Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Fünftes Kapitel

Neue Verluste

Die heiligen Entzückungen jener Momente, wo wir auf dem Sinai knien und die Offenbarung in Flammenzungen empfangen, sind, wie es sich von selbst versteht, nur vorübergehend. Der irdische Nebel hüllt uns wieder ein, und der Weg durch die Wüste beginnt wieder mit seiner Mühe und Pein. Aber es bleibt doch eine tief ernste Freudigkeit im Grund der Seele, ein Bewußtsein des geheimen Bundes mit der Ewigkeit, über den das dunkle Leben keine Macht mehr hat. So fuhr auch ich endlich dem Weltgetriebe wieder zu, als die Arbeit mich durchaus nach London zurückrief; ruhig und gefaßt wieder die Last des Tages zu tragen, aber mit einem Kleinod tief verborgen im Bewußtsein, von dessen lichtem Schein ein Trost ausging, wenn ich den Blick nach innen wandte. – In London kehrte ich zunächst an die bestimmte Tagesarbeit: Übersetzung und Journalartikel, zurück. Einige Kritiken, die ich über russische, neu erschienene Bücher geschrieben hatte, zogen mir Aufträge zu Übersetzungen von seiten englischer Verleger zu; so unter anderen ein Buch vom Grafen Nicolai Tolstoi »Kindheit und Jugend« (Childhood and Youth), eins der liebenswürdigsten Bücher in Memoirenform, das man finden kann. Es hat den Reiz des einfachen Freimuts, mit dem alle die bedeutenden russischen Autoren sich selbst und die sie umgebenden Zustände schildern, dabei die feine Analyse der menschlichen Empfindungen, die ohne psychologische Abhandlungen, die den Gang der Handlung stören, aus der Situation selbst hervorgeht und einen großen Zauber ausübt, weil sie den Leser gleichsam zum Mithandelnden, Mitempfindenden macht.

Komische Erfahrungen machte ich bei diesem Verkehr mit der englischen literarischen Welt. So schrieb ich unter anderem einmal wegen Beiträgen an eine der ersten Monatsschriften, die in Edinburgh herauskommt. Ich erhielt eine sehr höfliche Antwort, daß man gern bereit sei, Beiträge aufzunehmen, nur müsse man bevorworten, daß sie weder politischen noch religiösen, kritischen, historischen oder sozialen Inhaltes sein dürften, daß im übrigen aber alles willkommen sei. Da ich nun nicht recht wußte, was noch übrig sei, so enthielt ich mich der Beiträge an dieses charaktervolle Journal. Ferner sandte ich einmal das Manuskript eines von mir in englischer Sprache geschriebenen Romans an einen Verleger. Er sandte mir es zurück mit dem größten Lobe des Inhalts (den er sogar genial nannte), wie der Sprache, bedauerte aber sehr, es doch nicht drucken zu können, da es der herrschenden religiösen Ansicht nicht entspräche. Es ist nämlich eine sehr auffallende Erscheinung, daß fast alle, auch die vorzüglichsten englischen Romane, mit einem orthodoxen Glaubensbekenntnis endigen, selbst wenn der Anfang durchaus nicht auf eine solche Gesinnung von seiten des Verfassers hat schließen lassen. Es hat sich dies übrigens in neuester Zeit schon modifiziert und wird sich wohl immer mehr modifizieren, je mehr die Eisrinde der konventionellen Beschränktheit dem langsamen, aber sicheren Prozeß des englischen Fortschritts weicht. Damals aber war die Zeit noch nahe und zum Teil noch da, wo in der Mehrzahl englischer Familien Byrons und Shelleys Werke verpönt waren.

Dieser Winter war eine fruchtbare, arbeitsame Zeit für mich. Wenn am Tage die Arbeit geschafft wurde, die Geld brachte, so kam am Abend noch das Bedürfnis des eigenen Schaffens zu seinem Recht, und es entstanden mehrere Novellen und Aufsätze über verschiedene, namentlich Erziehungsfragen, die ich fast alle in englischer Sprache schrieb, aber ad acta legte, da ich nun wußte, in England würden sie ihrer Tendenz wegen nicht gedruckt werden. Mit Deutschland aber war ich zu sehr außer aller Beziehung, um dort einen Versuch zu machen.

Ich war sehr viel mit Mrs. Bell zusammen, und uns beschäftigten vorzugsweise die Fragen über Ehe, Familie, Erziehung und alle Folgen, die sich für die menschliche Gesellschaft an diese wichtigen Stadien des menschlichen Lebens knüpfen. Wir studierten statistische Berichte und suchten uns die tatsächlichen Belege dafür auf, wie vollständig auch hier geistige Entwicklung und wahre Bildung die entscheidenden Faktoren sein würden, denn je tiefer die Volksschichten, je geringer der Grad geistiger Zeugung und Befriedigung und je größer die physische Produktion, mithin die Tatsache, daß in den ärmsten Volksklassen die Kinderzahl am größten ist. Wäre denn aber das nationalökonomische Prinzip, daß die große Zunahme der Bevölkerung der beste Reichtum eines Landes sei, unbedingt das richtigere? Ist die Übervölkerung, namentlich der rohen, ungebildeten Klassen, nicht vielmehr ein Hindernis der Kultur, eine Ursache des Proletarierelends und vielfacher Übel, ersichtlich schon daraus, daß überall, wo sie eintritt, Abfluß durch Auswanderung nötig wird? – Wir, Mrs. Bell und ich, kamen bei solchen Diskussionen zu dem Schluß, daß es ein unermeßlicher Vorteil sein würde, wenn durch gesteigerte Bildung und Befähigung zu geistiger Produktion dem brutalen Zeugungstriebe eine edle, natürliche Schranke angelegt würde, und wenn weniger, aber edlere, vollkommenere Exemplare der menschlichen Gattung produziert würden. Wir erinnerten uns der Sage, daß eine Königin des Orients, ein geistig und körperlich vollendetes Wesen, zu Alexander dem Großen kam, um mit ihm einen Sohn zu zeugen, ein Bild vollendeter Menschheit, und wir kamen überein, daß nur so eine edlere Menschheit entstehen könne, wenn die höchsten Typen sich zusammenfänden und dem menschlichen Wesen mit vollem Kunstbewußtsein, als einem wahren Kunstwerk, das Leben gäben. Die Griechen wußten es – denn was anders bedeuten ihre Mythen von der Vermählung unsterblicher Götter mit irdischen Auserwählten? Sie wußten es, daß es einzig auf die Erzeugung des Heros, des vollendeten Menschen, ankommt, wie im Gestüte auf die Erzeugung der edlen Rassepferde, und nicht auf die Vermehrung der Herde. Mit Mrs. Bell hatte ich überhaupt einen regen geistigen Verkehr und besuchte öfter mit ihr Galerien und Ausstellungen, da ihr tiefer künstlerischer Sinn solches gemeinsame Schauen zu einem wahren Genuß machte.

Eine andere geistige Anregung kam in mein Leben durch die in Ventnor angeknüpfte Bekanntschaft mit Lothar Bucher, die sich in London fortsetzte. Er war so gütig, auf meinen Wunsch einzugehen und wöchentlich einmal einen Abend mir über Nationalökonomie teils Verschiedenes vorzulesen, teils mündlich zu erläutern. Ich fühlte es als einen großen Mangel, daß ich mir nie eine nähere Kenntnis der nationalökonomischen Grundsätze verschafft hatte, sondern, diese Lücke lassend, gleich zur Beschäftigung mit den sozialistischen Systemen übergegangen war. Diesem Mangel wollte ich gern abhelfen, und wie hätte ich es besser gekonnt, als unter der Leitung des tief gründlichen Mannes? Freilich gaben ihm mein obstinater Sozialismus und meine allzu idealistischen politischen Ideen manches Ärgernis. So machte es ihn z. B. einmal sehr böse, daß ich die Zwischenträger zwischen Produzierenden und Konsumierenden nicht als notwendige Faktoren des nationalökonomischen Prozesses anerkennen wollte und meinte, der Verkehr könne direkt zwischen jenen stattfinden. Ebenso hielt er es für eine unreife Ansicht, daß ich meinte, Deutschland solle die seiner Herrschaft beharrlich widerstrebenden ehemalig polnischen Landesteile zurückgeben; denn, sagte er, das größere Kulturelement habe das Recht, das geringere zu absorbieren. Bei alledem war er aber doch unermüdlich freundlich, hilfreich und geduldig mit meinem oft so mangelhaften Wissen, und erfreute mein Leben mit vielen liebenswürdigen Aufmerksamkeiten, die mich um so mehr rührten, als man, bei seinem abgeschlossenen Wesen, dergleichen nie von ihm erwartete. Da wir weit auseinander wohnten, so wurde auch viel brieflich verhandelt, und es war mir eine wahre Wohltat, so viel von einem Menschen lernen zu können.

