und das Zusammenleben mit teuren, hochverehrten Menschen aufgeben müssen, um nun, an der Schwelle des nahenden Alters, allein und freudlos das Brot des Exils zu essen. Ich wußte, welch ein unendlich schönes Leben sich damals in den aufblühenden freien Gemeinden in Deutschland zu entwickeln begonnen hatte; ein Leben, wo die Kirche zur Schule geworden war, in der die höchsten ethischen Gesichtspunkte, frei von allem dogmatischen Zwang, für alle Fragen des Lebens entscheidend behandelt wurden; wo die menschlichen Beziehungen aller Stände zueinander eine wahrhaft humane Form erhalten hatten: wo eine allgemeine Bildung angestrebt wurde, die nicht mehr ein bloßes gelehrtes, auf Kreise oder Individuen beschränktes Wissen war, sondern ein Lebendigwerden des Gelernten, in Umgang, Rede und Wesen bei Höhern und Niedern. – Ich wußte dies, vermochte daher ganz zu würdigen, was Angelika von Lagerström hatte aufgeben müssen, und bewunderte um so aufrichtiger den kräftigen Mut und den köstlichen, unverwüstlichen Humor, mit dem sie ihr Schicksal ertrug. Bei ihrer übrigen großen Bildung trug dieser Humor nicht wenig dazu bei, ihre Unterhaltung interessant und erheiternd zu machen, und ich verdankte ihr manche gute Stunde. – Sie hatte mir mehreremal von einer Engländerin erzählt, mit der sie durch die deutschen Stunden, die sie deren kleiner Tochter gab, bekannt geworden war, und mich auf ihre Bekanntschaft neugierig gemacht. Nun traf es sich, daß, als Saffi eines Abends eine öffentliche Vorlesung über italienische Zustände hielt, der ich beiwohnte, ich auch Fräulein von Lagerström daselbst fand, die mir eine große, schöne Frau als eben jene Mrs. Bell vorstellte, von der sie mir gesprochen hatte. Fielen mir schon die hohe schlanke Gestalt, die großen dunklen Augen, die ganze Erscheinung der Dame angenehm auf, so berührte mich noch sympathischer der Ton ihrer Stimme. Eine sanfte, wohllautende Stimme ist für mich immer einer der größten Zauber der Erscheinung gewesen; hier erfreute mich aber der Ton dieser Stimme um so mehr, als die englische Sprache mit ihren sonst so häßlichen Gurgellauten bei diesem sanften Organ geradezu musikalisch wohllautend wurde. Eine Einladung, mich zu besuchen, die ich aussprach, wurde auch nach wenigen Tagen befolgt. Ich war schon von den Hauptpunkten im Schicksal der Mrs. Bell durch die Lagerström unterrichtet, und das Vertrauen, das sie mir gleich unaufgefordert schenkte, überraschte mich daher nicht. Mein innigstes Mitgefühl aber wurde rege, um so mehr, da es sich hier wieder nicht um eine gewöhnliche Natur, die sich in ihren Verhältnissen nicht glücklich fühlt, sondern um eine außergewöhnliche, stark ausgeprägte Individualität handelte, die, im gänzlichen Widerspruch mit der Mitte, in der sie lebte, sich durch eignes Denken zu einem bewunderungswürdigen Grad der Freiheit heraufgearbeitet hatte. Sie war als das einzige Kind sehr wohlhabender Eltern im Komfort, ja im Luxus erzogen. In Italien geboren, hatte sie auch daselbst ihre erste Kindheit verlebt, und es war ihr von dort eine halb traumartige, poesieerfüllte Erinnerung geblieben, die gleichsam den Grundton in ihrer Natur gebildet hatte, auf den sich später alle Saiten ihres Wesens stimmten. Dann mit den Eltern zurückgekehrt, hatte sie mit wachsendem Bewußtsein auch den sonderbaren Widerspruch in sich wachsen fühlen, in dem sie mit ihren nächsten Umgebungen stand. Ihr Vater war ein kluger, witziger, frivoler Lebemann, der einen Teil seines Vermögens in den verschiedenen Vergnügungen eines unabhängigen Gentleman verloren hatte, der sich innerlich über jede Rücksicht hinwegsetzte und alles Glaubens spottete, äußerlich aber streng das konventionelle Dogma nach allen Seiten hin beobachtete. Seine Frau war das Musterbild einer nach allen Regeln der Orthodoxie und des »respectable« lebenden Dame, die das »Er soll dein Herr sein!«, das sie am Altar gehört, mit unverbrüchlicher Gewissenhaftigkeit über sich ergehen ließ, unfehlbar zweimal Sonntags zur Kirche ging und an diesem Tag keine Arbeit anrührte, niemals »anders war als andere Leute«, die in die Schicht des »respectable« gehörten, der auch der Leumund keinen Verstoß gegen die hergebrachte Sitte anhängen konnte; dabei aber kalt, steif und prüde. Zwischen diesen beiden Extremen wuchs Eugenie empor, beiden in allem unähnlich. Eine freie, reine, edle, offne Natur mußte ihr des Vaters Frivolität, mit dem Deckmantel des Gentleman umgeben, bald zuwider, ja verächtlich werden, da seine Libertinage wohl die Augen der Welt, nicht aber die der Tochter scheute. Die kalte, steife, unschöne Tugend, Pflichttreue und Religiosität der Mutter aber überzog das warme, phantasievolle, von dämmernden Idealen erfüllte Herz des Mädchens wie mit einem eisigen Hauch. Wenn sie, in einer Aufwallung kindlichen Gefühls, in Liebessehnsucht sich an das Mutterherz stürzen wollte, erhielt sie zur Antwort, man müsse ladylike und so wie andere Leute sein; wenn sie dem jugendlichen Frohsinn einmal die Zügel schießen lasten wollte, wurde sie an Sitte und Anstand gemahnt; wenn sie heiß nach ernstem Unterricht verlangte, wenn sie irgend eine Kunst gründlich treiben wollte, wurde ihr erwidert, das brauche eine junge Lady nicht, das gehöre nur für die Leute von Profession. Die Gouvernanten, die man ihr gehalten, die »finishing lessons«, die man ihr hatte geben lassen, waren ja hinreichend für ein junges Mädchen von Rang und Vermögen! So in dem eisernen Käfig der Konvention und Beschränktheit eingesperrt, ließ der arme Vogel endlich die Flügel hängen und wagte nur noch in einsamen Träumen den Flug ins Idealland. Da fand das heiße Herz Wesen seiner Art und führte, fern von der sterilen Wirklichkeit, ein poesieerfülltes, aber gefahrvolles Dasein, das es immer unheilbarer von den gegebenen Verhältnissen entfernte. Die in seltener Schönheit aufgeblühte Jungfrau begegnete mit siebzehn Jahren unter der Zahl der Bewerber, die sich einfanden, einem Künstler, der, was die äußere Stellung betraf, den Ansprüchen, die ihre Eltern machten, am wenigsten von allen genügte. Eugenien aber schien es, als habe das Schicksal ihr den Retter geschickt, der sie aus der Öde ihres Lebens nun in die Wirklichkeit ihrer Ideale führen sollte, als müßte der, der Götter und Heroen zu bilden sich erkühnte, auch einem Weibe den Himmel auf Erden aufzuschließen imstande sein. Sie besiegte die Einwendungen der Eltern und wurde seine Gattin. Nicht lange aber währte der Traum. Bald sah sie ein, daß es auch ein konventionelles Künstlertum gebe, und daß, sowie der äußere Gentleman die innere Verderbtheit überdecken könne, so auch eine gewisse äußere künstlerische Bildung den Mangel an aller Idealität und wirklichen Schöpferkraft, für den ersten Blick, dem Unerfahrenen verbergen konnte. Die Geschichte ihres Herzens wurde von nun an die so unzähligemal wiederholte Geschichte aller der Herzen, die ein früher Irrtum in jenes Joch schmiedet, das der Gesellschaft darum für heilig gilt, weil die Kirche es für unauflöslich erklärt hat. Was aber bei ihr anders war als bei den meisten ähnlichen Fällen, das war die gewaltige Arbeit des Geistes, die sich bei ihr vollzog und die sie zu einem inneren Protest gegen die sie umgebende Welt, mit ihrer Heuchelei, mit ihrer inneren Roheit und Verderbnis, mit ihrer falschen Moral brachte. Es war dies um so bemerkenswerter bei ihr, als ihr nichts dabei zu Hilfe kam, weder ein Buch, noch ein Mensch, die ihr gesagt hätten, daß die Gedanken, die sie bewegten, längst das Bekenntnis eines großen Teils der Gesellschaft wären, und daß der Kampf, den sie einsam kämpfte, schon lange die Welt erfülle. Sie war zweimal Mutter gewesen, aber den Sohn hatte ihr der Tod wieder geraubt. Es blieb ihr nur eine kleine Tochter, und es wurde zum Ziel ihres Lebens, diese anders zu erziehen, als sie selbst erzogen worden war. In ihr hoffte sie auch das Band zu finden, das sie ferner noch mit dem nicht mehr geliebten Gatten in achtungsvoller Freundlichkeit verbinden sollte. Sie hatte es für ihre Pflicht gehalten, sobald die Illusion der Liebe erloschen war, auch jeden ehelichen Verkehr aufzuheben, der ihr von nun an nur Prostitution schien; auch darin nicht wie die Mehrzahl der Frauen, die die Erniedrigung des ehelichen Verkehrs ohne Liebe gar nicht fühlen oder, was noch schlimmer ist, sie fühlen und sich ihr dennoch aus Mangel an sittlichem Mut unterziehen. Herr Bell, der den tiefen ethischen Gründen im Betragen seiner Gattin keine Rechnung trug, nötigte sie nach einigen Jahren, mit ihm und ihrem Kind wieder in das Haus ihrer Eltern zu ziehen, wo eine größere, glänzendere Häuslichkeit ihm wahrscheinlich eine angenehme Existenz als Ersatz für das verlorene innere Glück verhieß. Dies war für Eugenie ein Todesurteil; das elterliche Haus, in dem sie ihre traurige Jugend verlebt, in dem man ihr die Schwingen des Geistes so gründlich mit dem toten Buchstaben beschnitten hatte, war ihr wie ihr und ihres Kindes Grab. Aber all ihr Flehen war umsonst: die Autorität des legalen Gebieters ihres Schicksals siegte, und sie mußte gehorchen. Immer tiefer wurde nun der Riß zwischen ihrer inneren Entwicklung und ihrer Umgebung. Die ganze banale Welt der Konvention mit ihrer Religiosität, ihrer Moral, ihrem Begriff von Anstand, ihrer Geselligkeit und ihrer Kunst, ward ihr täglich verächtlicher. Ihr Kind davor zu bewahren, blieb ihre einzige Lebenshoffnung; sie übernahm seinen Unterricht größtenteils selbst, besonders den religiösen Unterricht, und versuchte es, in der kindlichen Seele ein einfach poetisches Gefühl der Verehrung vor »etwas Höherem, Reinerem, Unbekanntem« zu erwecken, sonst aber ihr den Wust und leeren Formelkram der dogmatischen Kirche fern zu halten. Allein hier war der Punkt, wo der innerlich gärende Konflikt zum Ausbruch kommen und zum offenen Krieg werden mußte, denn hier verstand die Mutter Eugeniens keinen Spaß, und die unselige Verirrung, in der der Geist der Tochter befangen war, sollte nicht auch auf die Enkelin übergehen. Vater und Schwiegersohn waren natürlich auf seiten der »untadelhaften, regelrechten« Frau. Eugenie hatte sich von dem Sonntagsbesuch der Kirche schließlich völlig zurückgezogen, der ihrem hellen Geist nur noch Gegenstände der Polemik bot; ihr Kind mußte die Großmutter dahin begleiten. Eugenie wollte ihre Tochter zu der edlen Einfachheit in Kleidung und Gewohnheiten erziehen, zu der sie sich selbst erzogen hatte, da ihr künstlerischer Sinn die Unnatur der Mode und die Geschmacklosigkeit vieler Luxusbedürfnisse verschmähte. Die Großeltern hingegen überhäuften die Kleine mit all jenen überflüssigen Gaben, die in der Kindheit den Trieb zur Selbständigkeit und zum Schaffen lähmen und, trotzdem sie eine frühe Übersättigung hervorrufen, dennoch die unzähligen Bedürfnisse einpflanzen, die das moderne Leben gefangen genommen haben und Zeit und Geld für edlere Dinge rauben. Wie in diesen, so ging es in allen Beziehungen. Die Anschauungen kamen zur Sprache. Eugenie hielt mit den ihrigen nicht zurück, da sie der Wahrheit ein offenes Bekenntnis schuldig zu sein glaubte. Darüber entstanden die heftigsten Szenen. Von ruhiger Erörterung war keine Rede; die Welt des Absolutismus muß absolut in allem recht haben. Nur ein Zweifel erschüttert ja schon die unabänderlich gegründete Veste der Lebensdogmen. Dazu war Eugeniens Vater ein maßlos heftiger Mann, der im Ausbruch der Leidenschaft jede Form des Gentleman vergaß und sich bis zu den wildesten Drohungen hinreißen ließ. Er hatte mehr als einmal geäußert, daß ein so verkehrtes und sich von aller herkömmlichen Moral entfremdendes Wesen nur im Irrenhause endigen könne. Natürlich blieb dieser Zwiespalt kein Geheimnis, und der Kreis der Bekannten fing an, Eugenien mit mißtrauischen Blicken zu betrachten und sich leise von ihr zurückzuziehen. Ermattet von den nutzlosen Kämpfen, in allen Lebenstiefen gereizt und gekränkt, zog auch sie sich immer mehr zurück und lebte endlich ausschließlich in dem obersten Stock des Hauses, wo sie ein Schlafzimmer mit ihrem Kind und dessen Spielstube hatte. Dort begrub sie ihre Jugend, ihre Schönheit, ihre glänzenden Geistesgaben und Talente, um einzig, womöglich, der Rettung ihrer Tochter zu leben. Dabei wartete ihrer aber der tiefste Schmerz von allem, was sie bisher erlebt, denn sie entdeckte mehr und mehr in dem heranwachsenden Mädchen die Natur des Vaters, deren Äußerlichkeit und kalter Egoismus sich in jeder Weise viel mehr von den glänzenden Lockungen des Lebens bei den Großeltern angezogen fühlte, als von dem Zusammenleben mit der Mutter. Denn diese brachte schon in die bunten Zerstreuungen der Kinderstube eine Anforderung sittlichen Ernstes und legte viel mehr Gewicht auf das Wesen, als auf die Form. Letztere war aber so viel leichter zu beobachten, ohne Mühe und Anstrengung und ohne den entgegengesetzten Neigungen viel Zwang anzutun. Das war natürlich ein Schlag für Eugenie, gegen den alles übrige zurücktrat. Er führte sie aber, wie alle Kämpfe ihres Lebens, zu allgemeinen Schlußfolgerungen, die sie das eigene Leid vergessen machten in der Betrachtung des allgemeinen Leidens, und in dem Nachdenken über seine Ursachen und Wirkungen. Man kann sagen, daß diese merkwürdige Natur auf induktivem Wege aus ihren eigenen armen Lebenserfahrungen sich eine Fülle allgemeiner Sätze bildete, zu denen die Philosophie und Wissenschaft ihr keinen Weg gezeigt hatten, da beide außerhalb ihres Lebenskreises geblieben waren. Zu alledem kam nun noch eine Entdeckung, die der wunderbarste Zufall sie machen ließ, und die ihr Aufschluß über ein bis dahin rätselhaftes Dunkel ihres Daseins gab. Sie erfuhr nämlich, daß sie nicht das Kind der Frau sei, die sie bisher für ihre Mutter gehalten hatte, sondern das illegitime Kind einer Dame, von der sie eine leise Erinnerung wie von einer Lichtgestalt aus ihrer frühesten Kindheit aus Italien hatte. Die merkwürdigsten Fügungen verschafften ihr die Bestätigung dieser Tatsache, und die Kenntnis vom Namen und Vaterland ihrer wahren Mutter. Wie es gekommen war, daß die legitime Gattin das illegitime Kind adoptierte und es als das ihre erzog, wie die wahre Mutter sich entschließen konnte, es zu verlassen, das blieb ihr ein Geheimnis, da sie die Familie um keinen Preis wissen lassen wollte, daß sie um die Sache wisse. Aber es war ihr nun klar, woher die tiefe Kluft kam, die sie zwischen sich und ihrer vermeintlichen Mutter stets gefühlt hatte, und weshalb sie, das Kind einer Frau, die einer feurigeren Nationalität angehörte, nie an diesem kalten Herzen hatte ruhen können. Von dieser Seite fühlte sie sich erleichtert und befreit, und wie von einer unfreiwilligen Schuld entbunden, da sie nun gegen eine Frau, die auf ihre Art eine gewiß nicht leichte Mutterpflicht an ihr geübt hatte, achtungsvolle Dankbarkeit empfinden konnte, wo sie kindliche Liebe nie empfunden hatte. Auf der andern Seite fühlte sie auch ihre Abneigung gegen ihren Vater noch mehr gerechtfertigt, der sie der wahren und, wie sie ihr vorschwebte, so sympathischen Mutter beraubt und diese selbst vielleicht zu langem bitteren Leid verurteilt hatte. Sie empfand nach dieser Mutter eine grenzenlose Sehnsucht, wußte aber nur, daß sie sich später verheiratet hatte und zwar nach Rußland, nicht aber, ob sie noch am Leben sei oder nicht.

