Mirok Li
Der Yalu fliesst
Mirok Li

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Am Südtor

Fast alle Schulkinder waren älter und deshalb auch im Lernen fortgeschrittener als wir beide. Einige lasen sogar schon Gedichte der größten Dichter der Tangdynastie und übten sich im Reimen, weshalb sie von den anderen beneidet wurden. Da war immer von Blumen, Regen, Mondschein oder Weinbechern die Rede. Die meisten andern lasen aber in dem großen Geschichtswerk, das »Tongam« hieß und fünfzehn Bände umfaßte. Da ging es sehr spannend zu. Staaten kämpften gegeneinander, Dynastien wurden gestürzt und andere kamen an ihre Stelle. Wir beide, Suam und ich, und einige andere kleinere Kinder lasen noch in dem bescheidenen Knabenbuch, in dem die sogenannten fünf Moralgesetze und eine kurz zusammengefaßte koreanische Geschichte gelehrt wurden. Wir waren froh, als auch wir endlich diese Fibel hinter uns hatten und den ersten Band des großen Geschichtswerkes in die Hand bekamen.

Jedes Kind machte eine feierliche und tiefe Verbeugung vor dem Lehrer, wenn er morgens im Schulzimmer erschien. Dann wurde man geprüft, ob man noch auswendig wußte, was man gestern gelernt hatte. Hatte man sichs gemerkt, dann bekam man eine neue Aufgabe, hatte man es aber 30 vergessen, so mußte man den gestrigen Stoff noch einmal lernen. Wenn alle Kinder geprüft waren, suchte jedes sich seinen Tuschreibstein heraus, rieb Tusche darauf, bekam von dem Lehrer eine neue Vorlage und übte sich im Schönschreiben. Dann kam eine kurze Pause und danach lasen wir im neuen Pensum, das wir für heute gelernt hatten. Da alle Kinder laut lasen und jedes Kind aus einem anderen Buch und an einer anderen Stelle, summte das ganze Schulzimmer wie ein Bienenschwarm.

Nachmittags hatten wir viel mehr Pausen als am Vormittag, und im Sommer wurden wir oft zum Baden geschickt. In den Schluchten unseres Suyangberges flossen ja so viele schöne Bäche, in denen wir uns tummeln, in denen wir schwimmen und Spiele treiben konnten. Schon der Weg zu einem solchen Bach war schön. Sobald wir unser Städtchen verlassen hatten, gingen wir einen schattigen Weg, der links und rechts mit zahlreichen Steindenkmälern umsäumt war, bis wir zu einer breiten und tiefen Gumpe kamen. Dort warfen wir unsere Kleider ab und sprangen kopfüber in die klare Flut. Wir blieben, bis die ärgste Hitze vorüber war und bis es sich abgekühlt hatte. Dann gingen wir auf dem schönen Weg wieder nach Hause. Im Geäst sangen die Zikaden um die Wette.

Nach dem Abendessen erlaubten uns die Mütter einen kurzen Spaziergang zum Südtor. Das taten wir sehr gerne. Herrlich war das zweistöckige 31 Turmgebäude in der Abendsonne anzusehen. Wir gingen durch die Gasse, die sich zwischen der Stadtmauer und unserer Häuserreihe hinzog, und stiegen die schier zahllosen Steinstufen zum freien Platz vor dem Torgebäude hinauf, auf dem sich bereits die Kinder der Nachbarschaft zu Spielen versammelt hatten. Die einen warfen ihre alten, abgenützten Kupfermünzen vor sich hin und versuchten, sie mit einem flachen Steinchen zu treffen, andere spielten Federball, und wieder andere hüpften eine bestimmte Strecke auf einem Bein solange hin und her, bis sie nicht mehr konnten. Sie schwätzten, prahlten, stritten und balgten sich. Alle aber wurden still, sobald auf den »Dreitoren« die Musik begann. Diese Tore standen weit entfernt von uns in der Mitte der Stadt vor dem Amtsgebäude des Statthalters, aber an den stillen Abenden drangen die himmlischen Töne wunderschön und klar bis zum Südtor und lullten uns langsam in die Dämmerung ein. Das war der Abendgruß des Statthalters. Der Tag war zu Ende gegangen, nun kam die Nacht herauf, und alle Bürger unserer Stadt durften sich sorglos zur Ruhe legen. In unserem Lande herrschte Frieden!

