Malwida von Meysenbug
Memoiren einer Idealistin - Zweiter Band
Malwida von Meysenbug

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Sechstes Kapitel

Abschied von England

Meine Gesundheit hatte sich inzwischen immer mehr verschlechtert, und meine beinah erblindeten Augen versagten mir fast den Dienst. Zu dieser Zeit kam jene deutsche Dame, die in Manchester lebte, Madame Schwabe, mit der ich immer in Verkehr war, nach London. Es war ein längst gehegter Herzenswunsch von ihr, daß ich mich mit ihr vereinigen möchte – teilweise um ihr zu helfen, die Erziehung ihrer Kinder in einem idealeren Sinn zu leiten, als dies in den gegebenen Verhältnissen geschah. Außerdem aber wünschte sie meine Hilfe bei den vielen philanthropischen Werken, denen sie ihre Zeit und Mittel widmete. Schon im Anfang meines Aufenthalts in England, kurz nachdem ich bei ihr in Wales gewesen war, war sie eigens nach London gekommen, um mich zu fragen, ob ich mich ganz ihrer ältesten Tochter widmen wolle, die damals ein Mädchen von vierzehn Jahren war. Es war das zu der Zeit, als ich meine mühevolle Laufbahn des Stundengebens angefangen hatte. Was sie mir bot, war bequemer, materiell aussichtsreicher und in mancher Beziehung anlockender als dies Stundengeben in London. Dennoch lehnte ich es ab, da ich die mühselige Unabhängigkeit doch höher schätzte, als die bequeme Abhängigkeit, und da ich einsah, daß bei den religiösen und konventionellen Schranken der Erziehung in England mein Werk doch nur ein halbes bleiben würde. Jetzt erneuerte sie ihre Anerbietungen und schlug mir vor, im Sommer nach Wales zu kommen und den folgenden Winter mit ihr nach Paris zu gehen, woselbst sie mit ihrer Familie den Winter zuzubringen gedachte. Allerdings erschien mir dies Anerbieten jetzt als eine Fügung, die ich nicht von mir weisen dürfe, da meine Gesundheit mir so entschieden die Fortsetzung der bisherigen Lebensweise untersagte. Ich nahm es daher an, wenngleich der Entschluß, mich von London und allen, die mir da lieb und teuer waren, zu trennen, mir unendlich schwer wurde. Es lag in meiner Natur ein tief konservatives Element; da, wo ich einmal mit meinem Empfinden und meinen Gewohnheiten Wurzel geschlagen hatte, da liebte ich zu bleiben, zu erhalten, zu pflegen, zu entwickeln. Treue war ein Grundzug meines Wesens, und doch trieb der seltsame Widerspruch, in dem sich das Geschick zuweilen zu gefallen scheint, gerade mich immer von neuem hinaus, von dem sicheren Boden, den ich mir erworben, in das Schwankende, Ungewisse neuer Verhältnisse, riß mein Herz mit Schmerzen los von dem, was es in fester Liebe umfaßt hatte, gönnte dem Geiste nicht, in fester Konzentration an einem Werke seine Kraft zu üben und die Freude des Erfolges zu erleben. Was war es, was hatte das Schicksal mit mir vor durch diesen Widerspruch zwischen meiner innersten Natur und meinen Lebenswegen? War es vielleicht, weil, um mit St. Martin zu reden, »l'empire de l'oeil de mes semblables« zu viel Macht über mich hatte? Weil ich zu tief, zu selbstvergessen die Menschen liebte, denen ich einmal mein Herz hingab? War es, weil ich zu maßlos um eine zerrißne Liebe, um ein gestörtes irdisches Glück litt, und weil ich zu der Ruhe des Weisen, des Heiligen gelangen sollte, der, obschon ein unstäter Wanderer in der Wüste des Lebens, immer mehr das eine, Unvergängliche, das nottut, in sich selbst enthüllen und mit sich tragen soll durch allen Wechsel? – Wunderbar sind die Wege der Erziehung, auf denen das Schicksal uns führt. Wohl dem, der sie erkennt, der diese Winke benutzt und seine eigne Erziehung vollendet. Ihm winkt die endliche Erlösung und das Eingehn in das Nirwana – nicht in die Vernichtung, denn das ist der rechte Begriff des Nirwana nicht, sondern in die selige Einheit des Grundes der Dinge, in der alle Unruhe der Erscheinung aufgehört hat, und die Vollendung, die wir »im dunklen Drang« gesucht, uns in reinen Wellen umflutet. –