Der Zufall hatte Angelika von Lagerström als Lehrerin der deutschen Sprache für das Kind in das Haus geführt, und diese Bekanntschaft war für Eugenie eine wahre Offenbarung gewesen. Durch diese tief gebildete, freie, edle Persönlichkeit war ihr zuerst klar geworden, daß die Entwicklung zu freiem, selbständigem Denken und die Verneinung starrer, alles Geistes beraubter Dogmen, die sie wie ein Verbrechen in sich verschließen mußte, frei am Licht des Tages ein anerkanntes Recht der Menschen geworden waren. Ihr Erstaunen darüber war ebenso groß wie ihre Freude, und als sie kam, mich zu besuchen, teilte sie mir ihr Glück mit, in mir einer zweiten Gesinnungsgenossin zu begegnen.

Sie kam nun, so oft sie konnte, und ihr feuriger Geist entwickelte sich rasch, als sie sich von der Furcht befreit fühlte, daß eigentlich ihr ganzes Denken und Empfinden etwas Abnormes sei, das in der übrigen Welt kein Echo habe. Neben der Freude aber, die es mir machte, ihr die Pforten der Welt, zu der sie selbstschöpferisch sich durchgerungen hatte, aufzuschließen, fühlte ich es auch als eine Notwendigkeit, ihr beizeiten Freunde zu schaffen, die ihre Geschichte kennen sollten, um, im Fall einer Katastrophe, die ich unaufhaltsam kommen sah, Stützen und Helfer für sie bereit zu haben. Zunächst machte ich sie mit Herzen bekannt, als dem, der am besten imstande sein würde, Erkundigungen einzuziehen, ob ihre Mutter noch lebe, da sie wußte, daß sie sich in Rußland verheiratet hatte. Er brachte auch nach einiger Zeit die Nachricht, daß sie noch lebe, welchen Namen sie trage, wo sie sich aufhalte. Eugenie war tief ergriffen von dieser Nachricht, und lange kämpfte sie mit dem Wunsche, sich an das Mutterherz zu flüchten und dessen Schutz für sich und ihr Kind anzuflehn. Dann aber siegte die Rücksicht in ihr, daß es der Mutter, die jetzt in neuen Familienverhältnissen lebte, einen schweren Schlag versetzen könnte, plötzlich die vielleicht nie von ihr bekannte Tochter wiederzufinden. Warum sollte sie den Frieden derjenigen stören, die wahrscheinlich einst schwer unter der Notwendigkeit gelitten hatte, ihr zu entsagen, nun aber wohl längst, sie glücklich wähnend, die Vergangenheit zur Ruhe gebracht hatte! Ich fand diese Gründe so edel, daß ich ihnen nichts entgegensetzen wollte, obgleich ich Eugenie gern bei einer wahren Mutter geborgen gewußt hätte. Außerdem aber machte ich sie noch mit einem der bedeutendsten Advokaten Londons bekannt, den ich durch Herzen kannte. Wir verbrachten mehrere Stunden mit ihm, um ihm den ganzen Fall auseinander zu setzen und seinen Rat zu erbitten, inwiefern das möglich sei, was Eugenien als einziger Ausweg vorschwebte, nämlich: mit ihrem Kind zu entfliehen und sich, womöglich, in eine unbekannte Ferne der neuen Welt zu retten, wo sie von ihrer Arbeit leben und ihr Kind zu würdigeren Ansichten auferziehen wollte. Der Advokat, ein edler, gefühlvoller Mensch, war sehr gerührt von ihrer Lage und bereit, ihr in jeder Weise zu helfen, aber er verhehlte ihr nicht, daß eine solche Flucht die größten Schwierigkeiten hätte, daß das Gesetz den Vater ermächtige, sein Kind wieder zu holen, wie fern man es auch führe, und daß es schwer sein würde, sich so zu verbergen, daß polizeiliche Nachforschungen, die jedenfalls eintreten würden, nicht auf die Spur kämen. Daß auch denen, die zu einer solchen Flucht helfen würden, die strengsten Strafen, selbst Deportation, bevorständen, erwähnte er nicht; ja er sagte in einer Aufwallung großmütigen Mitleids: »Ich würde bereit sein, Ihnen zu helfen!« welche Äußerung Eugenie bis zu Tränen rührte.