Bei Kinkels war ich gleich nach meiner Rückkehr aus Ventnor gewesen, hatte aber nur Johanna getroffen. Sie waren, zum erstenmal seit ihrem Aufenthalt in England, in den Sommerferien nicht aus der Stadt gewesen, sondern hatten sie dazu benutzt, eigene literarische Werke zu vollenden. Johanna hatte ihren Roman: »Hans Ibeles« beendet, worüber ich mich sehr freute, da die mir von ihr bekannten Schriften: Novellen, die in einem Band mit denen Kinkels veröffentlicht waren, und anderes Ungedruckte, was sie mir vorgelesen hatte, mir außerordentlich gefielen und es mich immer hatten bedauern lassen, daß sie nicht in größerem Maße zur Ausübung ihrer schriftstellerischen Begabung kam, die ihrer musikalischen gewiß gleich war. Sie erzählte mir, wie besonders schön und heiter diese Ferienzeit gewesen sei, und wie sie sich kaum, seit ihrer Brautzeit, einer glücklicheren Epoche erinnere. Sonderbarerweise aber trat mir neben diesen heiteren Mitteilungen, zum erstenmal gegen mich gewendet, jenes mißtrauische Element gegenüber, das das einzige war, das zuweilen die große, schöne Natur Johannas verdunkelte. Es handelt sich um einen Besuch, den ich, noch vor meiner Reise nach Ventnor, mit einer dritten Person im Hause gemacht hatte, nicht ohne sie vorher um Erlaubnis gefragt zu haben, ob ich diese Person einführen dürfe. Sie warf mir plötzlich vor, bei diesem Besuch eine Absicht gehabt zu haben, die, wenn sie wirklich vorhanden gewesen wäre, den vollständigen Verlust ihrer Freundschaft und absoluten Bruch mit ihr hätte nach sich ziehen müssen. Ich war so überrascht von diesem unerwarteten und unverdienten Angriff, daß mein Schmerz größer war als mein Unwille, und ich, als einzige Antwort, in Tränen ausbrach. Ich liebte Johanna so aufrichtig, bewunderte sie so ganz, nahm so innigen Anteil an ihrem Glück, daß es mir wie ein Sakrilegium vorgekommen wäre, irgend etwas zu tun, was dieses Glück hätte trüben können, abgesehen davon, daß die einzige Absicht jenes Besuches gewesen war, der erwähnten dritten Person wohlzutun, indem ich ihr die Bekanntschaft Kinkels und Johannas und deren Schutz verschaffte. Meine Tränen entwaffneten Johannas Leidenschaft und beunruhigten sie. Sie bat mich, wegzugehen, ehe Kinkel nach Hause käme, da es ihm schrecklich sei, weinen zu sehen. Sie küßte mich und versicherte, daß nun, da sie sich ausgesprochen habe, wieder alles gut und wie sonst zwischen uns sei. So war es aber doch nicht in mir. Es fiel mir nicht ein, ihr zu zürnen, und ich vergab ihr, weil ich es verstand, wie dies hatte kommen können. Es war dies das Krankhafte in ihr, der ihrer Natur mitgegebene Mangel, der sich überall, auch in den edelsten Naturen, in einer oder der andern Form findet und, oft zu unserem eigenen Erstaunen, wenn wir ihn durch unsere Anstrengungen längst überwunden glauben, aus den Tiefen unseres Seins wieder auftaucht; ein Beweis, daß wir wesentlich, als ein Unveränderliches aus der geheimnisvollen Werkstatt der Natur hervorgehen. Vergab ich ihr auch völlig um dieses Verständnisses willen, so blieb doch ein schmerzlich verstimmter Ton in mir darüber, daß wieder einmal eine ganz reine Tat, noch dazu des Mitleids, so hatte verkannt werden können. Ich mußte ihm Zeit lassen, sich aufzulösen in jene stille Harmonie der Wehmut, die, je mehr wir das Leben verstehen lernen, je vernehmlicher in den Tiefen unserer Seele tönt; Wehmut darüber, daß auch das Schönste und Vollendetste, in die Grenze der Erscheinung gebannt, nicht fleckenlos bleiben kann. Ich ging nicht sobald wieder hin. Johanna schrieb mir, um alles wieder in das Gleichgewicht zu bringen. Ich antwortete nicht, weil die Wellen in mir noch zu hoch gingen und ich abwarten wollte, daß sie sich ganz beruhigt hätten. So kam mein Geburtstag und mit ihm folgender Brief von Johanna:

»Nimm unsere vereinten herzlichen Glückwünsche zu Deinem Geburtstag. Ein kleines Geschenk, das ich Dir zugedacht hatte, wird morgen oder übermorgen bei Dir eintreffen. Du hast mir auf meinen letzten Brief nicht geantwortet. Ich will nicht fragen, ob in Deinem Gemüt eine Bitterkeit gegen uns zurückgeblieben ist; ich will Dir lieber sagen, daß mit dem Ergießen meiner Verstimmung im mündlichen Vorwurf jede Spur des Zorns verschwunden ist. Ich überlasse es der Zeit, ob meine innerste Herzensmeinung wieder klar vor Deinem Verstande stehen wird. Du hast einen zu großen und klaren Verstand, um nicht auch einen von dem Deinen abweichenden Standpunkt als berechtigt zu achten. Für mich sprechen oft wiederholte Erfahrungen, die ich Dir nicht detaillieren kann, ohne perfid gegen ehemalige Freunde zu sein. Ich möchte auch diejenigen, die mich unverzeihlich zu kränken suchten, nicht ohne Not denunzieren. Sogar um mich selbst zu verteidigen, will ich es nicht tun, denn meine bescheidne Wirksamkeit in der Familie hängt nicht von dem lächerlichen Ruf ab, den man mir draußen in der Welt anhängt. Es gibt freilich einen Namen, der mir teuer ist, und ich werde nicht dulden, daß man ihn mutwillig verunglimpft. Er selbst ist stolz genug, ohnmächtige Schmähung zu verachten, aber mir bricht der leiseste Schatten das Herz, den böse Menschen auf ihn bringen. Auf Wiedersehn! Sei herzlich geküßt von Deiner

Johanna.«

Dieser Brief rührte mich sehr. Ich kannte ihr Herz ja so genau, das so gut, so demütig, so liebend, trotz aller leidenschaftlichen Aufwallungen, war. Ich wußte ja, trotzdem sie mir in jener letzten Unterredung gesagt hatte: »Ich lebe nicht mehr für Menschen, ich lebe nur noch für Ideen,« wie eigentlich der Kern und Inhalt ihres Lebens doch nur die vergötternde Liebe für ihren Mann und ihre Kinder war. So antwortete ich ihr denn auch in herzlichster Weise und verhieß meinen baldigen Besuch. Dennoch gingen noch wieder Tage hin, ehe ich dazu kam, weil in London für beschäftigte Menschen bei den weiten Entfernungen das »bald« ein unberechenbares Ding ist. Am 14. November kam Angelika von Lagerström mich zu besuchen und erzählte mir, daß sie tags zuvor bei Johanna gewesen sei und sie wieder an einem, fast alle Winter wiederkehrenden Anfall von Bronchitis krank und an ihr Schlafzimmer gefesselt gefunden habe. Doch sei sie heiter und guten Muts gewesen und habe, als ihr jüngster Sohn, ein schöner, blühender Knabe, eben in das Zimmer getreten sei, mit überwallender Liebe gesagt: »Wie soll man denn auch nicht guten Mutes sein, wenn man so ein Hermännchen hat!«

Es beunruhigte mich trotzdem, sie wieder krank zu wissen, da diese Bronchitis-Anfälle sie immer sehr angriffen, und ihre Gesundheit ohnehin eine schwankende war. Es hatte sich längst herausgestellt, daß sie an einer Herzkrankheit litt. Im Winter vorher war sie einmal in einer Gesellschaft, von einem Herzkrampf befallen, hingestürzt und wäre ihm vielleicht, ohne die zufällige Anwesenheit eines Arztes, damals erlegen. Ich beschloß also, jedenfalls den folgenden Tag zu ihr zu gehn und mich selbst von ihrem Befinden zu überzeugen. Aber auch an dem Tag ward es mir unmöglich gemacht; ich hatte vielleicht nur eine Stunde nachmittags frei, und das war zu wenig zu einem Besuch in dem weitab gelegenen Stadtteil, wo Kinkels wohnten und wohin der Weg allein mindestens eine halbe Stunde nahm. Ich richtete nun meine Arbeit so ein, um am folgenden Tag sicher ein paar Stunden frei zu haben. Am Morgen des sechzehnten November erhielt ich mit der frühsten Stadtpost einen Brief, dessen Adresse von Kinkels Hand geschrieben war. Ich erbrach ihn und las:

»Liebe Freundin!

Meine Frau ist tot, heute halb drei Uhr. Wenn ich nichts weiter hinzufüge, Sie verdenken mir's nicht.

Wollen Sie mir aus alter Freundschaft etwas helfen kommen – ich bin so hilflos wie ein Kind. Ihr

G. Kinkel.«

Ein furchtbarer, unerträglicher Schmerz ergriff mich. So also mußte auch diese große, mir tief in das innerste Leben gewachsene Liebe endigen? So jäh abgerissen, so unvermittelt alles vorbei, noch ehe ich ihr die volle unverminderte Ergebenheit, die gänzliche Vergebung jener bitteren Stunde hatte zeigen können! Es war dies sicher von allen harten Schlägen meines Lebens einer der härtesten; er traf mich so unvorbereitet, so recht mitten in das Herz hinein.