Da ich erst versprochen hatte, im Sommer, zu meiner gewöhnlichen Reisezeit, zu kommen, so vergingen mir noch einige Wochen in den gewohnten Beschäftigungen. Plötzlich erschien Herzen, der nichts von dem Plan mit Madame Schwabe wußte, und fragte, ob ich mich nicht entschließen wolle, für einige Zeit wieder hinauszuziehen zu den Kindern, in das schöne Gartenhaus, das er in einer Londoner Vorstadt bewohnte. Die russische Dame, die dem Hause vorstand, war durch ihre Gesundheit genötigt, an das Meer zu gehen, und war bereits mit ihrem eignen Kinde nach der Insel Wight abgereist. Er meinte, wir könnten dann später auch alle dorthin gehen und sehen, wie sich das Leben weiter gestaltete.

Fast gleichzeitig schlug Kinkel mir vor, mit ihm und seinen Kindern zusammen an das Meer zu gehen und die Sommerferien da zu verbringen. Ich schwankte einen Augenblick zwischen diesen verschieden Vorschlägen, dann aber entschied die wunderbare, fast unerklärliche Liebe, die ich für die kleine Olga Herzen hegte, und bestimmte mich, Herzens Anerbieten anzunehmen. Es kam ein geheimes Gefühl hinzu, als habe ich eine Schuld gegen dies Kind auf mich geladen, als ich damals das Haus verließ, indem die Dame, die nun ihre Pflegerin wurde, diese liebliche Natur weder erkannte noch liebte und keinenfalls richtig behandelte. Ich sagte mir oft, ich hätte um ihretwillen manches auf mich nehmen und ertragen sollen, was mir bei der früher erwähnten Veränderung dort im Hause nicht mehr gefiel. Ich stellte mir vor, daß ich durch geduldiges Ausharren vielleicht vieles hätte ändern, jedenfalls diesem Kinde eine schützende Vorsehung hätte bleiben können. War es mir eine tiefe Genugtuung, daß Herzen sich wieder an mich wandte, so schien es mir auch, als böte mir das Geschick nun die Gelegenheit, jene Schuld zu sühnen und das holde Geschöpf, das ich mit Mutterliebe liebte, nun von neuem an treuer Hand zu der schönen Entwicklung zu führen, zu der mir seine Natur angelegt schien. Ich schrieb daher Madame Schwabe und Kinkel ab und nahm Herzens Vorschlag an. Meine kleine Häuslichkeit hob ich nur vorläufig auf, da ich freilich noch gar nicht wußte, wie sich die Zukunft gestalten und ob ein festeres Verhältnis sich dort von neuem organisieren werde. Am meisten bedauerte ich es, meine Leseabende mit Lothar Bucher aufgeben zu müssen. Sie waren mir in jeder Beziehung lieb und wert gewesen, sowohl wegen der Fülle von Belehrung und Wissen, die mir der Umgang mit dem hochgebildeten Manne darbot, als wegen der zarten Beweise wirklicher Freundschaft, die er mir gab und die doppelt rührend und erfreuend für mich waren, da sie bei dem verschlossenen und gegen die meisten Menschen vielfach mißtrauischen Wesen Buchers gewiß nicht häufig vorkamen. Auch überkam mich anfangs ein Gefühl von Reue, als ich meine kleine, fast dürftige, aber selbstgeschaffne Unabhängigkeit verlassen hatte und mich wieder in Verhältnisse einpassen mußte, die ich nicht selbst gestaltet, denen ich nicht wenigstens zum Teil den Stempel meiner Individualität aufgedrückt hatte. Was ich einst mühsam in diesem Hause geschaffen, war dahin. Die Kinder waren in eine andere Bahn gelenkt, als wohin ich sie geführt hätte. Alles hatte wieder einen exklusiv russischen Anstrich angenommen. Ich empfand es tief, wie notwendig dem ausgeprägten Charakter die Unabhängigkeit ist, d. h. die Möglichkeit, sein äußeres Leben nach seinem inneren Bedürfnis zu gestalten, sich selbst zu affirmieren in den