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32. Dem Hungertode verfallen.

Der Lord war über Nacht nicht heimgekehrt. Nun wurden unsere Freunde ernstlich besorgt. Sie sandten die Schwarzen aus, um den Wald nach allen Richtungen zu durchsuchen. Die Leute bewaffneten sich mit Beilen, um sich Zeichen in die Bäume zu hauen, nach denen sie den Rückweg finden könnten; aber all ihr Suchen und Rufen war umsonst; als die Letzten abends heimkehrten, war die Spur der Vermißten nicht entdeckt worden.

»Für derartige Fälle sollte man stets auch Spürhunde auf solch einer Reise mit sich führen,« meinte Schulze. »Ein Dachshund taugt da nichts, so tüchtig Nigger sonst ist.«

Den folgenden Tag wurden die Nachforschungen ebenso erfolglos fortgesetzt.

Die Lebensmittel waren zu Ende, heute hatten die Neger das letzte Elefantenfleisch verzehrt, das, in Verwesung übergegangen, einen abscheulichen Gestank verbreitete, so daß die Weißen lieber hungerten.

»Man sollte denken, so ein Elefant versorgt einen reichlich mit Fleisch,« sagte Leusohn, »aber eine Karawane von über zweihundert Personen ist rasch damit fertig, und leider läßt sich jetzt kein Wild mehr blicken.«

»Länger dürften sie auch nicht von dem Fleische essen,« meinte Helene. »Für uns ist es schon heute ungenießbar.«

»Oh, das macht den Schwarzen nichts aus,« warf Hendrik ein. »Die zehren acht Tage oder länger von einem verwesenden Aas.«

»So mögen sie dabei fett werden!« rief Helene schaudernd. »Wir aber müßten daneben verhungern; denn bei aller Selbstüberwindung zögen wir uns doch nur durch den Genuß des verdorbenen Fleisches eine tödliche Vergiftung zu.«

»Ja, ja,« bestätigte Schulze. »Der Löwe verhungert, wo der Esel fett wird! Aber die Sache wird ernst: auch die Schwarzen haben nichts zu essen mehr, wir müssen unbedingt morgen eine angebaute Gegend erreichen, sonst sind wir alle des Todes.«

Das war eine Wahrheit, der sich niemand verschließen konnte, und es durfte nicht daran gedacht werden, das anscheinend aussichtslose Suchen nach Flitmore länger fortzusetzen.

So wurde denn in aller Frühe aufgebrochen und der gefesselte Führer versprach, die Karawane bis Mittag in eine dichtbevölkerte Landschaft zu bringen.

Er schlug eine südwestliche Richtung ein, den Waldsaum verlassend, und immer tiefer ging es hinein in eine trostlose Wüste.

Der Abend kam, und die von Hunger und Durst erschöpfte Karawane lagerte in der endlosen Einöde.

Der Führer wurde ernstlich zur Rede gestellt.

Er blieb dabei, man sei der fruchtbarsten, bevölkertsten Gegend ganz nahe; in zwei Stunden könne man dort sein.

»Der Kerl lügt doch gar zu frech!« rief Leusohn entrüstet. »Man überschaut ja diese Ebene auf Stunden weit hinaus, und nirgends im ganzen Umkreis zeigen sich Anzeichen angebauten Landes. Er ist ein vollendeter Schurke und führt uns offenbar mit Absicht ins Verderben, vielleicht aus Rache dafür, daß wir ihn fesselten und so seine beabsichtigte Flucht verhinderten.«

»Das glaube ich doch nicht,« widersprach Hendrik. »Der Mann ist so übel daran, wie irgend einer von uns. Rachsüchtig sind die Neger überhaupt nicht, geschweige denn, daß sie sich selber ihrer Rache opferten. Aber so sind die Schwarzen. Der Mann kennt die ganze Gegend offenbar ebensowenig wie wir. Er bot sich uns als Führer an, nur um uns gefällig zu sein, er vertröstet uns mit Dingen, die er selber hofft und wünscht, von denen er aber gar nichts Bestimmtes weiß, nur um uns Freude zu machen.

»Merkt so ein Führer, daß der Weiße begierig ist, die Namen von Ortschaften, Flüssen und Bergen zu erfahren, so sagt er nie: ›Ich bedaure, das weiß ich nicht!‹ Denn das würde den weißen Herrn betrüben. Vielmehr nennt er sofort einen Namen, wie er ihm gerade einfällt, und hat dann die Genugtuung, den Weißen befriedigt zu sehen. Auch dies ist vielfach Schuld an der Verwirrung geographischer Bezeichnungen in Afrika.«

»Sie haben recht,« bestätigte Schulze. »Der Neger lügt nicht, um zu lügen, auch nicht aus Bosheit und arger List, sondern aus reiner Gefälligkeit. Aber das kann uns jetzt nicht trösten, denn es ist unser Verderben; es hilft nun nichts, die beiden Reitstiere und die beiden Reitesel müssen geopfert werden.«

So wurden denn die treuen Tiere geschlachtet; aber sie waren recht abgemagert und konnten den grimmigen Hunger der großen Karawane nur notdürftig stillen.

Bis zum anderen Mittag sah die Gegend nicht anders aus als bisher. Der Marsch wurde aufgegeben; denn die Hälfte der Leute kam einfach nicht mehr weiter. Die kleineren Kinder mußten schon alle getragen werden; aber auch die Erschöpfung und Entkräftung der Erwachsenen war zu groß, als daß sie noch ferner hätten weiter wandern können, da man, so weit das Auge blickte, nur immer dieselbe öde Wüstenei schaute.