Natürlich ließ ich Arbeit und alles und begab mich sofort zu Kinkel. Welch ein Wiedersehn war das! Ich erfuhr nun erst, daß der Tod ein gewaltsamer, durch den Sturz aus dem Fenster ihres Schlafzimmers in den Hof veranlaßter gewesen sei und daß, da sie im Augenblick des Sturzes allein im Zimmer gewesen war, der bittere Zweifel aufsteigen mußte, ob dieses Abreißen des Lebensfadens nicht ein freiwilliges gewesen sei. Dem tiefgebeugten Gatten mußte dieser Zweifel, trotzdem sein Herz eine andere Gewißheit hatte, die Last des Schmerzes noch schwerer machen. Dagegen sagte Johanna (die älteste Tochter, ein wahrhaft ideales Geschöpf, in der kindlichen Hülle eines vierzehnjährigen Mädchens schon eine große, heldenmütige, mit jedem edelsten Reiz geschmückte Seele tragend) mit ruhiger Gewißheit: »Nein, die Mutter hat uns nicht freiwillig verlassen.« Diese Gewißheit ward auch mir, als ich vor der Leiche der so tief geliebten Freundin stand und auf die festen, wie in Erz gegossenen Züge, über denen in feierlichem Schweigen das Geheimnis des Todes lag, blickte. War doch ihr letztes Bekenntnis an mich das des reinsten Glücks gewesen. Ihr Leben hatte, nach so schweren Kämpfen, ja gerade einen Höhepunkt erreicht. Ihre Stellung war jetzt so, daß die einstigen materiellen Sorgen sie nicht mehr drückten. Die Arbeit konnte so weit vermindert werden, daß sie nicht mehr Last, sondern Freude war. Es blieb Zeit zu eigenem freudigen Schaffen. Die Kinder wuchsen, gesund an Geist und Körper, zu immer schönerer Freude der Eltern heran. Kinkel stand in voller Kraft und erfolgreichem Wirken nach vielen Seiten hin. – Was hätte das feurig liebende Herz Johannas bestimmen sollen, das dunkle Todeslos dem endlich so heiter gewordnen Dasein, dessen Licht und Liebe spendender Mittelpunkt sie selbst war, vorzuziehn? In vollster Überzeugung stimmte ich der lieblichen Tochter bei. Ich widmete mich den Verlassnen für die nächsten Tage ausschließlich und suchte ihnen über die traurigen Besorgungen wegzuhelfen, die, nicht als heilsame, sondern als qualvolle Zerstreuung, dem Schmerze bei einem Todesfall aufgebürdet werden. Die Art dieses Todes aber machte noch andere peinvolle Dinge nötig, die ich den Trauernden leider nicht erleichtern konnte, nämlich Obduktion und Totenschau vor der Jury. Die erstere ergab, daß das Herz sich zu dem Doppelten seiner natürlichen Größe ausgedehnt hatte. Es schien nun ganz erklärlich, daß ein eingetretner Herzkrampf die Verstorbene veranlaßt hatte, an das Fenster zu eilen, um frische Luft zu schöpfen, daß sie dabei das Gleichgewicht verloren hatte und hinausgestürzt war. Das Fenster war eines jener in England noch so häufig vorkommenden, die von unten in die Höhe geschoben werden. Dies erfordert meist eine ziemliche Anstrengung, da die Fenster schwer sind und bis zu einer gewissen Höhe geschoben werden müssen, um nicht wieder herunter auf den Kopf, zu fallen. Die Brüstung des Fensters war nur zwei Fuß über dem Fußboden des Zimmers; bei einem raschen Hinausbiegen konnte der Oberkörper leicht das Übergewicht bekommen. Von diesem Fenster aber bis auf das Pflaster des kleinen Hofes, in den es hinaus schaute, waren es sechsundvierzig Fuß. Dazu war es einer jener trostlosen November-Nebeltage Londons, wo die Luft keine Luft ist und ein vom Krampf geänstigtes Wesen, um nur atmen zu können, leicht jede Berechnung, im Schwindel der Beängstigung, verlieren kann. Für uns stand die Sache fest. Aber noch blieb die peinliche Notwendigkeit der öffentlichen Prüfung und Bestätigung des Falles. Dieser Akt konnte erst am fünften Tage nach dem Tode stattfinden. Die nächsten Freunde versammelten sich bei Kinkel, um ihn und die Kinder auf diesem schweren Gang zu begleiten, denn auch die Kinder mußten mit, und die edle Johanna war bereit, für die geliebte Mutter zu zeugen. Kinkel war, wie ich ihn immer in entscheidenden Augenblicken fand, mutig gefaßt, männlich besonnen und entschlossen, ja fast gehoben von dem Gedanken, noch etwas für sie tun zu können. Als wir uns auf den Weg zu dem nahe gelegenen Gerichtslokal des Stadtbezirks begaben, sagte er mir: »So nun wollen wir noch einmal für sie kämpfen.«

Er wurde als erster Zeuge vor die Geschworenen berufen. Nachdem er die einleitenden Fragen über Namen, Alter, Stand, Lebensverhältnisse beantwortet, gab er eine Schilderung seines häuslichen Lebens, der Schicksale, die seine Frau und er zusammen erlebt, der Liebe, die sie ihnen hatte tragen helfen. Er endete mit der Erzählung des letzten Gesprächs, das sie, eine Stunde vor ihrem Tod, zusammen gehabt hatten, in dem er ihr die Mitteilung angenehmer geschäftlicher Aussichten machte, und nach dem er sie in der heitersten Stimmung verließ, um sich zu einer Klasse zu begeben, die er im eignen Hause hielt, und aus der man ihn nach zehn Minuten abrief, um sie im Hof als Leiche aufzuheben.

Die Rede war so einfach, würdig, trug so ganz das Gepräge der lautersten Wahrheit, daß alle Zuhörer sichtlich davon bewegt waren. Als Kinkel nun sagte: er habe nichts weiter hinzuzufügen, draußen aber stehe seine junge Tochter, die auch bereit sei, ihr Zeugnis abzulegen, da erhob sich der Vorsitzende und wendete sich an die Geschworenen mit den Worten: »Ich denke, meine Herren, das, was wir eben gehört haben, reicht hin, um in uns allen eine und dieselbe Überzeugung hervorzurufen, und es ist überflüssig, noch andere Zeugen zu vernehmen.« Alle erhoben sich, stimmten bei und gaben das Verdikt: zufälliger Tod.

Ich bewunderte in tiefster Seele dies schöne, menschliche Verfahren. Es erschien mir als die einzig wahre Höhe der menschlichen Justiz, wenn das moralische Feinfühlen so gestärkt wird, daß der sittliche Eindruck der entscheidende bleibt und, in einem ohnehin so peinlichen Fall, unnütze Pein erspart. Wir alle begleiteten Kinkel nach Haus und verbrachten eine fast frohe Stunde bei ihm, indem wir sein erhobnes Gefühl teilten, daß er für die Teure diesen letzten Sieg errungen hatte. Dann gingen die andern. Ich blieb noch, um mit ihm und den Kindern Abschied zu nehmen von dem, was vergänglich an ihr war, die fortan unvergänglich fortleben sollte in unseren Herzen. Ich hatte sie mit frischen Blumen geschmückt, und sie lag unter ihnen wie schlummernd, in erhabner Ruhe, die kunstvollen Hände, deren seelenvolles Spiel uns so oft begeistert hatte, über der Brust gekreuzt. Es war ein schönes Bild, das auch den kindlichen Seelen sich einprägen durfte zu heiliger Erinnerung. Ich drückte den letzten Kuß auf die kalte Stirn, wir löschten die Lichter aus und verließen schweigend das Zimmer.

Die Individuation des ewigen Lebensgeheimnisses in dieser einen Hülle war vorüber. Aber sie hatte ihr Ziel erreicht; sie war erlöst von der Knechtschaft des Daseins in die ewige Freiheit hinübergegangen, für die ihr großes Herz schon hier geschlagen hatte.

Am folgenden Morgen vereinigten wir uns zum Begräbnis und zwar auf einer Eisenbahn-Station. Kinkel hatte zur Begräbnisstätte nicht den Friedhof von Highgate, sondern den vierundzwanzig englische Meilen von London entfernten neuen Friedhof der Nekropolis erwählt, weil er nicht vor Menschenaltern von der Stadt erreicht werden kann. Man fährt mit der Bahn dahin. Ich fuhr mit Kinkel und den Kindern in einem Waggon. Die Herren, die sich zum Begräbnis eingefunden, Deutsche und Engländer, waren ebenfalls auf dem Zug. Kinkel teilte mir unterwegs seinen Vorsatz mit, am Grab zu sprechen. Ich sagte, mir wär' es auch so um das Herz, als müßte ich es tun. Er bat mich sehr darum, aber schon schwand mir der Mut, wie ich denn von je eine unüberwindliche Schüchternheit gehabt hatte, in irgendeiner Weise öffentlich zu sprechen, und eigentlich nur im Zwiegespräch mich frei fühlte. In London war es kalt und neblig gewesen, draußen aber war es hell und warm. Am Eingang des Friedhofs ordnete sich der Zug. Der Ruheplatz für sie war schön gewählt. Die blauen Hügel von Hampshire sahen freundlich herüber und erinnerten an die rebenbekränzten Berge ihres Rheinlandes, das sie so geliebt hatte und das die Wiege ihrer schöpferischen Begabung in Musik und Dichtkunst gewesen war. Zuerst sprach ein englischer Freund, dann Kinkel selbst, Worte, wie nur ein Dichter sie der Heißgeliebten nachrufen kann in das Grab. Er sprach von ihrem hohen Mut, wie der Feind nie eine Träne in ihrem Auge gesehen, wie sie ihr Vaterland geliebt habe, wie sie fortlebe in ihren Liedern, und ihr Glaube und ihr Streben in ihren Kindern und in braven Herzen, in denen sie das heilige Feuer angefacht. –

Als er geendet, trat der edle Freiligrath hervor und legte einen Lorbeerzweig auf den Sarg, ich bestreute ihn mit Blumen, und dann sank er hinunter in das offene Grab. Die Sonne schien freundlich hinab, als wolle auch das Land, das sie gastlich aufgenommen und ihr eine zweite Heimat geworden war, sie noch zum Abschied grüßen und sie warm betten. Es hatte ihren hohen Wert erkannt und geehrt. Wir aber, die wir diese Gruft umstanden, fühlten, daß auch Deutschland hier etwas Seltenes verloren hatte. Ein leuchtendes Beispiel, daß auch das Weib eine unerschrockene Kämpferin für Wahrheit und Recht und unermüdlich tätig sein kann auf den höchsten Gebieten geistigen Schaffens, dabei aber nicht nur jede Pflicht des häuslichen Lebens als Gattin und Mutter in edelster Weise erfüllen, sondern sogar für den materiellen Unterhalt der Familie mitsorgen kann. Einige Tage nach der Beerdigung erhielt ich von Freiligrath das nachstehende schöne Gedicht, das er den Freunden der Verstorbenen als doppelt teure Erinnerung zusandte:

Nach Johanna Kinkels Begräbnis
        (20. November 1858.)

Zur Winterszeit in Engelland,
      Versprengte Männer, haben
Wir schweigend in den fremden Sand
      Die deutsche Frau begraben.
Der Rauhfrost hing am Heidekraut,
      Doch sonnig lag die Stätte,
Und sanften Zugs hat ihr geblaut
      Der Surrey-Hügel Kette.

Um Ginster und Wachholderstrauch
      Schwang zirpend sich die Meise, –
Da wurde dunkel manches Aug',
      Und mancher schluchzte leise;
Und leise zitterte die Hand
      Des Freundes, die bewegte,
Die auf den Sarg das rote Band,
      Den grünen Lorbeer legte.

Die mutig Leben sie gelehrt
      Und mut'ge Liederweisen,
Am offnen Grabe stand verstört
      Das Häuflein ihrer Waisen;
Und fest, ob auch wie quellend Blut
      Der wunden Brust entrungen,
Ist über der verlaß'nen Brut
      Des Vaters Wort erklungen.

