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12. Der Kiwusee.

Am andern Tag zeigte sich erst die Erschöpfung bei den gestern so glücklich Geretteten; notgedrungen mußten sie sich einen Rasttag gönnen.

Dann aber ging es weiter, dem Kiwusee zu, auf den alle begierig waren, nachdem sie seine gewaltige Wassermasse und seine reizende Uferlandschaft von der Höhe der Vulkane aus schon einigemal bewundert hatten, wenn nicht die Nebel die Aussicht hinderten.

Der Adolf-Friedrich-Kegel, der sich ganz in der Nähe des Lagers befand, wurde zunächst besichtigt.

Schulze gab, wie gewöhnlich, die nötigen Erläuterungen, indem er Folgendes ausführte: »Wir haben hier einen ganz jungen kleinen Vulkan vor uns, wie den Kana Maharage. Er ist im Mai 1904 plötzlich entstanden, warf über mannshohe Bomben und Lavablöcke aus, die von einem zweihundertfünfzig Meter breiten Schmelzfluß zehn Kilometer weit bis an das Seeufer gewälzt wurden. Dieser Lavastrom hat Bäume und Sträucher auf seiner Bahn begraben und weist uns den nächsten Weg zum See.

»Ihren Namen trägt die vulkanische Neuschöpfung zu Ehren des Herzogs Adolf Friedrich von Mecklenburg, der eine der großartigsten und erfolgreichsten Forschungsreisen durch diese Gebiete geleitet hat.«

Einen Krater wies der Adolf-Friedrich-Kegel nicht auf; der Schlot lag unter mächtigen Schlackenhaufen begraben. Dagegen war er von zahlreichen dampfenden Rissen und Spalten durchzogen, die erstickende Dünste ausströmten: Schwefelwasserstoffgas, Kohlensäure, Salzsäuredämpfe und solche von schwefliger Säure mit stechendem Geruch.

Weiterhin zog sich ein fruchtbares, reich angebautes Land; namentlich wurde die Bienenzucht von den Batwa in großartigem Maßstabe betrieben. In einem Dorfe zählten unsre Freunde über dreihundert Bienenstöcke.

Die herrlichen, blühenden Gefilde boten aber auch den Bienen reichliche Nahrung, und den Weißen wie den Schwarzen war es durchaus nicht zuwider, daß sie beinahe nichts als Milch und Honig zu genießen bekamen: es war eine äußerst nahrhafte, gesunde und dazu wohlschmeckende Kost.

Die fruchtbaren Niederungen erwiesen sich auch hier als ursprünglicher Seegrund, und es war in die Augen springend, daß der Kiwusee vor Zeiten mit dem Albert-Edward-See ein einziges großes Wasserbecken bildete, und zwar mußte dies, wie Flitmore versicherte, noch in geschichtlicher Zeit der Fall gewesen sein, denn es entspreche ganz der Darstellung, welche die Karten der Alten von den Seen Innerafrikas gäben.

Die Ebene war von zahlreichem Wild, namentlich Elefanten und Büffeln belebt, und Schulze entdeckte eine ganz neue Schimpansenart. Löwen und Antilopen waren hier auch nichts Seltenes.

Als nun die Karawane die Ufer des Kiwusees erreichte, waren die Weißen ganz entzückt und begeistert von dem herrlichen Landschaftsbild.

»Wahrhaftig,« rief Schulze aus, »ich habe schon manchen See gesehen in Europa, Amerika und Afrika, aber keinen, der sich mit diesem vergleichen ließe, das muß ich ehrlich gestehen! Eine solche Vereinigung von Lieblichkeit und Größe, von stillen Buchten und tiefen Fjorden, von seligen Inseln und majestätisch ragenden Gebirgen, das findet sich nirgends wie hier beim Kiwu!«

Darin waren alle mit ihm einig und bestätigten sein Urteil.

»Und nun sehen Sie diese Schwarzen!« eiferte der Professor voller Entrüstung. »Ist da auch nur einer oder eine, die dieses entzückende und erhebende Schauspiel auch nur eines Blickes würdigen würden? Nein! Stumpfsinnig bauen sie ihre Lagerhütten, stampfen ihren Mais und ihre Durra und lassen Landschaft Landschaft sein. Ja, die Sorghumfelder, Bananenhaine und Palmenwälder rufen stets ihr Entzücken hervor, weil es da etwas für Gaumen und Magen gibt; aber Sinn für Naturschönheit? Nee! das gibt's nicht bei diesen trostlosen, stumpfsinnigen Menschen!«

»Ereifern Sie sich nicht sosehr, wertester Professor!« lachte Leusohn. »Auch hier heißt es: ›Ganz wie bei uns‹, oder wie der Deutsche zu sagen pflegt, ›tout comme chez nous‹. Nämlich unsre europäischen Bauern sind hierin um kein Haar fortgeschrittener als die Neger Afrikas.

»Als ich zum Beispiel einmal nach dem Gotthard wanderte, traf ich einen Schweizer Landwirt, einen besseren, nicht ungebildeten Mann. Als der die majestätischen Felsenwände und die schäumenden Wasser bei der Teufelsbrücke sah, war er ganz entsetzt, angesichts dieser großartigen, wildromantischen Landschaft. ›Was‹, rief er aus, ›das soll schön sein? Ich habe immer die Fremden rühmen hören, wie ausnehmend herrlich es hier in den Schöllenen sei. Da dachte ich, mußt es dir doch auch einmal ansehen. Und was ist's? Nichts als nackte Felsen und Wasser! Keine Wiese, kein Feld! Nein, solch eine häßliche Gegend habe ich überhaupt noch nicht gesehen?‹«