Durch den Umgang mit Emilien und Eugenien kam ich dem englischen Leben wieder viel näher, als es während der Zeit meines Aufenthalts im Herzenschen Haus der Fall gewesen war. Der sogenannten guten Gesellschaft freilich näherte ich mich nicht und suchte alle Verbindungen aus der ersten Zeit meines Londoner Aufenthalts nicht wieder anzuknüpfen, denn mir fehlte die Neigung dazu. Auch erlaubten meine Verhältnisse den Aufwand von Toilette, Wagen usw. nicht, den solche Beziehungen in London notwendig machen. Ich wandte mich aber der Kenntnis des Volkslebens, der sozialen Zustände, des sozialen Elends zu, teils weil da, wie immer, mich das Mitgefühl hinzog, teils weil ich für ein deutsches Journal schreiben wollte, und mir Gegenstände eines tieferen Interesses suchte, als die Gesellschaft mir bieten konnte. Ich wurde mit einer deutschen Dame bekannt, die zu einem von einem deutschen Prediger gestifteten Verein zur Unterstützung armer deutscher Familien gehörte. Sie bot mir an, sie zuweilen in ihren Wanderungen in jene Quartiere, wo die Armen wohnen zu begleiten. Ich nahm das gern an, und so fuhren wir eines Morgens im Omnibus dem Gebiet von White Chapel zu – eine unendlich lange Fahrt, denn White Chapel liegt noch hinter der City und repräsentiert den niedrigsten Grad des Geschäftslebens. Hier lebt die unterste arbeitende Klasse, das Proletariat und das offenkundige Laster.

Arme deutsche Familien gibt es da zu Hunderten; zum Teil sind es die deutschen Straßenmusikanten, die Orgeldreher usw., zum Teil Handwerker aller Art, die ihren Lebensunterhalt hier zumeist durch das Reinigen von Häuten und das Verfertigen grober Pantoffeln verdienen; harte, mühselige und ungesunde Beschäftigungen, besonders die erste, da sie dabei im Wasser stehen müssen. In diesem Winter aber fehlte oft auch dieses karge Brot, denn es war sehr kalt. Hunderte von Arbeitern waren ohne Arbeit, und dies traf zunächst natürlich die Ausländer, deren Elend doppelt groß war, da sie, die Frauen wenigstens, nur notdürftig englisch sprachen und sich doch immer in der Fremde fühlten. Der deutsche Frauenverein, nebst dem Prediger und dem Lehrer an der deutschen Armenschule, in der die in England gebornen Kinder wenigstens die Muttersprache lernen, taten zwar ihr Möglichstes, aber was war das gegen die große Not! –

Wir besuchten zunächst eine Straße mit ärmlichen kleinen Häusern, die fast alle von Deutschen bewohnt sind. Da fanden wir eine Familie aus der Wetterau, Bauern, die eben gar nichts anderes verstanden als Feldarbeit. Natürlich waren sie im äußersten Elend, »aber,« sagte die Frau in ihrem Dialekt, »drübe ging's uns so schlecht, daß mer's nit mehr aushalte kunnt'; die viele Tax', die mer zu zahle hat, das ging net mehr; da hab i letzt en' englisch Kammerjungfer g'sehn, die hat gefragt von wo mer sein, da hab' i g'sagt, aus der Wetterau, da bei Gieße' rum; ach, hätt' se g'sagt, so e' schön Land habe se verlasse? Ja wohl, e' schön Land, hab' i g'sagt, für d'Leut' die's Geld habn', aber für's arm' Volk das Hunger leid, da is' halt net schön, und so schlimm's hier is', so is' doch halt noch besser als daheim.«

Ähnliche schwere Urteile hörte ich von allen, und mein Herz sandte zornige, vorwurfsvolle Gedanken hinüber in die Heimat, die ihren Kindern das arme Leben so schwer macht, daß das Elend in der Fremde ihnen noch vorzuziehen scheint, ja daß sie sich nicht einmal mehr nach der Scholle sehnen, mit der doch das ganze bißchen Poesie verknüpft ist, das auch im ärmsten Menschenleben sich an Feld, Wald und Hütte knüpft, wo zuerst die Sonne, nach dem Maße der Empfindung, auch für den Ärmsten, den Schleier der Maya aus goldnen Strahlen webte. Alle die Familien, die wir besuchten, waren gute, ehrliche, von den Damen des Frauenvereins längst gekannte Leute. Aber auch selbst in dieses tiefe Elend, in diese gänzliche Armut suchten der Betrug und die listige Schlechtigkeit sich noch einen Weg. So war eine dieser armen Familien grausam betrogen worden. Ein Mann kam mit einer Frau und mietete sich bei ihnen in einem Zimmer ein, während die Familie, aus den Eltern und vier Kindern bestehend, des kleinen Erwerbs froh, sich im anderen Stübchen der erbärmlichen Wohnung zusammendrängte. Der Mann hatte sich für einen Elsässer ausgegeben und erzählt, die Frau sei seine Magd gewesen, er habe sie geheiratet und sich darüber mit seiner Familie entzweit; dann sei er Soldat geworden, es habe ihm aber nicht gefallen und er sei desertiert, er könne daher nicht nach Frankreich zurück, wenn er aber Reisegeld hätte, so wolle er die Frau nach Frankreich schicken, um seine Mutter, die sich mit ihm versöhnt habe und sein großes Vermögen besitze, abzuholen; dann würde er ihnen gern eine Summe vorschießen, um ein kleines Bäckergeschäft einzurichten. Die gutmütigen und leichtgläubigen Leute, von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verführt, trugen alles ins Pfandhaus, was sie nur irgend entbehren konnten, und brachten das Reisegeld zusammen. Die Frau ging; der Mann blieb, aß und trank noch mit ihnen das wenige, was sie hatten, sagte dann, er habe einen Brief bekommen, die Frauen seien in Dover gelandet und er wolle sie an der Eisenbahn abholen. Er nahm noch den Mantel des Wirts um und – »die Tage gingen wohl auf und nieder, den Mann aber brachte keiner wieder«.

Die armen Geprellten aber saßen da, die letzten Kohlen auf dem Kaminfeuer, die hungrigen Kinder am leeren Tisch, das eine krank im Bett, die Frau nur noch im Unterrock, da sie alle Kleider weggegeben hatte, Ströme von Tränen weinend, der Mann ohne Stiefel, mit tiefem, verbissenem Gram im Gesicht; dazu keine Arbeit, keine Hilfe im fremden Land, und in drei Tagen mußte unabweisbar die Miete gezahlt werden!

»Viele haben uns geraten, aufzubrechen und in ein anderes Haus zu ziehen, ohne die Miete zu bezahlen,« sagte die Frau schluchzend, »das will ich aber nicht; eher sollen sie mir auch das Bett wegnehmen, ehe ich mir den Namen hier unter den Deutschen mache.«

So war das deutsche Ehrgefühl der letzte Funke von Patriotismus, der sie am Rande des Abgrundes zurückhielt. Und solches namenlose Elend und noch tieferes barg die große glänzende, goldgefüllte Weltstadt in ihrer Mitte! Aber sie dachte nimmer daran, es zu schauen und verhüllte es weitab von ihren Freuden in Nacht und Grauen. – Gladstone rief es ihr in einer Rede, die er damals beim Beginn der Saison hielt, warnend zu: »Ost und West laufen parallel und das Westend sollte sich in seinem Glanz, seiner geselligen Lust, seinem Luxus daran erinnern, daß es auch ein Ostend gibt, wo die Schale in eben dem Maße sinkt, als sie im Westend steigt.« Noch eine Szene komischen Tugendstolzes erlebten wir auf dieser sonst so traurigen Fahrt. Wir traten in einen Bäckerladen ein, um nach einer Straße zu fragen, in der wir auch noch eine Familie besuchen wollten. Die Bäckerin, eine kleine, ungewöhnlich dicke Frau, warf den Kopf zurück, maß uns von oben bis unten mit höhnischem Entsetzen und fragte: »Wie, in die Straße wollen Sie gehen? O Himmel, da wohnen ja nichts als schlechte Frauenspersonen! In die Straße würde ich keinen Fuß setzen, und wenn meine leibliche Mutter darin wohnte!«

In dem Augenblick trat ein Mann zum Laden herein, die tugendhafte Entrüstete wandte sich sogleich zu ihm und rief: »Denken Sie doch, die Damen wollen nach Brunswick-Place. Ist das nicht schrecklich?«

»Um da zu wohnen?« fragte der Mann mit zweideutigem Lächeln.

»Um eine arme Familie zu besuchen,« erwiderte meine Gefährtin.

»Bei meiner Ehre, es ist unmöglich, in eine solche Straße zu gehen!« rief die Bäckerin abermals in immer steigendem Eifer und erzählte nun fortwährend allen Leuten, die in den Laden kamen, die schreckliche Mär. »Nein,« fuhr sie fort, »wir, die wir hier herum leben, wir wissen etwas davon zu sagen, was für ein Abscheu das ist; am Tag die zerlumpten, scheußlichen Gestalten, und am Abend kommen sie heraus, so aufgeputzt, daß man sie nicht wiedererkennt, und dann kommen die Matrosen – o – und pfui!« Die tugendhafte Bäckerin hielt sich die Hand vor das Gesicht, wie um die Bilder abzuwehren, die sie heraufbeschworen.

»Aber Sie sollten diese Unglücklichen lieber bemitleiden und sie zu bessern suchen, als Steine auf sie zu werfen,« sagte ich.