So ruh' denn aus in Luft und Licht
      Und laß uns das nicht klagen,
Daß Drachenfels und Ölberg nicht
      Ob deinem Hügel ragen!
Daß er nicht glänzt im Morgentau,
      Noch glüht im Abendscheine,
Wo durch Geländ und Wiesenau
      Die Sieg entrollt zum Rheine!

Wir senken in die Gruft dich ein,
      Wie einen Kampfgenossen;
Du liegst auf diesem fremden Rain,
      Wie jäh vorm Feind erschossen;
Ein Schlachtfeld auch ist das Exil –
      Auf dem bist du gefallen,
Im festen Aug' das ein Ziel,
      Das eine mit uns allen!

Drum hier ist deine Ehrenstatt,
      In Englands wilden Blüten;
Kein Grund, der besser Anrecht hat,
      Im Sarge dich zu hüten!
Ruh' aus, wo dich der Tod gefällt!
      Ruh' aus, wo du gestritten!
Für dich kein stolzer Leichenfeld,
      Als hier im Land der Briten!

Die Luft, so dieses Kraut durchwühlt
      Und diese Graseswellen,
Sie hat mit Miltons Haar gespielt,
      Des Dichters und Rebellen:
Sie hat geweht mit frischem Hauch
      In Cromwells Schlachtstandarten;
Und dieses ist ein Boden auch,
      Drauf seine Rosse scharrten!

Und auf von hier zum selben Bronn
      Des goldnen Lichtes droben
Hat Sydney, jener Algernon
      Sein brechend Aug' erhoben;
Und oft wohl an den Hügeln dort
      Ihr Aug' ließ Rahel hangen. –
Sie, Russels Weib, wie du der Hort
      Des Gatten, der gefangen!

Hie sind's vor allen, diese vier,
      Dies Land, es ist das ihre!
Und sie beim Scheiden stellen wir
      Als Wacht an deine Türe!
Die deinem Leben stets den Halt
      Gegeben und die Richtung, –
Hier stehn sie, wo dein Hügel wallt:
      Freiheit, und Lieb', und Dichtung.

Fahrwohl! und laß an mut'gem Klang
      Es deinem Grab nicht fehle,
So überschütt' es mit Gesang
      Die frühste Lerchenkehle!
Und Meerhauch, der dem Freien frommt,
      Soll flüsternd es umspielen.
Und jedem, der hier pilgern kommt,
      Das heiße Auge kühlen!

                        Ferdinand Freiligrath.

Mußte nun auch das Leben in seine gewohnte Bahn zurück und mußte ein jeder wieder den Weg der Arbeit gehen, so verweilte ich doch in der nächsten Zeit, so oft es möglich war, bei den Verlassenen. Ich verbrachte manchen Abend bei Kinkel, zusammen mit ein oder dem andern der Bekannten, die ihm in aufrichtiger Teilnahme genaht waren, so unter anderem mit Bucher, der früher in gar keiner Beziehung zu ihm gestanden hatte. An einem dieser Abende eröffnete Kinkel uns beiden seine Absicht, ein Journal in deutscher Sprache in London herauszugeben und forderte uns zur Mitarbeit daran auf. Bucher hatte zwar dabei seine Bedenken, die er mir später mitteilte, sagte aber doch zunächst einige Artikel zu. Ich hatte keine Bedenken und sagte unbedingt zu. Kinkel wünschte, daß ich ihm vermittelst meiner Verbindungen mit Herzen Berichte über russische Zustände gäbe, von denen Herzen aus authentischen Quellen fortwährend zuverlässige Kunde hatte. Besonders sollte ich Rücksicht nehmen auf alles, was in betreff der Emanzipation der Bauern gesagt und geschrieben würde.

Diese Frage wurde von allen Seiten jetzt so dringend besprochen, daß die Notwendigkeit einer Entscheidung an die Regierung herantrat. Selbst wenn der Wille des neuen Kaisers weniger gut gewesen wäre, als von ihm gerühmt wurde, so hätte er endlich dieses Werk vollbringen müssen. Es war eine reife Frucht, die notwendig vom Baume fallen mußte. Nicht nur daß Herzen es in seiner zu einer wirklichen Macht gewordenen »Glocke« unablässig forderte und von allen möglichen Seiten in bezug der praktischen Ausführung beleuchtete und erörterte – auch von anderen Seiten erschienen Broschüren und Artikel, die den Gegenstand behandelten und Vorschläge zu seiner Verwirklichung machten. Es gab mir das Gelegenheit, mich gründlich über diese Frage zu unterrichten und mehrere der bezüglichen Broschüren zu lesen. Mich interessierte dabei hauptsächlich die Frage: wird mit der Freiheit die kommunistische Einrichtung der Gemeinde in Rußland bestehen bleiben? Oder wird der Individualismus, wie im übrigen Europa die Oberhand gewinnen? Wird das Bedürfnis nach persönlichem Besitz die Tradition überwinden, und werden damit alle guten und schlechten Folgen des verstärkten Individualismus eintreten? Wird dann Rußland denselben Prozeß durchzumachen haben, den in Jahrhunderte langem Kampf das übrige Europa durchmacht, zwischen dem ungeheuren Anspruch des einzelnen und dem Anspruch aller? Dieser Kampf, der sich erst im vollendeten Staat endigen kann, wo jedes Einzelinteresse, geschützt und befriedigt, sich harmonisch mit dem Gesamtinteresse verträgt? Dies waren freilich Fragen, die erst eine ferne Zukunft lösen konnte. Sie mußten ohne Einfluß bleiben auf die augenblickliche Forderung einer einfachen menschlichen Gerechtigkeit, die die Aufhebung der Sklaverei, die ein Schimpf für Europa war, forderte. Ich verkehrte viel brieflich mit Herzen wegen dieser Gegenstände, da er außerhalb der Stadt wohnte. Seine Propaganda war in größter Blüte, und sein Blatt hatte einen immer wachsenden Einfluß. Aus guter Quelle wurde versichert, daß der Kaiser Alexander es lese und beherzige.

Herzen war auch weit entfernt, ein eigentlich revolutionäres Programm zu haben. Er war zu umsichtig, um Sprünge in der historischen Entwicklung zu verlangen, und begriff vollkommen, daß ein Land wie Rußland nicht sogleich aus der Sklaverei in die Freiheit der Republik eintreten konnte. Sein Programm bestand positiv aus vier Forderungen, die er so formuliert hatte:

  1. Emanzipation der Bauern mit dem Besitz der Erde, die sie bebauen.
  2. Abschaffung der Präventiv-Zensur.
  3. Abschaffung des geheimen Untersuchungsverfahrens und der Urteile bei geschlossenen Türen.
  4. Abschaffung der Körperstrafen.

Dies war, wie er selbst sagte, nicht so sehr à la Robespierre und Marat, um davor zu erschrecken. Es waren die einfachsten Forderungen für die Auflösung einer großen Despotie in einen Kulturstaat, in dem menschliche Kräfte sich zu der ihnen eigentümlichen Wirksamkeit und zur ruhigen Entwicklung ihrer nationalen Aufgabe entfalten konnten. Aber was ihn und sein Blatt gefürchtet machte, das war, daß er die Missetaten der privilegierten Räuber in Rußland an das Licht des Tages zog, sobald er sich von der Wahrheit der Tatsachen überzeugt hatte, und ihre Namen der öffentlichen Kritik preisgab. Das empörte natürlich alle die gegen ihn, die bisher ungestraft im stillen ihr Wesen getrieben hatten und denen seine »Glocke« eine Glocke des Gerichtes war, das nun über sie erging.

Überhaupt war Herzen auch jetzt, auf dem Gipfel seiner Tätigkeit und seiner Erfolge, nichts weniger als ein doktrinärer Revolutionär. Er war viel zu geistvoll, um zu glauben, daß man den lebendigen Strom der Geschichte in das Bett eines Systems, einer vorgefaßten Theorie zwängen könne. Es war ihm gleichgültig, ob Monarchie oder Republik, vorausgesetzt, daß das Leben nicht stagniere, daß die Wellen hoch gingen und das Dasein vorwärts trugen zu neuen Entwicklungen. Er haßte die doktrinären, in ihrem System beschränkten Republikaner fast ebenso wie die absoluten Monarchisten. Ihm war es nur zu tun um Freiheit der Bewegung, um Möglichkeit der Entwicklung in naturgemäßer Weise. So schrieb er mir einmal bei Gelegenheit einer kleinen propagandistischen Unternehmung, die einer jener deutschen Doktrinäre versucht und zu der er Herzens Hilfe nachgesucht hatte:

»Ich zweifle an einem Erfolg. Die Zeit der revolutionären Demagogie ist vorbei. Mit jedem Tage sehe ich klarer, daß die ganze Epoche der politischen Revolutionen zu Ende ist, geschlossen wie die Epoche der Restauration, ohne die Frage zu lösen. Ist denn die religiöse Frage beendigt? Nein – aber sie interessiert nicht mehr.

Wir gehen in eine neue Zeit, und alles, was diese Herren, diese Antediluvianer, schreiben, ist Vergangenes!«

Ebenso schrieb er mir einige Zeit nachher, als von einem Krieg zwischen Österreich und Rußland die Rede war (ich hatte ihn ermahnt, in keiner Weise zum Krieg zu treiben oder ihn zu befürworten, da der Krieg immer ein Unglück sei und schwerlich unseren Hoffnungen und Idealen dienen könne):

»Et toi Brutus!«

»Sie auch fangen an zu fürchten, Sie auch haben nicht den Mut der letzten Konsequenz! Lassen Sie doch alle Politikaster, alle die Menschen der alten Welt, und nehmen Sie einen höhern Gesichtspunkt. Das wahrhaft Tragische der Ereignisse fordert einen andern Maßstab. Wie könnte mir so ein Gedanke in den Kopf kommen, daß man Deutschland erobern will? Einen Artikel werde ich schreiben, aber der wird jene nicht beruhigen. Glauben Sie, daß ich jetzt ein Iota ändern werde? Oder glauben Sie, daß ich mich, wie Mazzini, zum Heiligen und Widerspenstigen machen werde und dadurch der Bewegung schaden? Davon bin ich weit entfernt. Nie habe ich zum Kriege geraten, aber auch mit keinem Wort. Der Krieg kommt, aber kein Mensch denkt an Deutschland. Österreich muß untergehn, Frankreich muß in einem Befreiungskriege die Freiheit wieder erlangen oder ganz dem krassesten Despotismus verfallen. Dieser Krieg gegen Österreich wird in Rußland höchst populär sein, und Sie glauben, daß ich den lebendigen Einfluß, den ich habe, vermindern werde, indem ich zur Beruhigung der Mecklenburger gegen eine Tatsache schreiben werde?

