Mirok Li
Der Yalu fliesst
Mirok Li

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Seoul

Kurz nach dem Frühstück lief unser Schiff in den Hafen Tschemulpe ein. Ich folgte den anderen zur Bahn und bestieg einen Zug, der bald danach abfuhr und, nachdem er an mehreren kleinen Stationen gehalten hatte, gegen Mittag endlich in der Richtung des Dreihörnerberges dahindampfte. Hügel, Täler und Dörfer flogen an uns vorüber und wir näherten uns immer mehr der Stadt, in der über ein halbes Jahrtausend der Thron unseres Königs gestanden hatte. Hierher waren die nächtlichen Feuersignale von allen Provinzen des Landes gekommen, die wir als kleine Kinder von unserer Stadtmauer aus gesehen hatten; hier, in den Palästen, hatten die Statthalter die königliche Vollmacht empfangen, um das Volk zu regieren. Hier hatten die berühmtesten Dichter unseres Landes geweilt und hierher waren alle Gelehrten und Künstler geströmt. Ich saß versunken da. Der Zug eilte durch einen Tunnel, über einen Fluß und lief bald danach in eine unermeßlich große Halle ein. Draußen rief man, daß wir in Seoul angekommen seien.

Ich nahm mein Gepäck und folgte dem Menschenstrom aus dem Bahnhofsgebäude. Ein riesengroßer Platz dehnte sich vor mir aus. Rikschas, Fahrräder Motorräder sausten zwischen den hupenden und 152 laut schellenden Trambahnwagen umher. Wir fuhren mit der Trambahn. Es schien mir fast eine Ewigkeit zu dauern, bis wir durch die belebte Hauptstraße mit modernen Kaufhäusern, Banken und Gaststätten zu dem nördlichen Stadtteil gelangten, in dem die meisten unserer Studenten leben sollten. Hier begegnete man in der Tat in jeder Gasse, jedem Buchladen, jedem Speisehaus Studenten, die alle ähnlich uniformiert waren und sich nur durch die verschiedenen Anstalts- und Fakultäts-Abzeichen an Mütze und Kragen unterschieden. Sie fragten aber nicht nach dem Fach, nach der Schule, nach der Provinz, woher man kam. Alle grüßten sich und halfen sich gegenseitig, als stammten sie aus einer einzigen großen Familie.

Am nächsten Morgen stand ich vor dem Eingang der medizinischen Hochschule zu Seoul, die im östlichen Teil der Stadt lag und aus mehreren Gebäuden europäischen Stils bestand. Studenten strömten aus und ein, die alle die dunkelblaue Uniform mit dem goldenen Abzeichen, welches »Medizin« bedeutete, trugen. Die Neulinge aber kamen noch in ihren einheimischen Trachten, die Koreaner in der weißen, die Japaner in der schwarzen. Ich schloß mich ihnen an und ging zur Kanzlei und empfing Ausweispapiere, Studienpläne und Abzeichen für meine Uniform und Mütze. 153

Die chemische Vorlesung war gut; sie war übersichtlich gegliedert und die Experimente fehlten nie. Die physiologische Vorlesung war mäßig, sie brachte uns nicht viel Neues. Nicht besser war es bei der Anatomie, für uns die wichtigste Vorlesung. Der magere Professor sprach ungleichmäßig, ohne Betonung und ohne Schwung. Er nahm einen Knochen in die Hand und schien die Flächen, Vertiefungen und Höckerchen in japanischer, deutscher und lateinischer Sprache zu bezeichnen. Wegen seiner schnellen Aussprache konnten ihn aber selbst die Hörer in der ersten Reihe nicht verstehen. Ab und zu schrieb er wohl etwas an die Tafel, was aber genau so schwer zu entziffern wie seine Sprache zu verstehen war. Nacheinander legten wir unsere Federn nieder und saßen gelangweilt da, bis die quälende Doppelstunde vorüber war und das magere Gesicht wieder verschwand. »Ein Narr ist dieser Mensch«, murmelten einige. Die fleißigsten Studenten gingen zum Pult und holten sich aus der Kiste irgendein Knochenstück, betrachteten die Höcker und Gruben aus der Nähe und verglichen sie mit den Bildern in ihren Büchern.

»Sollten wir das nicht auch tun?« fragte mich mein Nachbar, mit dem ich seit einigen Tagen oft zusammensaß.

»Wenn Sie es wollen«, sagte ich und holte ein sauberes Schläfenbein und legte es vor ihn hin. 154

Er betrachtete es lange, ohne es zu berühren. »Das ist also ein Menschenknochen!« sagte er.