»Bessern? Good gracious me! bessern?« rief sie, indem sie den Kopf abermals stolz zurückwarf und mir einen zornigen Blick zuschleuderte. »Sind nicht hier in der Nähe mehr Kirchen als anderswo? Können sie nicht dahin gehen? Nein, sie wollen gar nicht gebessert sein; es ist ihnen bequemer, so Geld zu erhalten, als durch ehrliche Arbeit. Unsereins muß arbeiten von vier Uhr morgens bis abends spät, und am Sonnabend gar volle siebzehn Stunden; aber es ist ehrlich gewonnenes Brot; und dabei halten wir unsere Leute gut: ein Gesell bei uns bekommt seine sechzehn Schilling die Woche, jeden Tag ein Brot und Sonnabends Tee und Brot und Butter, so viel er will. Das heißt sich ehrlich ernähren! Aber die Kreaturen! – da verdirbt immer eine die andere, und dann kommen sie zu uns und nehmen Brot auf Kredit, und wenn sie nicht zahlen können, gehen sie zu einem andern Bäcker – ja so geht's, wenn man zu gut ist.« –

»Können Sie nicht einen deutschen Bäckergesellen brauchen?« unterbrach ich den Redestrom der Tugendhaften, die immer röter wurde und förmlich aufschwoll vor Selbstgefühl.

»Nein, die Engländer sind bessere Bäcker als die Deutschen,« war die kurze positive Antwort.

Wir verließen diesen selbstzufriedenen Falstaff in Frauenkleidern und begaben uns dennoch in die gefürchtete Gasse, wo wohl das Laster in seiner rohesten Gestalt wohnen mochte, wo uns aber weiter nichts begegnete, als der herzzerreißende Anblick der armen Familie, die wir suchten. In einem finstern kleinen Raum ebener Erde saßen zusammengedrängt: der Vater, ein Deutscher, der Seitenkämme machte, mit seiner Arbeit, die Mutter, eine Engländerin, die älteste Tochter, mit Näharbeit beschäftigt, und drei schüchterne kleine Kinder auf einem Bänkchen. Der Vater war jahrelang krank gewesen, und als er wieder arbeiten konnte, war die Mode der Seitenkämme vorbei, und wurden diese zudem durch Maschinen schneller und billiger gemacht. Ein anderes Geschäft konnte er nicht anfangen, denn zu jeder ersten Einrichtung gehörte Geld, das er nicht hatte. Es blieb also nichts übrig, als im engen Stübchen zu sitzen und Kämme zu machen, die dann die Frau, so gut es ging, in den Straßen verkaufte. Von dem kargen Erlös lebten sie, und die Kinder hielten sie ängstlich im kleinen Stübchen fest, denn wenn auch der Körper in der furchtbaren Atmosphäre dieses dumpfen Lochs verkrüppelte, so war sie doch besser wie die draußen, denn da verdarb die Seele.

Draußen war aber diesmal ein herrlicher klarer Wintertag, sogar die City hatte blauen Himmel, und auf den Dächern der Häuser funkelten Sonnenstrahlen; es war spät geworden über all den Besuchen. Doch mein Herz war schwer und es brannten glühende Tropfen darauf, die Tränen, die ich in so vielen Augen an diesem Tag gesehen. Als wir dahin rasselten den endlosen Weg durch die City und ich an alle die Millionen dachte, die da aufgehäuft sind in den Gewölben der reichen Kaufherren, da überkam mich ein Grauen vor der Verantwortung, die die eine Hälfte der Gesellschaft auf sich ladet. Es fiel mir eine Geschichte ein, die mir Domengé erzählt hatte, der jetzt Geschäfte besorgte für einen unermeßlich reichen jungen Mann der City, eines jener gedankenlosen Kinder des Glücks, die schon im Reichtum geboren, nicht wissen, wie sie das Leben am besten verschleudern sollen. Domengé mußte jeden Sonnabend in die City zu ihm ins Kontor, um Rechnung abzulegen. Er erzählte mir, wie ihm oft das Blut koche vor Zorn, wenn der junge Fant hereintrete und mit hochmütigem Behagen auf die seiner harrenden Geschäftsleute herabsehe, als wolle er sagen, »die alle hängen von mir ab,« und wenn er dann mit der Wollust eines Tyrannen seine Launen an ihnen auslasse. Domengés Geist imponierte ihm, und ihn behandelte er höflich, lud ihn auch zum Essen oder sonstigen Vergnügungen ein. Einmal hatte bei einer solchen Gelegenheit Domengé versucht, einen Proselyten an ihm zu machen, oder ihn wenigstens zu dem Geständnis zu bringen, daß der jetzige Zustand der Dinge ungerecht sei. Er hatte ihm mit dem größten Eifer vorgeredet und alle Einwände des andern mit der edelsten Beweisführung totgeschlagen, bis der junge Mann endlich sagte:

»Mein Gott, das ist alles recht schön und gut, aber was geht es mich an? Ich bin im Besitz geboren, ich habe ein Recht zu genießen und ich gebrauche mein Recht

»Nun gut,« erwiderte Domengé, indem er aufstand, um sich zu empfehlen, »gebrauchen Sie Ihr Recht, nur wundern Sie sich nicht, wenn dann eines Tages auch die andern ihr Recht gebrauchen.« –

Es war ein furchtbar kalter Winter, und die Erscheinungen des Elends mehrten sich infolgedessen so, daß man nicht einmal im eigenen kleinen Stübchen Ruhe davor hatte. Oft wurde ich plötzlich von der Arbeit aufgescheucht durch einen düsteren Gesang, der mein Herz erbeben machte und wie ein Chor der Erinnyen klang, die kommen, eine furchtbare Tat an den Sterblichen zu rächen. Ich trat dann, vor Erregung zitternd, an das Fenster und sah »in langsam abgemessenem Schritte« einen Zug nahen. Nicht etwa Greise und gebrechliche Menschen, sondern kräftige, stark gebaute Männer, die ein Lied sangen mit einer schaurigen Grabesmelodie, dessen Refrain war: no work! (keine Arbeit). Sie gingen einer hinter dem andern her, und der Vorderste trug einen grünen Zweig an einen Stock gebunden. Traurige Ironie! das Grün der Hoffnung für die Hoffnungslosen! – Sie hielten vor jedem Hause an und schauten sehnend zu den Fenstern hinauf, öffnete sich keines, warf keine mildtätige Hand Hilfe herunter, so zogen sie langsam weiter. So sehr war dieses sonderbare Volk vom Geiste der Legalität durchdrungen, daß diese hungernden Zyklopen nicht einmal die Faust ballten gegen die verschlossenen Fenster und, ihr Grablied singend, weiter zogen. Diese Züge waren nicht etwa vereinzelt, sondern sie folgten sich ununterbrochen, und zwar wiederholte sich das schon seit einer Reihe von Jahren nur in immer steigendem Maße, je mehr die Preise der Lebensmittel stiegen und je weniger der Arbeit wurde. Die einzigen legalen Mittel, die sie anwendeten, waren: 1. Meetings, in denen ihre damals beliebtesten Volksredner, zu denen Ernest Jones, der Chartistenführer, gehörte, sprachen, um die Ursachen der Not und die Mittel zur Abhilfe klar zu machen; 2. das Appellieren in Masse an die Arbeitshäuser und, wenn das nichts half, an den Magistrat des Bezirks. Ich ging hin, einem solchen Meeting beizuwohnen, die gewöhnlich auf freien Plätzen in den verschiedenen Stadtbezirken gehalten wurden. Dieses fand auf einer Wiese in der Gemeinde von St. Pancraz statt, wo die Bevölkerung meist aus außerordentlich armen Arbeitern besteht. Der Redner, auch ein Arbeiter, stand auf einem kleinen Hügel; ringsum drängten sich Hunderte von Menschen beiderlei Geschlechts. Er entwarf klar und scharf mit der praktischen Kürze des Engländers ein Bild des Arbeiterlebens und des unnatürlichen Verhältnisses zwischen Arbeit und Lohn. Man fühlte an jedem Wort, daß es aus seinem eigenen Erleben kam, daß er wußte, um was es sich handle. »Ich erröte,« sagte er unter anderem, »und bin seit mehr als acht Jahren, wo ich in London bin, errötet, daß ich arbeite, arbeite, und niemals mehr erarbeiten kann, als um gerade notdürftig zu leben. Dennoch fühle ich Fähigkeiten in mir, die gerade so gut sind, wie die jener, die im Überflusse leben.« – Dann entwickelte er treffend die notwendigen Resultate des jetzigen Zustandes der Gesellschaft, wie der ungeheure Reichtum auf der einen Seite notwendig die Armut auf der andern nach sich ziehe. Er wies darauf hin, wie wenig die Reichen an eine solche Konsequenz dächten. Wenn sie z. B. ausfahren wollten und hätten dazu zwanzig Personen in Bewegung gesetzt, vom Kammerdiener und der Kammerjungfer an bis zum Stallknecht herab, und beim Einsteigen nahe sich ihnen bittend ein Kind des Elends, so sagten sie ungeduldig: »Gott! kann man denn die Bettler gar nicht los werden?« Die natürliche Folge dieser Zustände sei denn auch, daß Räuber und Diebe in England überhandnähmen und daß die Straßen von London so unsicher seien wie eine öde Gebirgsgegend.

Seine Vorschläge zur Abhilfe waren hauptsächlich: freie, vom Gouvernement garantierte Emigration und Verkürzung der Arbeitszeit. Es waren dies die Vorschläge der Arbeiterpartei, die unter dem Einfluß der Geistlichkeit stand, während die Chartisten die Idee der Auswanderung total bekämpften und behaupteten, daß die Bebauung des vielen brachliegenden Landes in der Heimat hinreichen würde, der Armut abzuhelfen. Sie hatten dabei den ungeheuren Grundbesitz des englischen Adels und die meilenweit sich erstreckenden Parks, die nur zum Genuß einzelner da sind, im Auge. Sie fürchteten, daß mit der Auswanderung der Gärungsstoff aus der Heimat entführt würde, sowie ein Teil der starken rüstigen Arbeiterbevölkerung, auf der die Wohlfahrt eines jeden Landes beruht.

Die Chartisten suchten überhaupt der Bewegung einen politischen Charakter zu geben, und dies wußte man sehr wohl und fürchtete es. Auch war die Sache ernst genug, und die Times beschäftigte sich eingehend mit der Frage und ermahnte zur Abhilfe, besonders durch gründliche Reform der Arbeitshäuser. Wie wenig diese letzteren zur Abhilfe der Not ausreichten, davon erzählten mir die Umstehenden eben bei jenem Meeting eine Menge Beispiele. So berichtete unter anderem eine Frau, daß ihr Mann seit Wochen ohne Arbeit gewesen sei und sich daher genötigt gesehen habe, sich im Arbeitshaus zu melden. Er war Zimmermaler von Profession, dort aber hatte man ihm Steine zu brechen gegeben. Dafür bekam er am Abend ein Brot und drei englische Pfennige. Seine Hände waren aber von der harten Arbeit so verdorben worden, daß sie für lange zu seinem eigentlichen Handwerk untauglich waren. Nun mußte er in das Land hinein gehen, um andere Arbeit zu suchen, und Frau und Kinder saßen inzwischen harrend und hungernd daheim. Ähnlicher Fälle waren es unzählige.