Ich bin bereit, mit Ihnen über alle diese Sachen zu diskutieren. Meine Linie ist gezogen, sie kann manchmal abweichen, aber nur auf die Seite der Lebenden, nicht der Toten und Alten.«

Die meisten dieser Äußerungen bezogen sich auf dumme, boshafte Angriffe, die nicht nur von russischen Reaktionären, sondern leider auch von einer gewissen Seite der deutschen Emigration ausgingen, von einer neidischen, hämischen Koterie, durch die sich unbegreiflicherweise auch einige edlere Persönlichkeiten hatten fortreißen lassen, wie z. B. zu meinem innigsten Bedauern auch Karl Blind, für den ich eine achtungsvolle Freundschaft hegte. Herzen war im ganzen ziemlich gleichgültig gegen diese Angriffe und behandelte sie meist mit der ihnen gebührenden Verachtung. So schrieb er mir einmal: »Im Pionier von Heinzen ist ein Artikel, der mich als russischen Agenten, Intriganten, Schurken, als den Sohn einer Jüdin (!) usw. behandelt. Sie sehen, daß die deutschen GolowineGolowin war ein Russe, der sich in den elendesten Angriffen gegen Herzen gefiel. mich nicht vergessen haben.«

Mehr kränkte es ihn, als Kinkel plötzlich und unbegreiflicherweise im neu gegründeten deutschen Journal einen Artikel aufnahm, in dem Herzen beschuldigt wurde, von Wien als von der künftigen Hauptstadt eines Slavenreichs gesprochen zu haben. Auch mich traf dies auf das unangenehmste. Ich hatte zunächst durch meine, meist auf Grund Herzenscher Autorität hin geschriebenen Artikel diesen törichten Angriff hervorgerufen. Es tat mir unbeschreiblich leid, dieses Blatt, für dessen Schicksal ich mich interessierte, so von vornherein in der Gefahr zu sehen, ein Tummelplatz jener Kämpfe innerhalb der Partei zu werden, die deren innere Zerrissenheit und die kleinen Leidenschaften, die sie bewegten, so traurig vor der Welt offenbar machten. Auch schmerzte es mich, Herzen diesen Verdruß mit haben bereiten zu helfen. Hauptsächlich aber machte es mich unwillig, wieder nur Hader und Streit entstehen zu sehen, während ich es mir angelegen sein ließ, Frieden zu stiften, die Mitglieder der Partei einander zu nähern zu persönlichem Wohlwollen, zur Vereinbarung auf Grund höherer Gesichtspunkte und mit Beiseitelassung aller kleinlichen Rücksichten und Verdächtigungen. Darin war ich Mazzinis Ansicht, daß nur eins nottat: sich auf Grund allgemeiner Ziele hin zu vereinen und gemeinschaftlich zu handeln, um den großen fundamentalen Prinzipien, die alle bekannten, Geltung zu verschaffen. Dies konnte auch ohne Revolutionen, ohne Schwert und Kampf geschehen, durch die Propaganda der Ideen, aber nimmermehr, wenn kleinliche Parteizwecke, wenn persönliche Feindschaft, wenn Neid und Mißgunst den Krieg gegen Personen richteten, anstatt gegen Prinzipien. Oft kam mir der Gedanke, daß es an einer großen, außerordentlichen Persönlichkeit fehle, die mit der Macht des Genies die zentrifugalen Vielheiten bezwungen und zur Erreichung eines einzigen Ziels vereinigt hätte. Dazu gehörten aber Naturen wie Cromwell, wie Luther, wie Friedrich der Große. Mazzini war zu national dazu, Herzen ebenfalls, unter den Deutschen war auch nicht ein einziger, der, trotz der gerühmten deutschen Universalität, dazu fähig gewesen wäre. So blieb es denn bei der Zersplitterung und den Einzelbestrebungen, die durch beliebige persönliche Ränke vereitelt wurden. Ich war, wie gesagt, so empört über den absurden Angriff in dem Journal, daß ich zu erwidern und die Partei Herzens zu nehmen entschlossen war, da mir die Gerechtigkeit höher galt als die Nationalität. Aber Herzen selbst bat mich dringend, davon abzustehen; er schrieb: »Um Gottes willen keine Rechtfertigung! Sie werden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie gar nichts schreiben. Auf Ihre Antwort kommt eine Kontre-Kritik. Ich aber habe Besseres zu tun, als mich mit Blinden zu schlagen. Wenn Sie aber doch etwas über den Gegenstand schreiben wollen, so zeigen Sie es mir, denn im Falle eines qui pro quo würde ich sagen, daß ich durchaus gebeten habe, mich nicht zu rechtfertigen. Was Wien betrifft, so nannte ich es, weil in Österreich mehr als 16 Millionen Slaven sind.«

Ich schrieb nun auch keinen Artikel als Antwort, sagte aber Kinkel, daß ich überhaupt keinen mehr schreiben und mich der Mitarbeiterschaft am Journal begeben werde. Es war ihm sehr leid. Er hatte wohl einen Akt der Unparteilichkeit zu tun geglaubt, indem er jenen Artikel aufnahm, aber er hatte nicht ganz gefühlt, welcher Gefahr er von vornherein sein Blatt preisgab, indem er es den gehässigen Leidenschaften innerhalb der Partei selbst öffnete. Es wurde ihm auch bald genug verleidet, und nach nicht allzu langer Zeit gab er die Redaktion des Blattes aus den Händen. –

Wenn mich die Teilnahme und der Schmerz um den gemeinsamen Verlust öfter in das Kinkelsche Haus führte, als es je früher der Fall gewesen war, so blieb mein intimster und häufigster Verkehr in diesem Winter doch der in dem englischen Kreise, in dem auch Mazzini einheimisch war. Karoline war voll liebenswürdigster Freundlichkeit für mich, und ich wurde ebenso wie Mazzini beinahe als ein Glied der Familie behandelt. Jeden Sonntag aß ich da zu Mittag, allein mit dem Ehepaar, dem einzigen Kind und Mazzini. Da, bei diesen intimen Zusammenkünften, war es, wo ich die selten schöne, tiefe, gemütvolle Natur Mazzinis ganz kennen lernte. Es ist nicht zu sagen, mit welch rührender Sorge er an allen kleinen Erlebnissen des Tages teilnahm, wie er um das Kind besorgt war, wie reizend er sich mit dem Kleinen beschäftigte, wie ernst beratend er dem Freunde, wie brüderlich aufmerksam der Freundin zur Seite stand. Hier, wo der Politiker fast ganz schwieg, wo nur der gemütliche, philosophische, ästhetische Mensch hervortrat, zeichnete sich mir sein Bild mit unauslöschbaren Zügen. Er war ein ganz nationaler Typus; er hätte nichts anderes sein können als wie ein Italiener. Die hervorragendsten nationalen Eigenschaften fanden sich bei ihm in höchster Potenz vor. Er hatte Züge, die an den größten seiner Landsleute, an Dante, erinnerten; so die mystische Färbung seiner religiös philosophischen Anschauung, in der alles nur Symbol war für eine transzendentale Idee. Als Politiker stand er Cola di Rienzi am nächsten; er hatte dasselbe hartnäckige Festhalten an seinem politischen Ideal, das er, den widerstrebenden Lebenselementen zum Trotz, einzuführen sich für berufen hielt. Nach der praktischen Seite hin hatte er auch etwas von Macchiavell; trotz des hohen Idealismus seiner Ziele verschmähte er die oft dunklen Mittel nicht, die, wie er glaubte, zu ihm führen könnten. Bei allen diesen Eigenschaften aber besaß er auch die edelste Fähigkeit seiner Nation, das Schöne in Poesie und Kunst mit ganzer Seele zu erfassen, sowie die leidenschaftliche Innigkeit des Gefühls in allen persönlichen Beziehungen. Dazu kam die rührende Einfachheit seines Lebens und seiner Gewohnheiten, die nicht Folge der Askese war, denn er liebte das Schöne und bedurfte es, sondern seines Patriotismus und seiner Aufopferung. Das einfachste Leben genügte ihm, um nur alles für die Seinen hinzugeben. Er wohnte in einem bescheidenen Stübchen, aber kein notleidender Landsmann ging ohne Hilfe von ihm, und wenn er selbst nur noch zehn Schilling hatte, so gab er dem Bedürftigen fünf. Kein Heiliger der Kirche, kein Glaubensheld hat mehr sein Leben zum Ausdruck seiner Überzeugung gemacht wie Mazzini. In den Entbehrungen des Exils, fern von der schönen Heimat, die seine Beatrice war, allein, an eine Arbeit gebunden, die der höchsten Begabung seiner Seele nicht entsprach, hat er den bittern Kelch des Daseins bis auf die Hefe getrunken. Aber er ist nicht erlahmt und hat die heilige Flamme der Vaterlandsliebe, eines sittlichen Ideals vom Staate und der Pflicht gegen ihn, aufrecht erhalten in sich und den Seinen. Darin besteht auch sein unsterbliches Verdienst um sein Italien. Wenn er den Irrtum aller fanatisch Gläubigen beging, eine Form für sein Ideal erzwingen zu wollen, die der lebendigen Strömung der geschichtlichen Entwicklung entgegen war, so war das eine Beschränktheit seiner Einsicht. Sein Charakter wird davon nicht verdunkelt und verdient es, als einer der edelsten in der Reihe der Sterne seines Vaterlandes zu leuchten.