Schulze wunderte sich im stillen schon lange darüber, daß keine Klage oder gar Verwünschung über die Lippen der Schwarzen kam.

Nachdem nun das Lager aufgeschlagen worden war, machte der Professor einen Gang durch dieses wahrhaftige Hungerlager.

»Kinder, es geht uns schlecht!« sagte er zu einigen Weibern, die, vom Hunger geschwächt, sich kaum mehr regen konnten.

»O Bwana!« erwiderten die Weiber mit mattem Lächeln. »Die weißen Herren werden schon für uns sorgen und uns dahin bringen, wo kein Mangel ist.«

Dieses rührende Vertrauen angesichts des nahen Todes, diese unbegrenzte Zuversicht, die er nicht rechtfertigen konnte, schmerzten den Professor und er wandte sich ab.

Von einer Stelle des Lagers her ertönte lustiger Gesang, unterbrochen durch Scherze und Gelächter; dorthin lenkte Schulze den Schritt.

»Habt ihr keinen Hunger, Kinder, daß ihr so vergnügt seid?«

»Oh, Bwana Bawessa, wenn wir haben Hunger, dann wir singen. Singen alles schöner machen, auch Hunger schöner machen!«

Ein anderer bemerkte: »Bwana Maua hier keine Blätter finden zu essen, auch müssen Hunger haben wie wir. Wenn Bwana etwas haben, uns alles auch geben – wir aber nichts haben zu geben Bwana Bawessa und Bwana Dakta und Bwana Hendrik und Fräulein!«

Anderwärts traf Schulze einige, die sich noch einen Bissen vom gestrigen Rinds- oder Eselsbraten vom Munde abgespart hatten. Aber keiner verzehrte das kostbare Gut, ohne andere zum Mithalten einzuladen; denn allein zu schmausen, wenn andere darben, ist für eine Negerseele ein Ding der Unmöglichkeit.

Kurz, überall fand er so viel Geduld, Edelmut und Opferwilligkeit, daß er davon tief gerührt wurde.

Diese Beobachtungen, die ihn beschämten, teilte der Professor den Gefährten mit und fügte hinzu: »Wenn man satt ist, fällt es einem nicht schwer, von edlen Gefühlen beseelt zu sein und sich Notleidender zu erbarmen; aber lechzend vor Durst und verschmachtend vor Hunger, wenn nur noch die rasende Gier nach Speise und Trank in uns fiebert, – dann übe Entsagung, und du bist ein Held!«

Hiezu bemerkte Hendrik: »Sie werden auch schon beobachtet haben, wenn den Negern ihre Rationen ausgeteilt werden, daß sie selbst beim größten Hunger geduldig warten, bis die Reihe an sie kommt, und daß sie es für die größte Ungezogenheit und ein verächtliches Beginnen halten würden, wollte sich einer vordrängen.«

»Wie es bei uns in den feinsten Kreisen Sitte ist,« ergänzte Leusohn. »Wenn etwa bei einer vornehmen Abendgesellschaft das Büfett gestürmt wird mit Drängen und Stoßen, und jeder nur an sich und seinen hochachtbaren Magen denkt.«

»Ach, so ein Büfett!« seufzte Helene. »Daß du einen auch an so etwas erinnerst. Wenn uns eine gütige Fee eines hierherzauberte! Mit Schinken und Stullen – – –«

»Sardellen- und Kaviarbroten,« fügte Schulze hinzu.

»Vielleicht etwas Schweizerkäse oder kalter Braten gefällig?« machte der Doktor.

»Oh,« sagte Helene. »Wenn ich an das Hochzeitsmahl meines Bruders Fritz denke, was es da alles gab, und wie viel übrig blieb! Wie froh wären wir jetzt an den geringsten Überresten, ja nur an dem, was die Gäste auf den Tellern liegen ließen!« Und nun zählte sie alle die Herrlichkeiten auf, die damals auf die Tafel kamen, und alle schwelgten in der Erinnerung an solch auserlesene Genüsse.

Zum Überfluß zog Schulze noch eine alte Nummer der »Times« hervor, die Flitmore ihm zum Einwickeln von Präparaten abgetreten hatte, und las Berichte über Einladungen und Festessen vor, und zuletzt stellten sie sich noch aus den Anzeigen der Kolonialwarenhändler, Metzger und Zuckerbäcker Speisenfolgen zusammen, die ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen.

»Wir halten da Mahlzeiten, wie Schakabak, der Bettler,« sagte Leusohn, wehmütig lächelnd. »Was meinen Sie, Professor, befänden wir uns nicht besser im Universitätskarzer als hier in dieser Wüste?«

»Im Karzer? Bei Wasser und Brot?« griff Schulze eifrig auf. »Himmlisch, Doktor! Für einen Laib Brot gäbe ich, und wenn es Kommisbrot wäre, den schönsten Käfer aus meiner Sammlung!«

»Natürlich! Das wäre ein unerhörtes Opfer!« spottete der Doktor. »Einen ganzen Elefanten gäbe ich dafür, – wenn wir nur einen hätten! Nein, nein! den Elefanten doch nicht, der gibt doch Nahrung; aber sein Elfenbein für eine einzige Semmel!«

Solche Gespräche machten nun zwar nicht satt, aber sie lösten doch während des Schlafs herrliche Träume aus. Schulze und Leusohn träumten von einem Festessen und von einer Bahnhofrestauration, und Helene gar nannte im Traume ein echtes Weizenbrot ihr eigen.

Diese üppigen Träume erzählten sie einander am andern Morgen anstelle des mangelnden Frühstücks.


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