Lange Zeit starrte er den Knochen an, nahm ihn dann langsam in die Hand, wog ihn und legte ihn wieder vor sich hin. »Seltsam!« murmelte er. »Das ist also menschliche Substanz!« Dann besahen wir uns doch alle Öffnungen, Kanten und Höckerchen und korrigierten unsere Hefte, soweit wir etwas eingetragen hatten.

Mein Nachbar war ein ruhiger und sympathischer Kollege aus Nordkorea. Sein Name war Igwon.

 

Durch das gegenseitige Ergänzen und Korrigieren der Kolleghefte und durch die gemeinsamen praktischen Übungen gruppierten sich die Studenten von selber zu je einem Paar, das mit der Zeit auch ein Freundespaar wurde. Ein solches Studentenpaar bezog dann eine gemeinsame Pension, um auch abends miteinander arbeiten zu können.

Igwon und ich teilten ein großes und helles Zimmer in einer gut geführten Pension. Wir lasen und diskutierten jeden Abend miteinander, einmal über Physik, einmal über Chemie, dann über Anatomie und sehr oft auch über die deutsche Grammatik, die wir in wöchentlich vier Stunden hörten. Die deutsche Sprache war für jeden Mediziner Pflichtfach, weil der größte Teil der medizinischen Literatur in deutscher Sprache geschrieben war. Wir konjugierten 155 und deklinierten oft noch, wenn wir uns schon schlafen gelegt hatten.

Jeden Morgen gingen wir gemeinsam ins Institut und kamen abends gemeinsam nach Hause zurück, um wieder bis Mitternacht miteinander zu arbeiten. Wir gingen miteinander einkaufen, gemeinsam baden, gemeinsam ins Theater. Sonntags besuchten wir die Sehenswürdigkeiten Seouls, den Nordpalast, den Park auf dem Südberg, den Tiergarten und fuhren auch zum Han-Strom. Igwon hatte bereits ein Jahr in Seoul studiert, so daß er überall gut Bescheid wußte.

Unser Institut war eine der höchsten Lehranstalten in Korea. Jeder berühmte Mann, der Korea durchreiste, besuchte uns, und bei jedem Prinzen und bei jedem großen Staatsmann, der nach Seoul kam, mußten wir zum Empfang an den Bahnhof marschieren. Trotzdem hatte die Anstalt etwas Schulmäßiges, ja fast Militärisches, wie alle Anstalten, die dem japanischen Generalgouvernement unterstellt waren. Wir konnten die Vorlesungen und Übungen nicht frei wählen; keiner durfte ohne dringende Ursache auch nur eine Stunde von den Vorlesungen versäumen, die bis in die heißesten Julitage gehalten wurden.

So waren wir sehr froh, als endlich der letzte Tag des Semesters kam und wir unsere Uniform für längere Zeit ablegen und in einen Korb einpacken konnten. Wir besprachen, was wir beide in den 156 Ferientagen durchnehmen wollten, um im Herbst weiter zusammen arbeiten zu können. Igwon fand, daß ich in der Optik am wenigsten fortgeschritten war. So packte ich das dicke Physikbuch mit ein. Igwon saß auf dem Schreibtisch und sah mir zu. Er wollte die Ferien nicht in seiner Heimat zubringen, sondern in Seoul, weil er keine Eltern mehr hatte. Er war sehr früh verwaist und als Pflegekind in einer christlichen Familie aufgewachsen, der er aber nicht mehr willkommen war, seitdem er sich entschlossen hatte, nicht in einer Missionsanstalt, sondern in einer staatlichen Schule zu lernen.

Wir beschlossen, den letzten Abend mit einer Wanderung durch die Stadt zu verbringen, was wir bisher selten getan hatten. Wir gingen die lange, bemooste Mauer des Ostpalastes entlang, den alten, stillen Weg, der bald hügelauf, bald hügelab führte. Es war hier immer ruhig, obwohl hinter dieser Palastmauer der Rest der ehemaligen Königsfamilie eingeschlossen war, der mit Dienern und Zofen noch mehrere hundert Personen ausmachen sollte. Jedesmal, wenn ich vorüberging, wurden meine Schritte zögernder und sachter. Ich hoffte, vielleicht die Stimmen der hohen Familie zu hören. Aber vergebens. Kein Ruf, kein Gespräch, kein Schritt drang heraus. Die Nachkommen der stolzen, fünfhundertjährigen Dynastie waren sehr still geworden.