Wie rührend gut und teilnehmend er für seine Freunde war, bewies mir unter unzähligen anderen Beispielen der folgende kleine Zug. Ich begegnete ihm eines Morgens in der Straße. Es war dies eine Seltenheit, da er fast nie des Morgens ausging. Wir sprachen lange miteinander, und es fiel mir auf, daß er mich mit einem Ausdruck von Besorgnis lange und forschend ansah. Einige Tage nachher besuchte mich ein Bekannter, ein Arzt, den ich zuweilen schon um Rat gefragt hatte. Ich sagte ihm, daß es mir gar nicht gut gehe und daß besonders meine Augen immer schwächer würden. Ich war auch wirklich so leidend, daß ich oft morgens nicht wußte, wie ich aufstehn und mich der Arbeit des Tages unterziehen sollte. Aber die Arbeit war notwendig, und so saß ich auch jeden Morgen früh zur bestimmten Stunde am Schreibtisch und verließ ihn nicht eher, bis die Aufgabe des Tages vollendet war. Meine Augen aber, von jeher schwach, fingen an, mir den Dienst zu versagen. Das war besonders traurig an den langen Winterabenden, wenn ich allein war und meine Seele danach lechzte, mir nun, nachdem die Arbeit der Pflicht getan war, in guten Büchern Gesellschaft, geistige Erquickung und Belehrung zu suchen. Auch erregte es mir angstvolle Besorgnis wegen der Zukunft; denn wenn ich nicht arbeiten konnte, wie sollte ich leben? – Der Arzt erklärte mir, ich müsse weniger arbeiten, ja eine Zeitlang vielleicht ganz aufhören, sonst sei der Verlust des Gesichts beinahe unabwendbar. Schwerer Sorge voll, erwähnte ich dieses Urteil in einem Brief an Mazzini, den ich ihm in den folgenden Tagen wegen einer für ihn gemachten Besorgung schrieb. Er antwortete:

»Ich wußte es im voraus, meine arme Freundin. Ich war betroffen von der Gefahr, als ich Ihnen neulich in der Straße begegnete. Ich sagte es am selben Tage zu Karoline. Da ich aber kein Arzt bin und kein Recht habe, gehört zu werden, so wartete ich, bis andere, Berechtigte, Ihnen die strenge Vorschrift gegeben hätten. Resignieren Sie; konzentrieren Sie sich und denken Sie: Sie sind noch jung genug, und die Welt ist verwirrt genug, um Ihnen die Zeit zu gewähren, nützlich sein zu können. Wenn Sie fort müssen von hier, sagen Sie es mir, damit ich Sie vorher sehe. Dann werde ich Ihnen schreiben – unkompromittierende Briefe, die ein jeder lesen kann. Ja, wir werden den europäischen Krieg haben, und das ist gut. Wir sprechen darüber.

Ich gehe heute auf das Land zu M., werde aber morgen zurück sein.

Adieu, ich liebe und achte Sie!

Ihr Freund Joseph.«

Als ich ihn das nächste Mal sah, drückte er mir mit warmer Teilnahme die Hand und sprach darüber, ob es nicht möglich für mich sei, nach Genua zu gehen, da mir der Arzt von der Notwendigkeit eines südlicheren Klimas gesprochen hatte. »Dorthin,« sagte er, »würde ich Ihnen Empfehlungen mitgeben, nach denen Sie wie eine Schwester aufgenommen, geliebt und gepflegt werden würden.« Ich wagte nicht, ihm die volle Wahrheit zu sagen, d. h. daß mich von allen solchen Hilfs- und Erleichterungsmitteln des Leidens die materielle Schwierigkeit, der Mangel an Geld, zurückhielt. Seine grenzenlose Güte würde ihn wahrscheinlich veranlaßt haben, da in irgendeiner Weise helfend eintreten zu wollen, und das konnte und wollte ich nicht annehmen, von ihm, der, wie gesagt, selbst beschränkt war in seinen Mitteln und alles, was er konnte, hingab für seine höheren Zwecke.

Inzwischen war ich beschäftigt, den Arbeiterverein zustande zu bringen, den Mazzini für so wichtig hielt.

Er schrieb mir wieder über diese Organisation:

»Das Ideal wäre dieses: die Arbeiter sich ihren Weg machen lassen; dann ein Komitee von drei Personen aus dem Mittelstande zu bilden, um auch in ihm eine Sektion zu organisieren; zwischen diesem Komitee und dem der Arbeiter eine brüderliche Beziehung auf dem Boden der Gleichheit herstellen; sich damit beschäftigen, dieser Organisation alle möglichen Elemente anzuschließen hier, in Deutschland, auf dem europäischen Kontinent von der einen Seite, und von der andern die sehr zahlreichen Elemente in Amerika.«

Ich hatte ihm dann berichtet, daß ich sechs brave Männer zusammen hätte, die ich als ganz zuverlässig kannte und die nun unter den ihnen bekannten Arbeitern andere auffordern würden, der Organisation beizutreten. Er antwortete:

»Liebe Freundin!

Das ist gut – Sie haben sechs zusammen. Wenn nun ein jeder festen Willen hat und täglich unausgesetzt tätig ist, wenn ein jeder der sechse sich an jedem Abend fragt: was habe ich heute versucht, für unsern Zweck zu tun? – so werden Sie bald eine große Anzahl haben. Versuchen Sie, den deutschen Arbeitern begreiflich zu machen, daß die Organisation des Volkes das beste Mittel ist, um zu verhüten, daß die Revolutionen nicht in dem engen Kreise der Politik stecken bleiben. Wenn eine große Liga des Volkes die beste Kraft der europäischen Partei der Tat bilden wird, so werden die Rechte der Völker und der arbeitenden Klassen nicht mehr hintenan gesetzt werden können; seien Sie dessen gewiß. Wenn Sie Ihr Programm gemacht haben werden, so werde ich dem Verein die Definition des Bandes, das uns vereinigen soll und der Reihe von Pflichten, die es praktisch ausdrücken soll, zusenden.

Ja, es geht nichts über die Arbeit für eine große und gute Idee. Das reinigt und veredelt die persönlichen Schmerzen. Gott weiß, daß ich auch mein Teil davon gehabt habe.

Ihr Freund Joseph.«

Die letzten Worte bezogen sich auf Mitteilungen, die ich ihm gemacht hatte über meinen nie vernarbten Schmerz um die Trennung von jenem lieblichen Kinde, das mir so tief ins Herz gewachsen war, und dessen Erziehung nun durchaus nicht der Art war, wie ich sie für es wünschte, ja dessen junges Leben unter einer wenig wohlwollenden Leitung schon durch manchen schweren Kampf verdüstert wurde. Dieser tiefe Kummer kam zu den persönlichen Sorgen, die meine Gesundheit und die daraus entspringenden Folgen für meine Lage mir erregten. Dem so edel teilnehmenden Freunde hatte ich mehreremale davon gesprochen, und es war, glaubte ich, auch in Beziehung darauf, daß er mich immer wieder zur Tätigkeit für allgemeine Zwecke anzuspornen suchte. Er verstand eben mit der feinsten Empfindung jede Seelenstimmung, jedes zarteste Gefühl im andern und legte sanft die heilende Hand der Freundschaft auf die geheimen Herzenswunden.

So war ich eines Abends bei Karolinen ungewöhnlich schweigsam gewesen, und als er mich deshalb fragte, sagte ich nur, daß das Weh des Lebens, der Einsamkeit schwerer wie sonst auf mir gelegen hätte. Er schrieb am andern Morgen unter andern Sachen: »Sie waren noch stiller wie gewöhnlich; ich bin es auch oft so sehr; die Empfindung, von der Sie mir sprachen, ist die meine. Es begegnet mir häufig, daß das Gefühl der Leere einer ganzen persönlich einsamen Vergangenheit, eines ganzen persönlich verlornen Lebens mich mit unerträglicher Gewalt erfaßt. Dann erhebe ich mich wieder, ein wenig mehr Skelett wie vorher.«

Solche wenigen Worte erschlossen mir genugsam den Grund dieses großen einsamen Herzens, das die Welt nur von ehrgeizigen, tollkühn abenteuerlichen oder gar verbrecherischen Träumen erfüllt glaubte. Er war ein Märtyrer der Idee und seines Glaubens, wie nur je einer gewesen. Er trug die Dornenkrone und das Kreuz, an dem sein persönliches Leben verblutete. War die Idee, für die er sich opferte, eine irrige? Ihm erschien sie als Wahrheit. Konnte sie die Welt erlösen? – Hat denn die Idee, für die das Kreuz auf Golgatha sich erhob, die Welt erlöst? – – –

Über den tiefen Einblick in des einen und des andern Herz senkte sich dann wieder der Schleier, der das Allerheiligste des menschlichen Innern vor der Profanation bewahrt, und die äußere Tätigkeit begann von neuem. Ich hatte ihm von einem Polen geschrieben, den ich als zuverlässig kannte und der sich ihm in allem zur Verfügung stellte. Zugleich bat ich ihn, mir nicht zu zürnen, daß die organisatorische Arbeit, die er so sehr wünschte, nicht schneller ging.

Darauf schrieb er:

»Beste Freundin!

Ich erzürne mich nie, außer zuweilen mit meinen Italienern; besonders aber könnte ich mich nie gegen Sie erzürnen, ein Wesen so voll Herz, edlen Willens und sanft, wie es je nur eins gab.

Arbeiten Sie also, aber wissen Sie zugleich, woran ich selbst bin, um sich danach zu richten.

Ich bin mit dem Komitee der demokratischen polnischen Zentralisation in Verbindung und muß gewisse Rücksichten für sie haben. Ist Ihr Pole in Verbindung mit jenen? Wenn nicht, so ist es einerlei. Jede Arbeit im Innern ist mir willkommen und wird gern von mir angenommen. Wenn er mit jenen in Verbindung ist, so möchte ich nicht, daß es schiene, als entzöge ich ihnen ihre Elemente. Alles, was Ihnen auf dem angedeuteten Wege zu tun gelingt, hat meine Billigung und Hilfe. Ich werde mit jedem Verein der Partei der Tat, wo er sich auch bilden mag, in Verbindung treten.