»Das war das Urteil des Schweizer Bauern,« fuhr der Doktor fort. »Und ähnlich habe ich hundert Bauern in allen Gegenden Deutschlands urteilen hören; die schönste Landschaft ist für sie die fruchtbare Ebene ohne Berg und Tal.«

»Ihr tut unsern Bauern sowie den Negern unrecht,« tadelte Helene. »Wie kann man von ihnen Sinn für Naturschönheit erwarten, wenn niemand sich die Mühe nimmt, diesen Sinn in ihnen zu wecken? Ich bin überzeugt, wir alle wären uns der Schönheit solcher Landschaftsbilder nicht bewußt, wenn wir nicht von Kind auf Erwachsene zur Seite gehabt hätten, deren Begeisterung uns die Augen geöffnet hätte und Bücher und Schilderungen gelesen hätten, die uns den Blick für Naturschönheiten geschärft hätten.«

»Na, na!« spöttelte Leusohn. »Versuche es doch einmal bei diesen Negern, den Sinn zu wecken, der erst vorhanden sein muß, ehe er geweckt werden kann.«

»Oh, Versuche habe ich schon gemacht, und zwar mit Erfolg, du alter Spötter,« verteidigte sich seine Schwester, »aber bei Kindern natürlich. Gelegentlich bei Ausflügen machte ich etwa Bauernkinder auf die Schönheit einer Landschaft aufmerksam, wies ihnen dies und das und erklärte ihnen, was hübsch, großartig, romantisch daran war. Und sofort sah ich, wie sie sinnend standen und das tausendmal gesehene Bild mit ganz neuen Augen betrachteten, ja alsbald noch andre Reize, die ich nicht genannt hatte, selbständig ausfindig machten.

»So war ich auch einmal bei Fritz, – das ist nämlich unser älterer, verheirateter Bruder, Herr Professor; – mein kleiner Neffe Karl wollte eines Morgens nicht aus seinem Bett heraus und schon drohten ihm Schläge. Da bat ich, es zuvor noch einmal mit Güte versuchen zu dürfen. Nun sagte ich ihm: ›Wenn du dich ganz lieb anziehen läßt, zeige ich dir etwas ganz Wunderschönes?‹ Das zog! Er ließ sich ankleiden und kam dann gleich zu mir, verlangend, ich solle ihm jetzt das versprochene Schöne zeigen. Ich aber hob ihn zum Fenster empor und sagte: ›Siehe einmal, welch wunderschönes Wetter da draußen ist; der blaue Himmel, die goldige Sonne und alles so grün?‹ – Es hatte nämlich die letzten Tage immerfort geregnet. Da war der kleine Mann nicht etwa enttäuscht, wie ich halb und halb befürchtete, sondern verwundert, aber nachdenklich sah er sich alles an; und was mich besonders freute, weil es bewies, daß etwas Neues im Knaben erwacht war, er kam im Laufe des Tages noch mehrmals und bat mich, ihn zum Fenster emporzuheben, er möchte das schöne Wetter noch einmal sehen.«

»Das ist allerdings ein schöner Erfolg gewesen,« gab Leusohn zu, »aber bei diesen Negern ...«

»Ich bezweifle selbst,« gestand Helene, »ob es bei Erwachsenen nicht schon zu spät und deshalb vergeblich sein dürfte. Aber ein Versuch lohnt sich immer, und ich will ihn machen. Wenn er nur ein wenig Erfolg hat, so wird er schon ansteckend wirken; eines wird das andre aufmerksam machen und Reize schätzen lehren, die es zuvor nicht ahnte.«

Sie rief nun Amina, Tipekitanga, Hassan und Hamissi her und redete sie etwa folgendermaßen an: »Hier sehet doch auch, wie wunderschön der See und seine Ufer sind. Wir Weiße sind ganz fröhlich davon, denn wir haben nie etwas so Schönes gesehen.«

Die Schwarzen waren verblüfft und blickten erst den See, dann Helene ganz dumm und blöde an. Nur Hassan sagte mit ernster Miene: »Das ist ganz wie im Somalilande!«

Das weiße Fräulein aber war damit nicht zufrieden; sie begann nun die vier Menschenkinder auf die Reize der Farben aufmerksam zu machen, wußte sie doch, daß der Neger einen ausgeprägten Farbensinn hat, da er die feinsten Abtönungen der Stoffe und Glasperlen genau zu unterscheiden und nach seinem Geschmack auszuwählen vermag, obgleich seine Sprache nicht einmal für alle Grundfarben unterscheidende Namen besitzt.

Dann ging sie weiter, machte auf die Formen der Berge und der Bäume, auf die Großartigkeit der eigentümlichen Felsgebilde, auf Wasserfälle und andres aufmerksam und hatte die Freude, zu sehen, daß alle ganz nachdenklich die genannten Vorzüge des Landschaftsbildes betrachteten. Ja, Tipekitanga klatschte ein über das andre Mal in die Hände und rief: »Ach ja, das ist wirklich schön; das hat Tipekitanga gar nicht gewußt und nie darauf geachtet; sie ist vorbeigegangen, wie eine, die keine Augen hat. Jetzt aber macht es sie auch ganz froh, wie die Weißen.«

Auch diese Ausrufe der Zwergprinzessin machten einen sichtlichen Eindruck auf Hassan und Hamissi, besonders aber auf Amina. Und Schulze und Leusohn, die die Wirkung scharf beobachteten, erklärten einstimmig, für heute dürfe Helene mit ihrem Erfolg wohl zufrieden sein, sie hätten nie geglaubt, daß die Schwarzen auch nur zu einem solch nachdenklichen Betrachten zu bewegen sein würden.

Hassan aber machte den Schluß, indem er mit einem letzten, bewundernden Blick auf die Ufer wiederum erklärte: »Wahrhaftig! Ganz wie im Somalilande!«


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