Wir gingen die ganze Palastmauer entlang und wanderten durch die Hauptstraße nach Süden. 157 Taghell waren die Straßen und Schaufenster mit ihren japanischen und europäischen Luxuswaren erleuchtet. Überall spielte man europäische Musik, man hörte Violine und Klavier, Ziehharmonika und Grammophon. Im Park des Eisenbahnhotels ertönten europäische Märsche und Tänze. Wir gingen bis zum Buchviertel, um einige Unterhaltungsbücher für meine Freunde in der Heimat zu kaufen.

Auf dem Heimweg besuchten wir noch den sogenannten Nachtmarkt, der an einer breiten Seitenstraße im Osten der Stadt abgehalten wurde. An den zahllosen Ständen verkaufte man alte und billige Dinge, vergilbte Bücher, Schreibpapiere mit blauen und roten Linien, Bilder, Fächer, Pfeifen, Tabakkästchen, Hüte, seidene Frauenschuhe, alles uralt und staubig und für ein paar Münzen zu haben. Alte Männer in der abgetragenen, aber ehrwürdigen seidenen Tracht versuchten Vorübergehende zum Kauf anzulocken. Sie waren wohl früher Statthalter irgendeiner Provinz oder eines Bezirkes gewesen. Verarmt und machtlos versuchten sie hier jeden Abend einige Kupfermünzen zu verdienen, um den Hunger ihrer Kinder zu stillen. Man bot an, man feilschte und stritt.

In einem der letzten Stände waren zahllose Flöten aus dünnem Bambus aufgestapelt, die stückweise für zwei Nickelmünzen verkauft wurden. Igwon blieb hier stehen und sah sich die Flöten an. Ich riet ihm ab, eine zu kaufen, weil sie rohe 158 Handarbeit waren und die Löcher keine reinen Töne hergaben. Er blieb aber bei seinem Wunsch. Ihm würde das nicht viel ausmachen, meinte er, weil er bisher noch kein Musikinstrument in der Hand gehabt hätte. Er wolle nur einmal, wenn es ihm zu einsam würde, einige Volkslieder probieren. Ich suchte nun unter den vielen Flöten einige heraus, die äußerlich sauber aussahen, probierte einige Lieder darauf und riet ihm, eines dieser Instrumente zu nehmen. Während Igwon eines kaufte, kam ein junger, fremder Mann zu mir und bat mich, auch für ihn eine brauchbare Flöte auszusuchen. Ich erfüllte seinen Wunsch. Es war aber nicht nur dieser junge Mann allein, der sich eine Flöte ausprobieren lassen wollte. Ein älterer Mann und zwei Frauen schlossen sich ihm an und bald standen um uns zahllose Menschen, um mir zuzuhören. Es wurde mir ungemütlich. Ich wollte mich aus der Menge herausdrängen. Da kam der alte Verkäufer und zeigte mir eine ganz andere Flöte, eine wahrhafte Künstlerflöte aus hartem »Kernbambus«, die mit schlichten, zarten Verzierungen versehen war. Er selbst hatte auch eine solche in der Hand und sagte in kurzem, befehlendem Ton, daß ich Tariong mit ihm spielen solle, ein beliebtes klassisches Stück, das jeder, der durch die alte Musikschule gegangen war, können mußte. Der Flöte und dem Ton seiner Sprache nach war der alte Mann wohl ein ehemaliger Musiklehrer oder ein Musiker am 159 Königlichen Hof gewesen. Er hatte jetzt nichts mehr zu tun, weil man überall nur die europäische Musik nachahmte. Er schien sich zu freuen, daß endlich ein junger Mensch da war, der das alte Instrument richtig in die Hand nahm, und mit dem er wieder einmal ein klassisches Stück spielen konnte. Ich zögerte aber, zu spielen. Wir waren auf dem Nachtmarkt mitten in einer Menschenmenge! Igwon, der die ganze Zeit schweigend, aber in seltsamer Erregung all den Liedern zugehört hatte, flüsterte mir zu, daß ich es ruhig tun solle, weil ich ja keine Uniform anhätte und weil es dem alten Herrn große Freude machen würde. Ich setzte langsam die Flöte an den Mund, und der alte Herr in seidener Tracht fing an zu spielen. Totenstill wurde es um uns. Keiner rührte sich, während der Künstler auf und ab schritt und immer erregter ein klassisches Stück nach dem anderen in die Nacht hineinspielte. Im Süden, in dem neuen Japanviertel, leuchteten noch unzählige Lichter, im Norden schlief das alte Korea im Dunkel. Über dem Dreihörner-Berg spannte sich der samtschwarze Nachthimmel und das alte Tsangdok-Schloß schwieg in die Vergangenheit. 160

 


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