Was T. betrifft, so wollen wir den Artikel abwarten. Im allgemeinen will ich Ihnen sagen: Handeln Sie so wenig als möglich mit Franzosen zusammen und so viel als möglich mit Deutschen. Die Franzosen kenne ich fast alle, und ich weiß, was von ihnen zu erwarten ist. Wir haben eine Arbeit einer geheimen Assoziation unter ihnen, die sich in diesem Augenblick ausbreitet; wir müssen uns begnügen, ihr einzeln die Individuen beizufügen, die wir anderen Vereinen, die wir für schlecht organisiert oder zu sehr spioniert halten, entführen können.

Glauben Sie nicht, daß ich die Franzosen aus der republikanischen Verbrüderung ausschließen will. Aber ich kenne sie; ich glaube, im Grunde und als Masse werden wir nichts Positives für unsere Sache durch sie gewinnen. Nur die einzelnen muß man nach und nach in eine neue Organisation von uns einführen.

Adieu, meine Freundin!

Joseph.«

Gegen die Franzosen war er entschieden mißtrauisch, eben weil er sie so gut kannte, und mündlich und schriftlich warnte er mich vor ihnen und scheute sich vor jeder Annäherung, besonders der Elemente aus der sozialistischen Partei, während er mit Ledru-Rollin und den Seinen in Verbindung stand. Ich hatte ihm öfter von einem jungen Franzosen gesprochen, der jener Partei angehörte, den ich sehr schätzte und den ich Mazzini gern nähern wollte, da ich sein hohes persönliches Beispiel für alle die jungen Leute als ein erhebendes und wohltätiges ansah, und da es überhaupt mein Bestreben war, Frieden stiftend in der Emigration zu wirken, und die zersplitterten Elemente auf Grundlage der höchsten allgemeinen Prinzipien zu vereinen.

Ich hatte jenem jungen Mann so viel von Mazzini gesprochen, daß er lebhaft wünschte, ihm persönlich näher zu treten. Ich gab ihm Mazzinis Adresse und sagte ihm, selbst hinzugehn, indem ich versprach, diesen davon zu benachrichtigen. Mazzini schrieb mir darauf:

»Liebe Freundin! Indem Sie T . . . meine Adresse gaben, haben Sie sie der Polizei gegeben. Die Partei, der T . . . angehört und der er alles mitteilt, wimmelt von Spionen. Ich mache Ihnen damit keinen Vorwurf, ich konstatiere nur eine Tatsache. Was mich betrifft, so kann alles, was ich schreibe, ausgenommen das, was Operationen betrifft, an alle Polizeibehörden der Welt gehen. Ich kann es im Fall der Not sogar drucken.

Nennen Sie mich exklusiv, intolerant, alles, was Sie wollen, aber lassen Sie mich Ihnen eine Sache sagen: Arbeiten Sie mit Ungarn, mit Polen, mit Serbiern, mit Montenegrinern und Zirkassiern, wenn Sie können, mit den Deutschen vor allen Dingen, wenn es gelingt – aber, ich wiederhole es, bemühen Sie sich nicht zu viel mit den Franzosen. Sie sind zu gut und vertrauensvoll, um das zersetzende Element entdecken zu können, das bei jenen vorhanden ist. Sie sprechen mir z. B. von Bernard; es sind kaum drei Tage her, daß in einer Versammlung, wo jemand den Franzosen vorschlug, eine Subskription für einen jährlichen Beitrag von einem Schilling, als Pfand der Solidarität, zu zeichnen, Bernard sich erhob und dagegen sprach. Er behauptete, daß das vorgeschrittenste italienische Journal nicht ›l'Italia del Popolo‹ sei, sondern die ›Ragione‹. Dies ist ein materialistisches Journal, das in Turin herauskommt, sich sozialistisch nennt, ohne jedoch eine einzige ökonomische Frage ernst zu erörtern, und das gegen die Bewegung schreit, weil man vor allen Dingen erst das Volk sozialisieren müßte. Abgesehen davon ist ›l'Italia del Popolo‹ mehr als dreißigmal mit Beschlag belegt worden, die ›Ragione‹ einmal; es ist also die ›Italia‹, der man helfen muß. Bernard, der zur Zeit seines Prozesses eine immense Teilnahme unter den Italienern, gefunden hat, ist der letzte, der eine solche Sprache halten sollte.

Sie sprechen mir von einem Meeting zur Vereinbarung aller Nationalitäten. Ich weiß wohl, daß Leute aller Nuancen der Partei dazu kommen würden. Aber glauben Sie mir, es käme nichts dabei heraus, und außerdem werde ich, wie schon gesagt, nur mit Individuen, nicht mit Vereinen verhandeln. Die Kommune ist voller Spione.

Für mich besteht die wichtige Arbeit darin, die italienische Bewegung mit den Nationalitäten in Verbindung zu bringen, die sich noch konstituieren. Frankreich ist in einer besondern Lage. Dort ist nur eine Sache zu tun; wenn die unmöglich ist, so muß man erwarten, was von innen heraus geschieht. Eine Verschwörung würde niemals zu einer siegreichen Insurrektion führen. Eine ausgedehnte Propaganda ist in Frankreich unmöglich, ohne entdeckt zu werden. Arbeiten Sie also, liebe Freundin, so viel Sie können mit den Nationalitäten der Zukunft, aber lassen Sie sich auf keinen Versuch mit den französischen Kommunisten ein. Ich würde Ihnen dabei nicht folgen. Es wäre etwas anderes, wenn sich neue Elemente, wenn sich Franzosen aus dem Innern präsentierten. Das einzige Gute, was die andern tun könnten, wäre, ihre Sprache zu mäßigen, ein gemeinschaftliches Programm anzunehmen und der Welt zu zeigen, daß man einig ist. Jede geheime Arbeit mit ihnen zusammen ist unmöglich und gefährlich.«

Wieder noch in einem andern Brief berührte er dies Thema, da ich ihm eine Arbeit überschickt hatte, die mich ein Franzose gebeten hatte, ihm zur Durchsicht zu geben.

»Ich werde nicht vor Ende der Woche Zeit haben, die Arbeit zu lesen, aber ich werde sie lesen und Ihnen dann meine Ansicht mitteilen.

Was die gemeinsame Arbeit betrifft, so beeilen Sie sich nicht – ich meine mit den Franzosen. Wenn man mir Vorschläge macht, so werde ich natürlich antworten. Ich will und kann Ledru-Rollin nicht verlassen; ich werde es nie tun, es wäre denn, daß er die Fahne wechselte. Aber nichts hindert mich, zu arbeiten, mit wem es immer sei, und niemals werde ich es verweigern, mich mit ehrlichen Patrioten zu verbinden, die sich redlich mit mir verständigen wollen. Erinnern Sie sich aber daran, daß meine Zeit ganz besetzt ist. Sie wissen, ich gehe nirgends hin. Ich bin mit Arbeit überhäuft, und obgleich ich, von acht Uhr morgens an bis abends neun Uhr an meinem kleinen Schreibtisch sitze, so kann ich doch nicht die Hälfte der Arbeit vollbringen, die ich für Italien machen müßte, wo ich, außer der Emigration, eine ganze Partei im Innern zu dirigieren habe. Diese Arbeit ist heilig, ich kann sie nicht aufgeben. Es ist gut, daß man das wisse und daß man eine gezwungene Zurückgezogenheit nicht falsch auslege. Ich kann keine Meetings, keine häufigen Unterredungen haben. Es ist besonders schriftlich, daß ich handeln und mich mitteilen kann.«

Inzwischen war es mir wirklich gelungen, einige zwanzig deutsche Arbeiter zu vereinen. Sie sollten einmal wöchentlich am Abend zusammenkommen, um durch Besprechung und gemeinschaftliches Nachdenken sich über die wahren Interessen und Pflichten ihres Standes aufzuklären, ein Programm vernünftiger Forderungen für die Zukunft zu entwerfen und über die Mittel zu beraten, ihm Anhänger zu erwerben und die Solidarität der Gesinnung und des Handelns unter den Arbeitern jenseits und diesseits des Kanals zu fördern. Ich forderte Mazzini auf, wie er versprochen, diesen kleinen, nunmehr gebildeten Verein einzuweihen, indem er einmal in ihm erschiene und zu den Leuten spräche. Er erklärte sich freundlichst dazu bereit, und es wurde ein Abend bestimmt, wo die Zusammenkunft in meinem Zimmer stattfinden sollte. Zur bestimmten Zeit fanden sich die Arbeiter ein, alle in einer gewissen feierlichen Spannung, da sie wußten, wen sie zu erwarten hatten. Mazzini kam und begrüßte die Leute mit brüderlicher Freundlichkeit. Ich hatte ihn noch nie in einer solchen Versammlung und mit Leuten aus dem Volke gesehen, und nie war er mir edler und liebenswürdiger erschienen, als an dem Abend. Er war weit davon entfernt, wie so viele der Volksführer, einen andern Ton anzuschlagen, indem er zu Leuten niederen Standes sprach – entweder sie mit Herablassung zu behandeln oder eine gemeine und brutale Vertraulichkeit anzunehmen, wie ich es von mehr als einem Demokraten hatte tun sehen. Er blieb vollkommen er selbst, einfach, natürlich, edel. Er stieg nicht zu ihnen hinab, er hob sie zu sich herauf, indem er ihnen vertrauensvoll entgegen kam, um sie zu belehren und ihnen zu raten. Er sprach längere Zeit über die Notwendigkeit, das Gefühl der Solidarität in den verschiedenen Nationalitäten zu wecken, zunächst sich über die großen Grundgedanken der Zukunft zu vereinigen und dafür, mit vorläufiger Beiseitelassung aller einzelnen organisatorischen Systeme und Ideen, zu wirken. Er wies sie besonders darauf hin, wie er es auch bei seinen Italienern tue, daß sie nicht nur Forderungen zu machen, sondern auch Pflichten zu erfüllen hätten.