Nach beendigter Rede zog die ganze Masse in geordnetem Zuge, der Redner voran nach dem St. Pancraz-Arbeitshaus und stellte sich dort ordentlich und still auf. Einige der Führer mit dem Redner stiegen die hohe Treppe hinauf, auf deren oberem Absatz mehrere Beamte des Arbeitshauses standen und mit finsterem trotzigen Gesicht auf die Menge herabschauten. Da gab es nun ein langes Hin- und Herreden, während dessen ich mich wieder mit den mir zunächst Stehenden unterhielt.

»Ach,« sagte mir eine Frau, »da drinnen ist alles gespickt voll von Polizeidienern, und machten wir nur den geringsten Versuch der Gewalt, so würden sie augenblicklich erscheinen und die Männer in Gewahrsam bringen. Die Herren vom Arbeitshaus wissen wohl, warum sie uns nicht gern vor den Magistrat lassen: dann würden die Sachen genauer untersucht werden; sie haben aber ihren Vorteil dabei, wenn sie uns Arme schlecht behandeln.« –

»Aber wenn ihr es doch wißt, daß euch dies Appellieren an die Arbeitshäuser nichts hilft,« sagte ich, »warum geht ihr denn nicht alle zusammen, fünfzig oder sechzig Tausend an der Zahl, und stellt euch um das Parlamentshaus herum auf und fordert ruhig, daß sie euch hören? Sagt, ihr wollt keine Gewalt brauchen, aber ihr wollt nicht eher weggehen, bis sie euch Hilfe geschafft haben. Ihr seid ja ein freies Volk, warum gebraucht ihr eure Freiheit nicht?«

»Ach,« erwiderte die Frau, »wir armen Leute sind immer so furchtsam, ehe wir so etwas tun.«

Inzwischen war die Unterredung oben beendet. Einer der Beamten trat vor und rief mit strenger Stimme der Menge eine Warnung zu, auch nicht das leiseste Zeichen von Widersetzlichkeit zu geben, weil sie sonst nichts erreichen würden. Er wiederholte mehreremal fast drohend: »Nehmt euch in acht, nehmt euch in acht; es sind Spione unter euch, denen traut nicht.« Wahrscheinlich meinte er damit die Chartistenführer.

Das Volk versprach, sich ruhig zu verhalten, und die Beamten verschwanden im Haus zur Beratung. Natürlich kam dabei weiter nichts heraus als leere Versprechungen, mit denen die hungernde Menge nach Hause ging.

Infolge aller dieser Vorfälle machte der Lord-Mayor mit einigen Magistratspersonen eine nächtliche Expedition à la Harun-Al-Raschid und überraschte mehrere der Armenhäuser mit seinem unerwarteten Besuch. Da fanden sich denn allerdings unerhört schreckliche Dinge; so unter anderem, daß die Häuser, in denen die obdach- und arbeitslosen Armen für die Nacht ein Unterkommen finden sollten, weiter nichts waren als Ställe, wo Männer und Frauen auf Lumpen in schaudererregendem Elend zusammen lagen. Dazu waren diese elenden Schutzstätten oft noch meilenweit entfernt, so daß die Armen, die sich abends müde und matt bis zum Armenhaus geschleppt hatten, wenn sie auch noch eine Aufnahmekarte bekamen, nun noch weit gehen mußten, um das trostlose Nachtquartier zu erreichen.

Die eingehende Beschäftigung mit diesen Dingen trug natürlich nicht dazu bei, meinen Sinn aufzurichten und einen versöhnenden Schimmer über mein Leben zu werfen. Nur daß ich, in der großen Kette der Leidenden und Elenden, mir das Recht absprach, mich zu beklagen oder mein Leid höher anzuschlagen als das der Tausende, die in der Qual des Daseins seufzten. Mir stieg zum erstenmal der ernste Zweifel an der Möglichkeit der Perfektibilität der Welt auf, und es fing an mir klar zu werden, daß das Dasein selbst das Übel sei, von dem wir uns zu erlösen suchen müßten. Wenn ich diese Tausende ansah, die allein in der großen Weltstadt, in einem mehr tier- als menschenähnlichen Zustand dahinlebten, dann überfiel mich ein Grauen; wie war hier zu helfen? Daß die politische Revolution allein nicht helfen könne, war mir längst klar geworden. Daß die soziale Revolution, wenn sie im Zorn kommen und sich wie ein verheerender Bergstrom über die zivilisierte Welt stürzen sollte, auch nicht helfen würde, das war ebenso klar. Hatte doch die große, französische Revolution sattsam gezeigt, welche Früchte die entfesselte Roheit und die blinde Leidenschaft des Nivellierens bringt. Wie sollte daraus Gutes keimen, wenn im Sturm der Vernichtung alle die teuersten Güter der Menschheit, die Summe ihrer idealen Existenz, mit fortgefegt würden? Wenn der Spiegel des historisch Gewordenen, in dem die Menschheit ernst und sinnend ihr Bild anschauen sollte, um daran zu lernen, zertrümmert würde, würden nicht die rohen Elemente, die von vorne anzufangen hätten, so ziemlich denselben Weg gehen, den die vorigen Jahrtausende gingen, nur mit dem Nachteil, des warnenden oder erhebenden Rückblicks auf das Gewesene zu entbehren? Würden nicht Kraft, Klugheit und Geist immer wieder aus der Masse einzelne Individuen hervorheben und die moralische Ungleichheit wieder herstellen, selbst wenn es gelänge, eine Formel zu finden, unter der die materielle Gleichheit möglich wäre?

Schwer lasteten diese Bedenken und Zweifel auf mir. Oft fragte ich mich voll Schrecken: Hat Malthus recht, ist wirklich nicht für alle Raum am Bankett des Lebens? Bringt die verschwenderische Natur, wie sie im Frühling tausend Blüten vom Baume weht, die keine Frucht tragen, so auch die Masse nur hervor, um die Gattung zu bilden, unbekümmert darum, ob unzählige Individuen zu Grunde gehen oder nicht? Kommt es nur darauf an, daß der Genius lebe und wie ein einsames Meteor durch die Nacht der Allgemeinheit strahle? Die Natur selbst ist aristokratisch; ihre vorzüglichsten Organismen, ihre großen Geisteshelden, bringt sie nur sparsam hervor, während sie verschwenderisch ist mit der Masse, gleichsam als ob ihr nichts daran läge, daß davon Tausende untergehn, ohne nur einmal einen Moment der Gottähnlichkeit gefühlt zu haben.

Mein Herz protestierte gegen diese Gedanken; wie viele, wie Unzählige, die zur herrlichsten Entwicklung berufen gewesen wären, gehn auch verloren in der Masse, durch Mangel an Mitteln, und in jedem Falle: war nicht das Leiden da, das tiefe Elend, und fühlten das nicht alle? Mußte da nicht geholfen werden? –

Zu einem Schluß führten mich jedoch diese Gedanken, nämlich daß wir, die wir alle Idole und falschen Götter zertrümmert zu haben meinten, uns freiwillig einen neuen Götzen geschaffen hatten: das Volk nämlich. »Das Volk« war der Refrain der demokratischen Phrase geworden, als wenn es ein Wesen höherer Art, eine bisher verkannte Gottheit sei, als wenn von ihm der Inhalt der neuen Weltlehre ausgehn und eine verklärtere Moral an die Stelle der alten gesetzt werden würde. Was die Massen, das sogenannte Volk, in ihrem bisherigen Zustand waren, das hatten wir in den Jahren Achtundvierzig und Neunundvierzig gesehen: ein Werkzeug in den Händen geschickter Führer. Was sie mit der Freiheit anzufangen wußten, ohne dafür erzogen zu sein, das bewiesen die Plebiszite in Frankreich. Daß in diesen unwissenden brutalen Massen auch schöne menschliche Empfindungen, erhabne Tugenden, rührende Entsagung und Selbstverleugnung vorkommen, daß Talente aller Art dort im Keime vorhanden sein könnten, wer hätte es leugnen wollen? Worauf kam es also an? Nicht darauf, die rohe Masse, als solche, zur Herrschaft zu erheben, wie die Demokratie es ihr schmeichelnd versprach, sondern die Wege zu öffnen, die Rechte festzustellen, die Institutionen zu gestalten, damit Arbeit und Verdienst für alle da sein und in die dumpfe Öde der Lasttierexistenz der beglückende Strahl wahrer Bildung dringen könne. Dieses tat und tut, aber nicht nur nach unten, sondern auch nach oben hin, not, um alle Stände zu vereinen zu einem Volk, das sich in freudiger Anerkennung um seine Genien und Heroen schare und in ihrem segenspendenden Lichte beglückt lebe; wie es denn ja, nach dem Genius selbst, das größte ist, den Genius zu erkennen und zu lieben.