Ja, der Abendfrieden war gekommen. Aus allen Häusern stieg der Rauch und die grauen Dächer tauchten langsam im Dunst des Sommerabends unter. Nur die höchsten Gipfel der Berge leuchteten noch hell ins Blau des Himmels. Mir wurde dann oft traurig zumute, vielleicht deshalb, weil wieder ein 32 Tag vorüber war und wir nun von der unerforschlichen Nacht umfangen wurden.

Während wir noch versunken dasaßen, stieg ein großer Mann langsam die Steintreppe herauf, trat in die Turmhalle, schloß die Türe des Glockenhäuschens auf und holte den schweren Hammer heraus. Eine Weile stand er still da und horchte der Musik zu. Sobald ihre Töne verklungen waren, holte er mit dem Hammer aus und schlug auf die Riesenglocke; es dröhnte und brummte bis an die Berge hinan. Wir standen um den Wächter herum und zählten an den Fingern ab, wie oft er schlug. Wir bogen zuerst alle Finger der rechten Hand vom Daumen bis zum kleinen Finger und streckten sie in der umgekehrten Reihenfolge. Dann waren es zehn und wir bogen schnell den Daumen der linken Hand, um mit der rechten nochmals bis zehn zu zählen. An jedem Abend schlug er achtundzwanzigmal, weil der abendliche Glockenschlag der Erde gehörte, die von achtundzwanzig Schicksalsgöttern regiert wird.

Er legte den Hammer wieder in das Häuschen hinein, schloß es sorgfältig zu und kam dann zum freien Vorplatz heraus. Hier stand er vor der niedrigen Brüstung der Schießscharte und stopfte seine kurze Pfeife. Sein Gesicht war durch das anstrengende Schlagen rot geworden und er schwitzte. Unentwegt blickte er zu dem Gipfel des Ponghoaberges hinüber, auf dem jeden Abend ein Feuer angezündet wurde, zum Zeichen, daß bei uns Friede herrsche. 33 Das Feuer sollte dann vom nächsten Berg aufgenommen und zum übernächsten Berg weitergegeben werden, so daß es, auf den Gipfeln der nächtlichen Berge reitend, bis zu unserer Königsstadt kam. Wir wußten nicht, wo diese sagenhafte Stadt war. Sie mußte aber in der Richtung des Ponghoaberges liegen. Das Feuer auf dem Ponghoagipfel glomm langsam auf, und bald loderte es in der Dämmerung.

Dann war der Torwächter zufrieden und ging die Treppe wieder hinunter, nicht ohne uns ermahnt zu haben, sogleich nach Hause zu gehen, ehe die kleinen Abendteufelchen nach uns mit Steinen werfen würden. Die Kinder folgten ihm, setzten sich auf den breiten Randstein und rutschten hinunter. Wir taten dasselbe; der Stein war durch das viele Rutschen so glatt und sauber geworden, daß unser Hosenboden nicht schmutziger werden konnte, als er ohnehin schon war.

Wir gingen zum Torbogen und sahen, ob das Südtor auch wirklich gut geschlossen war und ob der Zuckerbäcker wieder seinen Stand aufgeschlagen hatte. Auf dem breiten Brett lagen die wohlschmeckenden Würfelchen, Stangen und Scheiben nach verschiedenen Größen und Gewürzsorten geordnet. Daneben stand ein Lämpchen und eine Schere lag da, mit der er die Scheiben durchschnitt. Manchmal pries er in melancholischen Melodien die verschiedenen Gewürze an, die er in die Süßigkeiten gemischt hatte, und schlug mit der kleinen Schere den Takt dazu. 34

Befriedigt gingen wir durch die dunkelnde Gasse wieder nach Hause. Wir hatten keine Furcht vor den Teufelchen. Aus manchen Haustüren drang schon schwacher Lichtschein nach außen und in uns summte unaufhörlich die süße Melodie der Abendmusik nach.

Während ich dann für ein Weilchen in den Hinterhof ging und den Spielen der Mädchen zusah, verschwand Suam hie und da heimlich und kehrte erst später zurück. Die Knaben unseres Stadtviertels versammelten sich in irgendeiner Gasse oder auf einem Platz und schlugen sich mit den Kindern eines anderen Stadtteils, die als Bewohner eines fremden Viertels als Feinde angesehen wurden. Sie kämpften meistens nur mit den Fäusten, aber nicht selten gebrauchten sie auch irgendwelche Gegenstände oder Steinchen. Je kühler die Abende wurden und je heller der Mond schien, um so häufiger wurden solche Kämpfe ausgefochten. In diesen Zeiten sah Suams Jacke oft schlimm aus. 35

 


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