Einige der Arbeiter, die ich als sehr gute, denkende Männer kannte, hörten ihm aufmerksam und ehrfurchtsvoll zu. Andere, die schon zu sehr vom Kommunismus angesteckt waren, nahmen eine ziemlich trotzige Haltung an und unterbrachen Mazzini mehreremal, da sie alle französisch sprachen und es vollkommen verstanden. Einer, ein kluger Mensch, aber, wie ich später erfuhr, ganz unter dem Einfluß von Marr und den Kommunistenführern stehend, fragte plötzlich: »Und welche Garantien geben Sie uns für die Zukunft? Wenn die allgemeine Republik sich verwirklichen sollte, was würden Sie für den Arbeiterstand tun?«

Mazzini lächelte und erwiderte: »Aber lieber Freund, welche Garantien soll ich Ihnen geben? Wenn ich die Verwirklichung unserer Ideen erlebe, so werde doch nicht ich es sein, der die neue Organisation der Gesellschaft, besonders bei Ihnen in Deutschland, zu machen hat, sondern wir alle, Sie so gut wie ich. Dann ist es Ihre Aufgabe, dem Arbeiterstand seine Rechte zu wahren und seine Pflichten zu bestimmen.«

Wir beschlossen die Zusammenkunft, indem ich allen ein Glas Wein anbot, und Mazzini freundlich mit allen anstieß auf die zukünftige allgemeine Republik. Als er gegangen war, wurde noch beschlossen, daß ein jedes Mitglied an jedem Versammlungsabend einen Beitrag von sechs Pfennig in eine gemeinschaftliche Kasse legen solle, um so nach und nach einen kleinen Fond zu bilden für die Bedürfnisse der schriftlichen Propaganda usw. Ich begab mich nun regelmäßig an dem Vereinsabende in das zu diesem bestimmte Lokal, in einem kleinen Wirtshaus in der City, wo wir in einem Nebenzimmer, abgesondert von den übrigen Gästen, saßen. Angelika von Lagerström und einige andere deutsche Frauen kamen mit, um an den Verhandlungen teilzunehmen und fördernd einzuwirken. Im Anfang war ich freudigen Mutes bei der Sache. Je mehr ich aber hinging, desto mehr sank mein Mut. Ich sah ein, daß dieselben Elemente, denen ich mit Schmerz in den höheren Schichten der Partei begegnet war, sich auch hier vorfanden. Neid, Eifersucht, Egoismus, persönlicher Ehrgeiz mischten ihre unlautern Motive in das Streben nach Verständigung über die höchsten Ziele, nach Feststellung sittlich reiner Grundlagen für das bürgerliche und staatliche Leben, und die Bestimmungen über Rechte und Pflichten. Und alles das trat um so widriger hervor, als es mit einem gewissen geckenhaften Bestreben verbunden war, aus der eignen Sphäre herauszutreten und mehr zu scheinen, als man war; ja wohl gar gegen die Damen eine gewisse plumpe Galanterie auszuüben, indem man völlig den edlen Ernst, der jene leitete, verkannte. Mit tiefem Schmerz fragte ich mich abermals: Ist das die Menschheit, die Masse, für die auch du dein Kreuz auf dich nahmst, und von deren Befreiung und Vollendung zu sittlicher Schöne du den höchsten Traum geträumt? Ich fühlte es manchmal wie Menschenverachtung durch mein Herz zucken. Ich mußte mich nur immer wieder daran erinnern, daß jene Prinzipien, um derentwillen der Kampf aufgenommen worden war, die rechten waren, daß das Schicksal der Massen nicht abhängen dürfe von Willkür und despotischer Macht einzelner, daß, unter dem Schutz weiser, gerechter Gesetze, einem jeden einzelnen die Möglichkeit werden müsse, alles zu werden, was er seiner Naturanlage nach werden kann. Daß aber das christliche Gebot der allgemeinen Menschenliebe ein unerfüllbares sei, das wurde mir immer klarer. Lieben kann man nur die einzelnen, die Großen, die Guten. Die Menschheit im ganzen, wie sie sich in der Geschichte und, für die persönliche Erfahrung, in der Masse zeigt, ist eine furchtbare Offenbarung des Grundes der Dinge in der Individuation. Was den Denker, dem endlich der Schleier der frommen Täuschung zerreißt, noch mit der Menschheit verbindet, das ist das Mitleid, das unsägliche, mit dem unsäglichen Elend und Leiden. Deshalb, wenn man sich von der Mehrzahl der Erscheinung mit Ekel und Grauen abwenden muß, fordert das Erbarmen mit dem Leiden des Daseins immer wieder jede Anstrengung und jedes Opfer, um mitzuhelfen am großen Werke der Erlösung.

Mit rechtem Zorn sah ich aber auch bei dieser Gelegenheit, welches Übel die falschen Führer anrichten, die Doktrinäre und die Gewissenlosen, die unter dem Weihrauch, den sie den Massen streuen, nur den eigenen Ehrgeiz verbergen. Alle diese Leute, mit denen ich da zusammenkam, waren von kommunistischen Ideen angesteckt, die sie, bei halber Bildung, nicht einmal verdaut, sondern nur als ein glänzendes Spiegelbild eitler materieller Hoffnungen und Begriffe von Rechten aufgefaßt hatten. Dadurch war mancher kluge, verständige, gerade Sinn verkehrt, in manchem andern der innere und äußere Anspruch geradezu bis zum Lächerlichen und Widerwärtigen entstellt. Ich hielt lange aus; als ich aber sah, daß jeder dieser Pygmäen wieder in diesem Kreise der erste sein wollte und mit Eifersucht den Vorzug beobachtete, der etwa einem andern zuteil wurde – als es nicht möglich schien, jenen ernsten Drang nach Bildung hervorzurufen, den ich in den Arbeitervereinen in Deutschland gesehn – als sogar eine plumpe gesellschaftliche Vertraulichkeit einreißen zu wollen schien, da zog ich mich nach und nach zurück. Ich hatte den Anstoß gegeben, die Sache gegründet, war Lebensfähigkeit darin, so mußte sie durch sich selbst gedeihen. Leider erfuhr ich später, daß dem nicht so war.

Es war das Jahr Neunundfünfzig. Tiefe Aufregung herrschte in den politischen Kreisen. Die Sphinx in Paris hatte am Neujahrstag ihr geheimnisvolles Wort gesprochen, die Kriegswolken standen am Horizont. Mazzini war in voller Tätigkeit, nichts lag ihm so am Herzen, als die Parteigenossen zu vereinen zu gemeinsamem Handeln. Er schrieb mir eines Tages:

»Mir ist es klar, daß, wenn vor den deutlichen Projekten der beiden Zaren, vor der erneuten Drohung eines zweiten Tilsit oder Erfurt und der Teilung der europäischen Welt zwischen den Despoten – die Patrioten nicht alle das Bedürfnis fühlen, praktisch zu arbeiten, so bleiben sie hinter ihrem Glauben und ihrer Aufgabe zurück.«

Der italienische Krieg ward erklärt. In der italienischen Emigration rüstete sich alles zum Aufbruch, Mazzini auch. Manche Stunde verbrachte ich noch mit ihm und den bedeutendsten italienischen Patrioten, unter anderem Saffi und Mario, dem Gemahl von Jessie White, in Karolinens Salon oder, bei den schönen Frühlingstagen, auf deren Terrasse. Dann kam der Abschied. Zuerst schied Mario mit seiner energischen mutigen Gattin, die dem neuen Vaterland mit ganzer Seele zugetan war. Dann Saffi und die andern, zuletzt Mazzini. Ich wußte längst, wie töricht und unwahr die Beschuldigung sei, die man fortwährend gegen ihn erhoben hatte, nämlich, daß er sich immer zurückziehe, wenn die Gefahr, in die er die anderen schicke, herannahe. Er hatte nie gefehlt, wenn irgendeine Unternehmung für die Befreiung Italiens gemacht worden war. Jedesmal hatte er sich der langen Reise unterzogen, auf der er fortwährend in der Gefahr war, in einem der Länder, die er zu passieren hatte, erkannt und gefangen genommen zu werden – stets an den betreffenden Orten gegenwärtig, wo er nur durch die Wachsamkeit und Treue der Seinen immer wieder aus der Judasgefahr, die ihm im Vaterland drohte, errettet wurde. Daß er nicht unter seinem Namen reisen, nicht öffentlich seine Anwesenheit proklamieren konnte, verstand sich von selbst. Ebenso war es natürlich, daß er kein militärisches Kommando übernehmen, nicht selbst mitkämpfen konnte wie Garibaldi usw. Er war ein Organisator, aber kein Soldat. Doch gehörte ganz ebenso viel Mut dazu, in seiner Stellung Europa zu durchziehen, da ihm die ganze europäische Polizei auf den Fersen war, oder im Vaterland gegenwärtig zu sein, bei Bewegungen, als deren Urheber man ihn kannte und für die man ihn mit dem Tod bestraft hätte, hätte man ihn gefangen.

Auch jetzt also, wo der Unabhängigkeitskampf Italiens wirklich entbrannte, wollte er nicht fehlen. Ich verbrachte den letzten Abend mit ihm im Kreis der Freunde bei Karolinen. Er war ernst und feierlich gestimmt; die Entscheidung seiner großen Lebenshoffnung, um derentwillen er alles geopfert, alles getragen, alles gewagt hatte, stand vor ihm. Sie kam in ganz anderer Gestalt, durch ganz andere Mittel, als er gehofft. Aber er war zu sehr wahrer, großsinniger Patriot, um sie nicht auch so willkommen zu heißen, und er ging hin, seine Pflicht zu tun. Als er mir zum Abschied die Hand reichte, sah ich ihn einen Augenblick lang voll tiefer Wehmut an. Er erschien mir als eine der tragischesten Gestalten der modernen Geschichte (und ich wußte damals noch nicht, inwieweit sich dies noch steigern würde), aber ich fühlte auch, daß da kein Zurückhalten, kein sentimentales Zagen möglich war. Er mußte gehn und sein Geschick erfüllen. Er war der Apostel eines neuen Glaubens, einer regenerierten Moral für Italien; ebenso überzeugt, ebenso innerlich wie Arnold von Brescia, Giordano Bruno, Savonarola es gewesen waren. Er kam zu früh, wie sie zu früh gekommen waren, und wie sie mußte er den kühnen Blick in die Zukunft, dies Hellsehen des Propheten, mit dem Martertod zahlen, wenn auch nicht mehr auf dem Scheiterhaufen, sondern in einer mehr modernen Form, in der langsamen Qual des Exils. Ich segnete ihn in meinem Herzen, und so schied ich von ihm, um ihn nie wiederzusehen.


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