Verhältnissen. Die Ruhe, die der Geist genießt, wenn er sich selbst gemäß leben darf, ist das einzig wahre unzerstörbare Glück; dies sich zu erwerben und zu erhalten, sollte das Bestreben jedes selbstbewußt entwickelten Wesens sein. Alles übrige ist Schmuck des Daseins – oft wonnevolle Arabeske, die sich um seinen eigentlichen Kern schlingt, goldne Frucht der Hesperiden, die das Schicksal in guten Stunden manchem Sterblichen als besonderem Liebling in den Schoß wirft. Dieses zu entbehren ist schmerzlich, aber jenes zu entbehren ist unerträglich, und es bäumt sich das Beste, das Edelste in uns gegen ein Leben in Umgebungen auf, denen in jedem Augenblick unsere Überzeugung, unsere innerste Notwendigkeit widerspricht. Dennoch hielt mich die Freundschaft und Achtung für Herzen und die Liebe zu den zwei kleinen Mädchen fest, und ich versuchte es, mich mit ihnen wieder wie früher einzuleben. Nach ein paar Wochen rief uns Herzen auch nach der Insel Wight, wo wir, wie früher, Pulszkys und Kossuths fanden, mit denen sich, wie sonst auch, ein geselliges Leben organisierte. Bald jedoch stellten sich die verschiedenen Ansichten über Erziehung, wie überhaupt die Grundverschiedenheit der Naturen zwischen jener russischen Dame und mir, wieder so peinlich heraus, die Konflikte in der Praxis der Erziehung waren so unvermeidlich, daß ich von neuem einsah, wie unmöglich ein solches Zusammenleben und Zusammenwirken sei. Abermals mit tiefem Schmerz, aber entschiedner und ruhiger als das erste Mal, erklärte ich es Herzen, daß ich nicht frei handeln und wirken könne, wenn nicht ganz meinen Ansichten gemäß. Ihm war es auch leid wie das erstemal, und doch fühlte er wohl selbst, daß ich recht hatte. Ich schrieb an Madame Schwabe und sagte ihr, ich wolle nun doch im Herbst mit ihr nach Paris gehen. Sie schrieb erfreut wieder und war gutmütig genug, es mir nicht nachzutragen, daß ich, um der größeren Liebe willen, ihr anfangs abgeschrieben hatte. Dann beschloß ich zunächst noch für einige Wochen nach Eastbourne zu gehen, wo ich schon früher gewesen und wo sich meine näheren Beziehungen zu Mazzini und Karolinen angeknüpft hatten. Die letztere war auch jetzt da mit Mann und Kind, und außer ihr war Lothar Bucher dort, den ich schriftlich bat, mir eine Wohnung dort zu nehmen. Was mir von neuem das Herz zerriß, das war der Abschied von der kleinen Olga, die traurig und stumm das kaum neu geknüpfte Liebesband sich wieder lösen sah. Ein unsägliches Mitleid hielt mich bei ihr zurück. Dennoch fühlte ich, daß ich unter den gegebenen Verhältnissen nicht bleiben könnte. Herzen fuhr mit mir nach Porthsmouth, da er nach London zurück wollte. Der Wagen, der uns von Ventnor nach Ryde über die Insel führen sollte, stand vor der Türe, und die Mitglieder der Familie, die zurückblieben, standen Abschied nehmend dabei. Da trat die kleine Olga aus dem Garten und reichte mir leise und wie beschämt, daß sie nichts anderes zu geben hatte, ein paar Zweige blühender Myrte, die in dem milden Klima Ventnors im Freien wächst. Dabei sah das dunkle, unschuldige Kinderauge traurig zu mir auf. Das kleine Wesen wußte es, daß sie, die Mutterlose, in mir das Mutterherz wiedergefunden hatte, und es war zum zweitenmal zwischen uns ein Scheiden wie zwischen Mutter und Kind. Ich nahm die Myrtenzweige mit grenzenloser Wehmut, und als der Wagen fortrollte und das kleine Geschöpf meinen Augen entschwand, war es wieder, als wäre die letzte Poesie des Lebens dahin.