Wenn ich aber an die Größe dieser Aufgabe dachte, schwindelte mir. Konnten Jahrhunderte dazu genügen? Und wenn die nackte Wirklichkeit in ihrer grauenerregenden Gestalt vor mich hintrat, dann ergriff mich Verzweiflung. Eines Abends, wo ich zum erstenmal nach meiner Rückkehr aus Hastings bei Friedrich und Charlotte gewesen war, ging ich nach zehn Uhr nach Hause. Ich ging allein, obgleich es eine wahre Reise bis heim zu mir war, aber ich hatte niemand, mich zu begleiten, und einen Wagen zu nehmen, war mir zu teuer. So hatte die Not mich gelehrt, furchtlos zu sein. Es war ein häßlicher, feuchter Winterabend. Mein Herz war schwer, denn das Vergangene war mir dort im Hause wieder lebhafter wie je vor die Seele getreten, und ich empfand es bitter, was jene bleichen, unseligen Schatten sagen: »Nessun maggior dolore che ricordarsi del' tempo felice nella miseria.« Ein feiner Regen näßte meine Kleider und machte die Straße schlüpfrig; ehe ich an die große Fahrstraße der Omnibusse kam, glitt mein Fuß aus, ich fiel auf die feuchte Erde, mein Kopf dicht an einen großen Stein. Zum Glück war der Omnibus nahe, und ich konnte wenigstens einen Teil des Weges fahren. Dann aber mußte ich wieder zu Fuß eine der langen, volkreichen gewerbetätigen Straßen durchmessen, bis ich zu der stilleren Seitenstraße kam, in der meine Wohnung lag. Während dieses Weges starrten mir nun alle die grausigen Nachtbilder entgegen, an denen das ungeheure London so reich ist. Da stand, unbeweglich wie eine Bildsäule, am Weg eine skelettartige Frau in Lumpen, an der von Kälte starren Brust einen totenbleichen Säugling, neben sich zwei andere, halb nackte, frierende Kinder, die sich ängstlich an den zerfetzten Rock der Mutter schmiegten, um sich zu wärmen. Die Frau sagte nichts, sondern blickte nur mit gläsernen Augen die Vorübergehenden an, aber um den Hals hing ihr ein pappenes Schild, auf dem in großen Buchstaben stand, daß der Mann krank darniederliege, daß sie »out of work« (der furchtbare Refrain des Arbeitsliedes) seien und das Mitleid der Vorübergehenden ansprächen. Schaudernd legte ich meine kleine Gabe in die dürre Hand, die sich maschinenmäßig öffnete und schloß, ohne daß die Lippen weder Bitte noch Dank aussprachen. Ein paar Schritte weiter standen andere Frauengestalten, auch die Armut, aber die entehrte, mit frechen Blicken und frechem Lachen, in widerlichen Flitter gehüllt; dann wieder Männer, so tierisch, brutal und scheußlich, daß man den Blick abwandte. Dann keuchende Greise, von denen man kaum begriff, wie ihnen das elende Leben nicht schon so zur Last sein mußte, daß sie es lieber freiwillig beendeten, und die doch noch mit lüsternem Blick nach den erleuchteten Schaufenstern der Bäcker- und Konditorladen schauten. Dann endlich – halbnackte Knaben und Mädchen, die das Laster schon mit seinem scheußlichen Stempel gezeichnet hatte. Außer mir, das Herz zerrissen von unsäglichen Qualen, erreichte ich endlich meine Wohnung. »Das ist die Menschheit, von deren Erlösung auch du den begeisterten Traum geträumt hast?« rief ich händeringend, »für die du alles hinwarfst, was das Leben schön und lieblich macht, für die so viele Heroen den Marter- und Kreuzestod erlitten? Das ist die Welt, in der der Egoist behaglich sein beglücktes Leben lebt und die der Welten beste sein soll? Das ist das Ebenbild des Gottes, von dem blödsinnige Priester sagen, daß er der Allgütige, Gerechte, Allliebende sei?« In fieberhafter Aufregung durchschritt ich noch lange mein kleines Zimmer, und als ich spät mein Lager suchte, verfolgten mich wilde Träume. Die Welt war nur mit Tigern und Panthern bevölkert, die sich untereinander zerfleischten, während furchtbare Schlangen sich zischend um die Sterbenden ringelten.

*

Im Februar ereignete sich ein Todesfall in der Emigration, der mich sehr ergriff. Der edle Pole Stanislaus Worcell erlag endlich dem schon lange ihn verzehrenden Übel. Ich hatte ihn seit meinem Scheiden aus dem Herzenschen Hause nicht wiedergesehen. Aber die Ehrfurcht vor seiner hohen Tugend war mir geblieben und machte es mir zu einer Pflicht, bei seinem Begräbnis mitzugehen, und ihm die letzte Ehre zu erweisen. In England sind die Frauen nicht ausgeschlossen von den Begräbnissen. Es steht ihnen frei, dem Bedürfnis des Herzens zu folgen und ihre Geliebten auf dem letzten Wege zu begleiten – ein Bedürfnis, das auf die ewige Sehnsucht der Liebe gebaut ist, bis zum letzten Augenblick alles tun zu können für die Geliebten und ihnen nahe zu bleiben, bis sich die Erde über ihnen geschlossen hat. Es war ein schöner, klarer Wintermorgen, als ich zu dem Trauerhause ging, ein einfaches, bürgerliches Haus, in einer der stillen, nicht von der Aristokratie bewohnten Straßen. Hier hatte Worcell, in einer trefflichen englischen Bürgerfamilie, die letzte Zeit seines Lebens zugebracht. Großherzige englische Freunde hatten ihn unterstützt, als die schwere Krankheit den von geistigen und körperlichen Leiden früh Gealterten hinderte, seine vielfachen Kenntnisse durch Stundengeben länger für seinen Lebensunterhalt zu verwerten. Ich habe schon früher erzählt, welch bitteres Leid Worcell widerfahren war und mit welcher Seelengröße er es trug. Seine edle, über jeden Tadel erhabene Persönlichkeit hatte ihn zu einem Gegenstand tiefster Verehrung für alle, die ihn näher kannten, gemacht. Er war unausgesetzt einer der Chefs der demokratischen polnischen Partei gewesen und hatte nie den Glauben an die Zukunft Polens verloren. Noch beim Anfang des Krimkrieges hatte er bestimmt auf eine polnische Erhebung und ihre Unterstützung von selten der Alliierten gehofft. Damals wurden in ganz England große Meetings in diesem Sinne gehalten, bei denen Kossuth das Wort führte, da die Polen keinen Redner hatten, denn Worcell, der es der Fähigkeit nach gewesen wäre, konnte seines Asthmas wegen nicht öffentlich sprechen. Aber er begleitete Kossuth überall hin und sprach durch seine Erscheinung für die Sache. Auch fanden die Meetings enthusiastische Teilnahme im englischen Volk, aber dabei blieb es. Die alliierten Mächte hatten weder die Kühnheit noch den Willen, sich der Revolution als Mittel gegen den Feind zu bedienen, und die Völker nahmen weiter keinen Anteil an diesem Krieg, als daß sie bluteten und Geld zahlten. Worcell jedoch hoffte und hoffte bis zum letzten Augenblick, und als sein Freund Joseph Mazzini (von dem Worcell einmal in meiner Gegenwart sagte, er sei der reinste Charakter, den er je im Leben gekannt) an seinem Sterbelager stand, um Abschied von ihm zu nehmen, da flüsterte Worcell mit der kaum noch vernehmbar schwachen Stimme: »Wenn sich die Völker einst wieder erheben, dann vergeßt auch Polen nicht.« – Ja, und wenn Polen einst seinen Märtyrern im Glanz der mit ihrem Blut erkauften Freiheit ein Denkmal setzen sollte, so muß es den Namen von Stanislaus Worcell in die ersten Reihen schreiben, denn er hat den Tod, der bitterer ist als der auf dem Schlachtfelde, für sein Vaterland gelitten. Als ich am Trauerhause anlangte, fand ich bereits zahlreiche Gruppen der Verbannten aller Länder davor versammelt, von Scharen neugieriger Engländer jeden Alters und Geschlechts umgeben, die mit Staunen auf die vielen ihrem Inselland Fremden hinsahen und auf das Ungewöhnliche, aller englischen Sitte Widersprechende, warteten. Ich trat in das Haus und in das offene Zimmer des Erdgeschosses, wo der Sarg stand. Er war noch offen, damit alle noch einen Blick auf das edle Antlitz werfen könnten. Die Züge hatten eine plastische Schönheit; auf der reinen, faltenlosen Stirn, von grauem Haar umgeben, lag die Verklärung der Überwinder. Ein englischer Künstler, ein poetischer Mensch, naher Freund des Verstorbenen und auch mir bekannt, trat mit mir zum Sarg. Wir sprachen leise zusammen von dem wunderbaren Geheimnis des Todes, der die Züge edler, großer Menschen fast immer verklärt und ihnen den Stempel dessen aufdrückt, was die Grundessenz ihres Daseins gewesen ist und was im bewegten Leben so oft durch Wolken der Seele und durch physische Einflüsse verdüstert wird. Das anstoßende Zimmer war gedrängt voll Menschen; alle nationalen Typen waren hier zu finden: Polen, Russen, Italiener, Franzosen, Deutsche; auch Engländer fehlten nicht, und ein Maler hätte eine prächtige Auswahl schöner Studienköpfe gefunden. Die Dame des Hauses mit ihren Töchtern folgten dem Sarge des verehrten Mietsmannes in einem Wagen, und sie bat mich so dringend, für den weiten Weg mit ihnen darin Platz zu nehmen, daß ich es annahm, obwohl ich lieber zu Fuß gefolgt wäre. Wir fuhren hinter dem Leichenwagen, dann kamen die Polen paarweise zu Fuß, dann die Fahnenträger mit den Fahnen der verschiedenen Nationalitäten, in der Mitte die große rote Fahne der allgemeinen Republik; hinter den Fahnenträgern kam ein Musikchor, den Beethovenschen Trauermarsch spielend, dann schloß sich der lange Zug der Emigrierten anderer Nationen an. Das schöne Wetter begünstigte das Schauspiel für die Scharen der Neugierigen, die folgten.

Meine Gefährtinnen hörten nicht auf, mit Tränen der Liebe und Verehrung von dem Toten zu erzählen. Es waren gute, liebevolle Wesen aus dem kleinen Bürgerstand, bei denen die Güte des Herzens den Mangel höherer Bildung ersetzte. Sie hatten den Toten gepflegt, geliebt, geehrt, und betrauerten ihn jetzt wie einen teuren Verwandten. Unerschöpflich waren sie im Lobe seiner Güte, Freundlichkeit und Teilnahme.

»Ach,« sagte die Mutter, »wenn wir in irgendeiner häuslichen Verlegenheit waren, wie sie bei Leuten unseres Standes öfter vorkommen, so ging ich zu ihm und sagte: ›Lieber Herr Worcell, was soll ich tun?‹ Dann hörte er mich an, beriet und überlegte, als wäre es seine eigene Sache.«

»Und er hatte auch so viel Geschmack,« versetzte die Tochter, »wir kauften kein Kleid, keinen Hut, ohne seinen Rat, und er riet immer das Schönste.«

»Ja, und oft, wenn er traurig war,« begann die Mutter wieder, »und ich neben ihm saß und nichts zu sagen wußte, was ihn hätte trösten können, dann nahm er plötzlich meine Hand und sagte mit seiner leisen Stimme: ›Ich weiß, Sie sind meine Freundin.‹«

Diese rührenden Züge von einem, der einst so hoch gestanden hatte auf der Leiter irdischer Ehren und durch Geist und Bildung diesen armen Frauen so sehr überlegen gewesen war, bewegten mich tief und erinnerten mich an ein reizendes kleines Erlebnis, das ich selbst mit Worcell gehabt hatte und das mir damals schon die ganze Tiefe seines Gemüts erschloß. Am ersten Weihnachtsfest, das ich im Herzenschen Hause erlebte, hatte ich mir ausgedacht, anonym eine kleine Überraschung für Worcell zu bereiten, der damals, sehr leidend, außerstande war, viel Stunden zu geben, und sich in den dürftigsten Umständen befand. Ich wählte dazu einige Foulard-Taschentücher, die ich selbst säumte, und verschiedene andere Kleinigkeiten, die ihm nützlich sein konnten. Die Herzenschen Kinder, denen ich meinen Plan mitteilte, waren entzückt davon, da sie den ehrwürdigen Mann auch kindlich verehrten, und beschlossen gleich, dazu beizutragen und einen Teil ihres Taschengeldes dazu zu verwenden. Nichts begünstigte ich lieber in den Kindern als solche Regungen, das Gute und Freundliche im geheimen zu tun, ohne Anspruch auf Dank und Anerkennung. So wurde denn am Weihnachtsabend, ohne daß selbst Herzen etwas davon wußte, ein schön gefülltes Körbchen zu Worcell hingeschickt in solcher Weise, daß er nicht ahnen konnte, von wo es komme. Wie es aber zu gehen pflegt, daß Mißgunst und kleinlicher Neid den Weg in die zarten Geheimnisse freundlicher Seelen zu finden wissen, um hämisch die unschuldige Freude zu stören, so hatten dennoch, ich weiß nicht wie, jene früher erwähnten mißgünstigen Polen ausfindig zu machen gewußt, wer die Gabe gesandt. Sie hatten es Worcell so darzustellen gewußt, als ob es eine Art Almosen sei, so daß dieser, wie ich erfuhr, tief verletzt war. Entrüstet über solch ein abscheuliches Verfahren schrieb ich an Worcell, erzählte ihm einfach, wie ich ihm eine Freude habe machen wollen, wie die Kinder in herzlicher Liebe sich mir darin angeschlossen, und bat ihn, von der Unmöglichkeit einer andern Auffassung der Sache überzeugt zu sein. Am Nachmittag, als wir nach dem Essen noch alle im Eßzimmer versammelt waren, trat Worcell ein. Herzen, der nun auch von der Sache unterrichtet war, ging ihm etwas befangen entgegen, aber Worcell sagte: »Heute komme ich nicht, um Sie zu sehen.« Er kam auf mich zu, und fuhr fort: »Heute komme ich zu Ihnen,« drückte mir warm die Hand, setzte sich zu mir und blieb ein paar Stunden in angeregter, geistvoller Unterhaltung bei mir sitzen. Jenes Vorfalls erwähnte er mit keinem Wort; aber es war auch nicht nötig; wir hatten uns verstanden, und mit einem freundlichen Blick zog er eines jener Taschentücher hervor, die im Korb gewesen waren.

Wir waren endlich alle in Schweigen und Erinnerungen versunken auf dem stundenlangen Wege. Ich dachte daran, wie ich nun schon zum dritten Male diesen Weg zum schönen Kirchhof von Highgate fahre, der auf einem Hügel liegt, von wo der Blick fernhin über das endlose Häusermeer von London hinschweift, das sich am Horizont im Duft verliert. Das erste Mal hatte ich auch ein Mitglied der Flüchtlingsschaft hinausbegleitet, jene Frau von Brüning, deren Haus eine Heimat für die Exilierten geworden war, mit deren Tod ein ganzer Lebenskreis zerfiel, und um deren Grab ein großer Kreis von Trauernden stand. – Das zweite Mal war mein Herz tiefer leidtragend dabei gewesen; da führten wir im engen Freundeskreise die holde Freundin hinaus, die auf dem Gipfel der schönsten Hoffnung, die des Weibes Leben krönt, plötzlich starb. Ihr Begräbnis war eine wehmutsvolle, poesieerfüllte Feier der Liebe. – Dies dritte Mal war es die Teilnahme an einer erhabenen Trauer, wie um den Tod eines Helden, die mich hinführte. – Auch in meinem persönlichen Leben bezeichneten diese drei Fahrten drei Abschnitte. Das erste Mal war ich noch im Anfang des harten Flüchtlingslebens gewesen, resigniert, stark, fest, auf die Arbeit angewiesen, ohne Glückempfindung, aber über den herbsten Schmerz der Vergangenheit gefaßt. – Beim zweitenmal stand ich auf einer reinen Höhe meines Daseins; ich hatte die ideale Vollendung jedes Lebens gefunden: die segenerfüllte Heimat der freien Wahl, der schönsten menschlichen Sympathie. Die Verstorbene hatte mich in dieser Heimat gekannt und sich meines Glücks gefreut. – Nun kam ich wieder allein, ein einsamer, heimatloser Wanderer; nicht fest und freudlos unerschrocken wie das erste Mal, sondern mit der ungeheilten Wunde der zerrissenen letzten Poesie des Lebens im Herzen!

Wir waren endlich in Highgate angelangt. Leider trug man, dem englischen Vorurteil zuliebe, den Sarg dort erst in die Kapelle. Hätte man überhaupt von Religion sprechen wollen, so hätte der Sarg in eine katholische Kapelle gehört, da Worcell als Katholik getauft worden war. Er hatte aber schon lange nicht mehr in jene engen Formen gehört, sondern sich zu der Religion der Menschlichkeit und Freiheit bekannt, in der das unverständliche Murmeln eines geistlosen Priesters keine Bedeutung mehr hat, sondern wo jeder Mensch, dessen Herz für Wahrheit und Güte schlägt, ein Priester ist. Als man aus der Kapelle trat, nahten die ersten Vertreter der Emigration, um den Sarg auf ihren Schultern den Hügel hinauf zu tragen: Mazzini, Herzen, Ledru-Rollin und andere. – Alle drängten sich zu dieser letzten Ehrenbezeugung. Am Grabe wurden ringsum die Fahnen aufgepflanzt. Zuerst sprach ein Pole in seiner Muttersprache, dann trat Ledru-Rollin hervor (den ich hier zum ersten Male sah und zum einzigen Mal sprechen hörte) und sagte:

»Mitbürger! Noch einer der unsern, der weder das Signal des Erwachens noch den Siegesjubel hören wird! Immerfort düstere Erlebnisse, immerfort Trauer, immerfort Tod! Nichts unterbricht die Stille des Exils, als nur der Klageton des Schmerzes. Schon ruht in allen Teilen der Erde von unserem Staub, und auch wir, die wir hier versammelt sind ohne Vaterland, ohne Herd, ohne Familie – haben wir eine andere Gemeinschaft mit dem Boden, auf dem wir stehen, als die des Grabes?

Und im Angesicht dieses düstern Bildes triumphiert das Laster, von Weihrauch umgeben, toll vom Rausch des Stolzes. Betrachtet man diesen ungeheuren, unerklärlichen Kontrast, so könnte man zweifeln, ob es ein Gesetz des Fortschritts, ein ewiges Gesetz der Wahrheit und Gerechtigkeit gäbe, wenn unsere Toten nicht wären, die den Stempel unveränderlicher Heiterkeit, unüberwindlicher Hoffnung tragen und uns zu Propheten werden, an denen sich unsere Seelen stärken und aufrichten.

Inmitten unseres Schmerzes laßt uns also dem Tod einen Trost entnehmen, da er zur Kraft für uns geworden ist! Zürnen wir ihm nicht, da er für uns streitet und unsere Zahl unter seinen Schlägen vermehrt! Verstehen wir es, daß, wenn sich unsere Reihen im Exil lichten, sie sich in der Heimat verstärken durch die Kraft der Belehrung und die befruchtende Größe des Beispiels!

In der Tat, wie er auch kommen möge, dieser Tod – langsam, Tropfen um Tropfen, auf dem Bett des Elends, in den Kerkern, unter dem ungastlichen Himmel von Afrika und Cayenne, oder rasch und gewaltsam von Henkershand, überall und in welcher Form es sei, trifft er den gleichen Empfang: Stärke und Unerschrockenheit, kein Murren, kein Bedauern außer dem einen: nicht mehr kämpfen zu können, und immer den begeisterten Blick des Kriegers, der im Fallen noch in die Fernen der Zukunft taucht und den naheliegenden Sieg verkündet.

Ach, es ist kein Zweifel: unsere Prüfungen sind lang und grausam, aber unsere Aufgabe ist auch groß, und wir mußten erst alle Wunden und alle Quellen des Schmerzes in unseren Herzen tragen, um siegreich aus jenen Prüfungen hervorzugehen.

Denn es handelt sich heutzutage nicht mehr bloß darum, ein Vaterland wieder zu erobern, oder eine Regierungsform zu wechseln: es handelt sich um eine gänzliche Umwälzung der Gesellschaft. Es gilt das Joch von Jahrhunderten zu brechen, Vorurteile und Finsternisse durch Wissenschaft und Licht zu überwinden. Keine Sklaverei sei mehr auf Erden, sei sie offen oder versteckt, heiße sie Dienstbarkeit oder Proletariat: An ihre Stelle trete die freie Arbeit der Assoziation als die Basis der künftigen Gesellschaft. Es gebe keine tributpflichtigen, von Fremden beherrschten Völker mehr; Gleichheit und Solidarität sei zwischen den einzelnen! Gleichheit und Solidarität zwischen den Völkern!

Solidarität der Völker! Wort, das in meiner Seele eine ruhmvolle und traurige Erinnerung weckt! Denn dieser neunte Februar, an dem wir heute Trauer tragen, war vor acht Jahren für Italien ein Tag der Freude und der Auferstehung. An ihm erhob sich das gebeugte Rom der Päpste als Republik. O Italien, Mutter unserer vergangenen Zivilisation, große Lehrerin des Okzidents, du, die durch das Frankreich der Prätorianer erstickt wurde, empfange aus meinem Munde, dem Munde eines Besiegten unserer Sache, empfange im Namen des republikanischen Frankreichs dies Wort der Sühne: Der Tag wird wiederkehren, wo sich die Fahne wieder erheben wird, auf der geschrieben steht: ›Einer für alle, alle für einen.‹ Am dreizehnten Juni wurde sie zerrissen; aber sie wird dennoch die Erde erobern, und an dem Tage wird das Morgenrot der allgemeinen Republik aufgehen. Ja, die allgemeine Republik, die Solidarität der Menschheit, das ist es, was wir, Bruchstücke so vieler Völker, hier als Hoffnung in uns tragen. Brüder! das ist mehr wie eine politische Idee, das ist ein Glaube, ein Dogma, eine Religion, deren Propaganda aus den Gräbern steigt. Der Proselytismus der Despotie empört und vergeht, während der der Märtyrer rührt, überzeugt, ergreift und bleibt.