In Portsmouth trennte ich mich von Herzen. Er ging nach London, ich fuhr mit der Bahn der Küste entlang nach Eastbourne. Dort traf ich Bucher, der mir ein Logis besorgt hatte, dann Karoline, die mit ihrem Kind da war und deren Mann immer für den Sonntag von London heraus kam. Der kleine Kreis wäre hinreichend gewesen, um eine stille frohe Zeit zu verleben, aber das Intermezzo von Ventnor lag trüb und verstimmend auf meiner Seele, und der Gedanke an das Kind, dem die rechte Liebe fehlte, ließ keine Freudigkeit in mir aufkommen. Dazu kam die Angst um Mazzini, der auf seinen gefährlichen Streifzügen in der Nähe des durch den Frieden von Villafranca nur halb befreiten Italiens verweilte. Eines Tages, als ich bei Karolinen war, erhielt sie einen Brief von ihm, worin er eine tief poetische, wehmutsvolle Schilderung seiner Fahrt über den Vierwaldstättersee machte. Er schrieb, wie in der feierlichen Stille jener erhabenen Natur die tiefste Andacht der religiösen Stimmung über ihn gekommen sei; ein gläubiges Schauen und Hoffen, gleichsam in weitester Ferne, für sein Vaterland, das er so glühend liebte und dem er nur heimlich nahen durfte. Er fügte hinzu, daß er überzeugt sei, wie auch sie, obwohl eine Skeptikerin, von der Macht der Stunde ergriffen, mit ihm niedergekniet sein würde in Anbetung des Weltgeistes, dessen Gegenwart ihm so fühlbar gewesen sei in dem Augenblicke. Ich wandte mich ab, um Karolinen die auch beim Lesen dieser Zeilen skeptisch blieb, die Träne zu verbergen, die in mein Auge trat. Ich fühlte jene Stunde mit ihm, fühlte, was dies einsame, große, gläubige Herz empfunden hatte inmitten des feierlichen Schweigens jener Riesenmauern, die seine schönheitatmende Heimat abschließen. Er nahte ihr noch immer als ein Ausgestoßener, ein Flüchtling. Aber er hatte ihr ja längst das Opfer seiner individuellen Existenz gebracht, und jener Augenblick war sicher einer von denen gewesen, in denen die Märtyrer der Idee, im intuitiven Schauen über die Grenze der Zeit hinaus, die erhabene Seligkeit der Überwinder genießen. Ich schrieb ihm am folgenden Tag unter dem Eindruck jenes Briefes. Bald darauf erhielt ich, in einen Brief an Karoline eingeschlossen, folgende Antwort:

»Meine liebe Freundin, heute nur zwei Worte als Antwort auf Ihre Zeilen! Habe ich nötig, Ihnen zu versichern, wie lieb sie mir waren? Ich verdiene nicht alles, was Sie mir darin sagen, ich erreiche zu wenig von dem, was ich erstrebe, aber ich glaube, mein Herz ist mehr wert als meine Intelligenz, während bei den meisten andern die Intelligenz mehr wert ist als das Herz. Das ist der Grund, warum jene nicht handeln. Hätte ich einige zwanzig Männer mit Ihrem Herzen und Ihrer Fähigkeit der Hingebung zur Seite, ich hätte zu dieser Stunde Europa regeneriert. Aber solche existieren nicht. Deshalb müssen Sie fortfahren, mich zu lieben um dessentwillen, was ich hätte tun mögen. Ihre letzte zerstörte Hoffnung mit Olga hat mir sehr leid getan. Aber ich glaube, ich weiß selbst nicht warum, daß Sie wohl tun, mit Madame Schwabe zu gehen. Man wird Sie dort lieben. Karoline, die mir oft von Ihnen schreibt, sagt mir nichts von Ihren Augen. Sie selbst sagen mir auch nichts davon. Wie geht es damit? Lassen Sie es mich durch K. oder Sie selbst wissen.

Vor vierzehn Tagen glaubte ich an die Wahrscheinlichkeit, Sie bald wiederzusehen, jetzt weiß ich wieder nicht, wann? Ich muß noch bleiben. Ich habe Euch alle zusammen in Eastbourne recht beneidet.

Ich lebe hier nur durch den Kopf, durch die Indignation und das Gefühl der Pflicht; das Herz hat dabei nichts zu tun und ist fern von hier. Was halten Sie von der Agitation für die Einheit, die sich in Deutschland regt? Was denken K., B. und die andern davon? Was hoffen Sie?

Hier hat die Krisis nur erst angefangen.

Leben Sie wohl, liebe Freundin, ich hege für Sie eine aufrichtige und unzerstörbare Freundschaft.

Joseph.«

Leider trat zu Ende meines Aufenthalts eine tiefe persönliche Verstimmung bei mir ein, die mich mehr und mehr von dem kleinen Kreis meines bisherigen Umgangs entfernte und mich ganz isolierte. Was ich von der fleckenlosen Liebenswürdigkeit des Charakters eines Mitglieds dieses Kreises geglaubt hatte, erschien mir als eine Täuschung, und der Schmerz darüber machte mich vielleicht ungerecht gegen die anderen Teilnehmer der kleinen Gesellschaft. Der Mangel an Leichtlebigkeit in meiner Natur, der schon so oft Dingen, über die ein leichterer Sinn spielend hinweggekommen wäre, einen tragischen Charakter gegeben hatte, machte auch hier die Situation für mich zu einer unerträglichen, aus der ich nur durch völligen Bruch mich schließlich retten konnte. Am Tag zog ich mit meinen Büchern auf einsame Punkte der Klippen und versenkte mich in allgemeine Gedanken. Aber die Abende, wenn ich allein war, waren traurig. Unfähig, mit meinen kranken Augen zu arbeiten, war es dann meine Beschäftigung, Seepflanzen zu trocknen, die ich in ein Buch klebte, das ich für Olga bestimmt hatte. Ich betrieb diese Arbeit mit einer Sorgfalt, als gelte es ein wichtiges Werk. Nur wer es weiß, wie sehnsuchtsvoll die Liebe nach Betätigung verlangt, wie schwer es ist, eine freudlose Einsamkeit zu tragen, wenn jeder Pulsschlag dafür klopft, sich geliebten Menschen widmen zu können, wie furchtbar die Herzensöde wird, wenn körperliches Gebrechen dann auch den Geist hindert, seiner Arbeit zu leben und so das Gleichgewicht herzustellen – nur der vermag zu empfinden, welchen schmerzlichen Trost mir jene Beschäftigung gewährte. Ich suchte mit ihr mich selbst über all die Entbehrung, über all die Leere zu täuschen, indem ich noch etwas – das einzig im Augenblick Mögliche, für das Wesen tat, das durch die geheimnisvolle Macht der Sympathie für mich zu einem Verhängnis wurde. Dieses Buch mit den kunstvoll geordneten Algen enthielt ein ganzes Drama von Empfindungen und Gedanken, die bei seiner Herstellung in mir sich bewegt hatten. Wie viele stumme Zeugen solcher Lebensdramen gibt es, die nie ein Blick enträtseln, nie ein teilnehmendes Herz vernehmen wird! Könnten sie reden, könnten sie die Geschichte all der Unzähligen berichten, deren Kämpfe und Leiden ungekannt auf der großen Bühne der Welt sich abspielen – der Phantasie würde nichts mehr zu erfinden übrig bleiben, und vor der hohen Tragik des Lebens würde selbst die höchste Dichtkunst verstummen.