Dann erst, wenn man um sich her so viele Bekenner des eignen Glaubens hat fallen sehen, versteht man ganz die Worte des Psalmisten: »Ihre Gebeine werden das Feld ihres Glaubens befruchten und ihr Tod wird noch mehr nützen als ihr Leben. So wird es mit dem Tod des großen Patrioten sein, dessen Überreste wir hier begraben; wir mußten ihn verlieren, damit er uns ganz offenbar werde. Das Leben Stanislaus Worcells war in der Tat so einfach, so bescheiden, so frei von jeder Ostentation, so wahrhaft republikanisch, daß selbst ich, der ich ihn zwanzig Jahre gekannt habe, erst seit gestern das ganze Maß seiner Hingebung, die volle Ausdehnung seines Opfers kenne.

Während so viele andere heutzutage sich entehren, um sich zu bereichern und zu erheben, während das Geld ihr Gott und die Habsucht ihre Tugend ist, während die Gesellschaft in ihrem Schwindel an das Kapitel im Machiavell erinnert, das zum Titel hat: ›Von denen, die sich durch ihre Verbrechen zu Fürsten machen‹, genügte es für Worcell, geboren zu werden, um ein Großer dieser Erde zu sein. Aus einem alten aristokratischen Geschlecht, Besitzer unermeßlicher Reichtümer, mit fürstlichen Familien verwandt, hat er Ehren, Rang, Vermögen in den Abgrund geworfen, in dem sein teures Polen versank. Eine Macht der alten Welt, hat er sich ohne Aufsehen, ohne Prahlerei zu einem einfachen Bürger der neuen Welt gemacht. Er hat noch mehr getan! Er, so zärtlich, so gut, so liebevoll, er hat um seiner heiligen Sache willen die süßesten Bande zerrissen. Seine Gattin, seine Kinder, die sich in den Schutz des Henkers begeben haben und überhäuft sind mit Gnaden, er hat sie verleugnet, wie durch eine unreine Tat beschimpft. Er hat die Bande der Familie zerrissen, um desto besser in die große Familie der Menschheit einzutreten. Ehre solcher antiken Tugend! –

Siebenundzwanzig Jahre hat er diese Agonie der Seele und des Leibes getragen, ohne zu wanken, ohne sich jemals zu beugen. Ein Zeichen, ein Wort hätte genügt, alles wieder zu erlangen; er hat alles verachtet!

Siebenundzwanzig Jahre glorreichen Kampfs! Er hat sich wörtlich Tag für Tag, Stunde für Stunde mit dem Elend gemessen – immer ruhig, immer gütig, immer er selbst, und hat nicht aufgehört, dem Unglück zuzulächeln, wie andere dem Glück.

Und dieses Märtyrerleben ist durch einen Tod gekrönt worden, der nicht minder einfach, nicht minder groß ist. Als er schon nicht mehr reden konnte, verlangte er die Feder und schrieb: ›Ein treuer Kämpfer, habe ich meine Aufgabe hier vollendet, möge ein andrer mich ablösen; ich gehe, sie anderswo fortzusetzen.‹ – Brüder! In der Gegenwart eines solchen Endes, hatte ich nicht recht zu sagen, daß der Tod selbst, diese geheimnisvolle Macht, die erhebt und größer macht, für uns kämpfe?

Dies ist nicht der pomphafte eitle Tod des Stoikers, der die Menge der Menschen mit Verachtung durchschritten hat und nur damit beschäftigt gewesen ist, über die Eigenschaften seiner unsterblichen Seele zu reden. Es ist auch nicht der egoistische Tod des Christen, der das Gute auf Erden tut, um sich im Himmel einen sichern Lohn zu erwerben, und dennoch, bis zum letzten Augenblick, von den Schrecken der Ungewißheit über seine Rettung geplagt wird. Nein, es ist dies der Tod eines Apostels der Menschheit, der für die Schätze, die er von ihr empfangen hat – Schätze des Geistes, durch Jahrhunderte her aufgehäuft –, sie selbst wieder bereichert hat durch seine rückhaltlose, selbstlose Hingebung. Es ist der Tod des wahren Freiheitskämpfers, der an einen unendlichen Fortschritt glaubt, unaufhörlich hofft, zu ihm beizutragen, und sich von Sphäre zu Sphäre hebt, um ihn in Ewigkeit anzuschauen. O wie wünschte ich unsere Feinde herbei, um diese Totenfeier mit anschauen zu können! Sie würden uns hier alle, von demselben Gefühl ergriffen, von demselben Gedanken bewegt, vereinigt finden. Hier auf dem Niveau des Todes, wo die Leidenschaften schweigen und die Seele sich von aller Selbstsucht befreit, hier sind wir wahrhaft wir selbst, d. h. das, was Edles, Erhabenes, Ideales in uns ist. Wir fühlen hier, bei der Betrachtung eines solchen Lebens und Todes, daß, wenn wir auch über die Mittel uneins sind, wir doch alle nur dasselbe Ziel haben: den Kultus des Großen, Schönen, Wahren, des Heiles der Menschheit.

Brüder, laßt denn die Macht der Sehnsucht nach der Erfüllung unseres Zieles dasselbe tun, was hier der Tod tut: laßt sie uns vereinigen zum Kampfe, wie uns diese Ruhestätte hier vereinigt. Es bleibe nur ein Wetteifer zwischen uns: der der Opferfreudigkeit und Hingebung, und nur eine Liebe: die Liebe zur Menschheit.«

Lange, anhaltende Rufe und ein Blumenregen auf den Sarg, der nur langsam in die Gruft hinab sank, folgten dieser Rede. Noch einen Blick hinunter, noch einen Händedruck den guten Frauen, und ich wandte mich, um still und bewegt den Rückweg anzutreten. Da kam Franz Pulszky, gab mir den Arm und führte mich in sein in Highgate nahe beim Kirchhof gelegnes Haus, um den Tag dort im Kreise der liebenswürdigen Familie zu beschließen. Als ich aber am Abend mein einsames Zimmer wieder betrat, tönte durch meine Seele die große Symphonie des Todes in erhabnen Klängen, und ich dachte, wie an jenem Grabe die Worte lebendig geworden waren, die der Priester, ohne Empfindung, in der Kapelle hergemurmelt hatte: »Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?« –

Einige Tage nachher brachte die Times einen Leitartikel über dies Begräbnis, das im französischen Moniteur mit vieler Galle und großem Aufheben besprochen worden war. Zu einer andern Zeit hätte die Times vielleicht sich auch sehr bedenklich geäußert, jetzt aber lag es in ihrem Interesse, dem Moniteur gegenüber die Flüchtlinge in Schutz zu nehmen. Freilich war es ein Schutz, der einem Almosen ähnlicher sah als der gastlichen Aufnahme am Herd eines freien Volkes, »denn,« sagte sie, »was bedeuten in der großen Weltstadt London eine Handvoll Flüchtlinge, von denen niemand etwas weiß? Wenn sie sich gut betragen und nichts gegen die englischen Gesetze tun, so mögen sie in Ruhe hier wohnen.« Natürlich freute sie sich dann weiter mit großem Selbstgefühl der Vortrefflichkeit des englischen Staats, der gar keine Notiz nehme von den politischen Agitatoren und damit ihrer Bedeutung ein Ende mache, während der Kontinent sich fortwährend um sie beunruhige und ihnen dadurch erst eine Bedeutung gebe. Die Times hatte in dem Augenblick nur ganz vergessen, daß das englische Volk noch vor kurzem einigen dieser jetzt im Winkel geduldeten Flüchtlingen jubelnd zugejauchzt und sie mit solchen Ehrenbezeugungen empfangen hatte, wie sie selten einem König zuteil werden. Sie hatte ferner vergessen, daß ein Flüchtling anderer Art, wiewohl auch ein politischer, einst ebenfalls in einem Winkel von London geduldet lebte, dessen Allianz das stolze Albion nun, da er auf einem Throne saß, noch vor kurzem eifrig gesucht hatte, und den sie noch immer, wenngleich mit einem sauersüßen Ton, den Alliierten nannte. Sie hatte eben überhaupt vergessen, daß die menschlichen Geschicke wandelbar sind, und daß sie vielleicht noch einst die Allianz der Partei, zu der jene Eckenbewohner gehörten, suchen würde. – Aber was war denn auch die Times? Das Organ der öffentlichen Meinung, sagten viele. Das war sie aber so wenig, daß zwei Stunden, nachdem sie ausgegeben war, die Majorität der Leser genau das wiederholte, was die Times als das Richtige proklamiert hatte, wenn sie Tags vorher auch noch ganz verschiedener Meinung gewesen waren. Was war sie also? Sie war der große »Standard« des Erfolgs, und darin lag das Geheimnis ihrer Macht; denn sind nicht auch die meisten Menschen Sklaven des Erfolgs? So lange z. B. die Allianz mit Frankreich für England ein Bedürfnis war, stand Louis Napoleon unter dem allmächtigen Schutz der Times, und sie nahm keinen Artikel an, der gegen ihn geschrieben wurde. Seit sich aber das Blatt gewendet hatte, erschienen plötzlich jene Artikel, die also offenbar ad acta gelegt worden waren, und sie erschienen nicht etwa, weil die Times den humanen Standpunkt, von dem aus sie geschrieben wurden, teilte, sondern weil ihr die Artikel jetzt gelegen waren, um dem Alliierten eine Ohrfeige zu geben. Allerdings nützten sie immer noch, und es war gut, daß sie gelesen wurden; nur war es nicht die Prinzipientreue der Times, die sie an das Tageslicht gebracht hatte. Gerade zu der Zeit brach Streit zwischen der Schweiz und Preußen aus, und die Times stand sogleich mit Enthusiasmus auf der Seite des freien Volkes, weil sie im voraus wußte, daß ganz Europa auf dieser Seite stehen würde. Durch ihre vortrefflichen Hilfsquellen befähigt, kennt sie im voraus die Seite, auf die die Wagschale sich neigt, und bläst in die Posaune des Erfolges. Diesem Schlachtruf folgt dann der Teil des Publikums, dessen Existenz auch am Erfolg hängt: die Männer der Börse, der City, überhaupt alle, deren Steuer nicht ein festes sittliches Prinzip ist, das sie mutig durch die Wechselfälle des Lebens führt, sondern die Gier nach den goldnen Früchten des Augenblicks.


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