Endlich kam die Zeit, wo ich in Brighton Madame Schwabe treffen wollte, um mit ihr zusammen nach Paris zu gehen. Ich schied von Eastbourne um ein Gefühl ärmer, das mein Leben in den letzten Zeiten freundlich erhellt hatte. War die Schuld mein, war sie der anderen – ich konnte es selber nicht entscheiden. Ich fühlte nur das eine bestimmt: jenes Gefühl war in mir erloschen, weil es auf einer Täuschung beruht hatte, und es konnte nicht wieder belebt werden.

In Brighton mietete ich mir ein ganz kleines dürftiges Stübchen, da alles andere mir zu teuer war. Den ganzen Tag aber brachte ich auf einer weit in das Meer hinaus gebauten Terrasse zu, wo ringsum die Wogen brausten und die frische Meeresluft mich stärkend umfing. Ich kannte keinen Menschen und fühlte mich himmlisch frei. Mein Schreibzeug nahm ich mit, und die Gedanken fingen wieder an zu strömen. Die Fesseln der inneren Verstimmung fielen von mir ab. Oft saß ich da noch, wenn der Mond mit seinem Silberglanz den weiten Wasserspiegel um mich her erhellte, und ferne Segelboote traumhaft über die glitzernde Flut zogen. Sie erschien mir wie der Lethe, in den allmählich wieder alles jüngst erlebte Leid versank, während mein Dämon sich mit entfalteten Flügeln aus den Wellen erhob und, Freiheit und Friede atmend, das Geheimnis des Lebens aufs neue mir kund gab: sich selbst erlösen aus der Unruhe des Vergänglichen und sich versenken in das Reich der Ideen, in das Unvergängliche. Die Unruhe des Vergänglichen erniedrigt uns; sie ist die bange Sorge um das schlechte Ich, um die vorübergehende Individuation der unbekannten Weltseele. Die Erlösung aus dieser Unruhe ist die Erhöhung unserer selbst zu unserer wahren Würde, zu unserem wahren Ich, das sich eins fühlt mit allem Göttlichen, Erhabenen und Schönen. So groß wurde wieder mein inneres Glück in diesem Einklang mit mir selbst, daß ich des Abends in meinem häßlichen kleinen Stübchen, bei meinem bescheidenen Nachtmahl, mich schon auf den folgenden Morgen freute, wo ich wieder an die Arbeit gehen und den Strom der Gedanken mich umfluten lassen würde am flutenden Meer.

Dann gingen auch diese Tage zu Ende. Ich schiffte mich mit Madame Schwabe und ihrer Familie nach Frankreich ein und zwar von Newhaven nach Dieppe, welche Fahrt einige Stunden länger dauert als von Dover nach Calais. Als ich die weißen Küsten Albions allmählich in die grüne Flut versinken sah, war es mir, als versänke mir eine zweite Heimat. Sieben Jahre des Exils, voll schwerer Entbehrungen, harter Arbeit, tiefer Leiden, Verluste und Kämpfe waren in ihr verstrichen. Aber wie viel Liebe, Freundschaft, geistigen Fortschritt und Wachstum in dem einen, was nottut, hatte sie mir doch gegeben! Mit dankbarster Empfindung sah ich nach dem Inselland zurück, das mit seinen blühenden Fluren, mit seiner hohen Kultur, mit seinen festen, starken, unabhängigen Menschen wie eine höchst merkwürdige, des Studiums werte Erscheinung inmitten des Ozeans daliegt.


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