Mirok Li
Der Yalu fliesst
Mirok Li

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Die neue Schule

Von dieser sogenannten neuen Schule hatte ich schon früher oft gehört und seit dem vorigen Herbst hatten auch meine Eltern ab und zu davon gesprochen. Diese merkwürdige Anstalt, die erst vor einigen Jahren gegründet worden war, sollte im Norden der Stadt, in der Nähe der Tuchmachergasse liegen und viele glänzende Glasfenster haben. Was in dieser Schule gelehrt wurde, schien höchst seltsam zu sein. Es hieß, die Kinder würden dort weder in den Klassikern noch im Schönschreiben, noch in der Dichtung unterrichtet, sondern in ganz neuartigen Wissenschaften, die man von einem neuen Erdteil eingeführt habe, den man »Westlich des Ozeans« oder »Europa« nannte. Wo dieser Erdteil wirklich lag und was seine Wissenschaften waren, wußte man nicht genau. Manche sagten, daß man in dieser Schule hohe Rechenkünste und schwierige Zaubereien lerne, manche sprachen sogar von Erd- und Himmelskunde. Alle fürchteten aber, daß die Kinder in dieser Anstalt verdorben würden, weil sie eben keine Klassiker lernten. Mein Vater, der viel mehr und viel Besseres von dieser Schule zu wissen schien, entschloß sich nach langer Beratung mit meiner Mutter und mit der ganzen Familie doch dazu, daß ich ein Jahr lang dort unterrichtet werden sollte. Ich hätte 72 für mein elftes Lebensjahr genug Klassiker gelesen. Tsungyong und Mängdsa, die ich vor einigen Monaten studiert hatte, würden mir vorläufig genügen und die nächstfolgenden Bücher wären doch zu schwer für mein Alter.

Es war mir nicht ganz geheuer zumute, als ich gefragt wurde, ob ich gerne in diese Schule gehen wolle. Ich wollte nicht verdorben werden, da ich der einzige Sohn meines Vaters war, und ich las doch so gerne in den Klassikern und in den klassischen Gedichten. Ich vertraute aber meinem Vater und sagte tapfer: »Ich versuche es, wenn Sie wollen.«

So folgte ich ihm an einem klaren, aber noch kalten Frühlingsmorgen aus dem Haus in die Stadt. Ich hatte einen meiner besten Anzüge an und trug mein Mittagessen in einem neuen Handnetz, das mir meine Mutter geschenkt hatte, mit mir. Wir gingen durch unsere Gasse zur Hauptstraße.

»Ist es wahr, Vater«, fragte ich ihn, »daß wir dort Himmelskunde lernen?«

»Man sagt es«, erwiderte er, »wenn jemals vom Himmel die Rede ist, dann höre aufmerksam zu. Das ist eine hohe Lehre.«

»Werde ich sie verstehen können?«

Er nickte mir zu. »Deine Seele soll immer rein sein!« ermahnte er mich ernsthaft.

Wir gingen über den Glockenweg, bogen in eine Seitenstraße ein und standen bald danach vor dem 73 Tor eines großen Hauses. Das also war die gefürchtete Schule, von der man so viel gesprochen hatte. Der Name stand als Inschrift über dem Tor. Ich blickte in den Hof hinein, der unendlich groß zu sein schien. »Komm herein!« sagte mein Vater, der vorangegangen war. »Fürchtest du dich etwa?« fragte er mich, als ich zögerte, ihm zu folgen. Er lächelte. Langsam trat ich über die Schwelle. Als ich dann innerhalb des Tores wieder stehen blieb und mir die vielen einzelnen Gebäude ansah, zog er mich an der Hand und führte mich zu einem Zimmer. Aus diesem kam ein alter Herr heraus, vor dem ich mich auf Geheiß meines Vaters verneigen mußte. »Dies ist der Leiter der Schule!« erklärte er mir lächelnd. »Sei ihm dankbar und folgsam!«

Während er noch mit dem Leiter der Schule redete, wurde ich in ein kleines, düsteres, sonnenloses Zimmer zu einem jungen Lehrer geführt, der Lehrer Song hieß. Ich verneigte mich auch vor ihm und er sagte, ich solle mich setzen. Ich fragte ihn, ob ich auf dem Stuhl sitzen dürfe, der vor seinem Sitz stand. Ich kannte noch keinen Stuhl, weil ich bisher nur auf Matten gesessen hatte, und er schien mir zu vornehm für mich. Lehrer Song erlaubte es mir und ich setzte mich vorsichtig darauf.

»Was hast du bisher gelernt?« fragte er mich.

Als ich noch einen Augenblick benommen dasaß, fragte er weiter: »Hast du zum Beispiel Tungsam gelesen?« 74

Ich bejahte es: »Ja, bis zum achten Band.«

»Und was hast du dann gelesen?«

Ich blieb wieder stumm. Es fiel mir im Augenblick nicht ein, was ich danach gelesen hatte. Ich war zu verwirrt.

»Schak?« fragte er.

Ich nickte.

»Auch Mängdsa?«

Ich nickte wieder.

»Hast du auch schon Tsungyong gelesen?«

»Auch das habe ich schon gelesen.«

»Das ist sehr viel!« Er holte ein Buch aus dem Schrank, schlug es auf und legte es vor mich hin. »Sieh dir das einmal an!«

Ich las.

»Kannst du das alles verstehen?«

Ein wenig zögernd bejahte ich es.

»Was könnte mit diesem Wort gemeint sein?« fragte er und deutete auf ein Wort hin, das »Amerika« hieß.

»Das ist vielleicht ein Land, das in der Nähe von England liegt«, sagte ich. Ich hatte die beiden Namen oft erwähnen hören, wenn man von Europa sprach.

Lehrer Song überlegte lange und bestimmte mich dann für die sogenannte zweite Klasse.

Mein Vater war gegangen, ohne mich noch einmal gesehen zu haben. Im Zimmer des Leiters der Schule war niemand mehr zu sehen. Mein Vater hatte mich meinem Schicksal überlassen. 75

Am ersten Tag lernte ich nichts vom Himmel. In der Naturkundestunde sprach man von einer Kugel, die von vier Pferden auseinandergezogen werden sollte. Dann sahen wir eine lange Glasröhre, in der man eine Kupfermünze und eine Feder von einem Ende zum andern fallen ließ. In einer anderen Stunde lernten wir rechnen. Zweimal mußten wir turnen. Gegen Abend bekam ich eine Röhre zu sehen; wenn ich sie vors Auge hielt und durchschaute, schillerten drinnen alle Dinge in bunten Farben.

Die Sonne sank. Meine Klassenkameraden strömten aus dem Schultor. Ich wurde aber noch einmal zu Lehrer Song gerufen. Dort bekam ich zwei Lehrbücher, einen Schulranzen, mehrere Bleistifte und eine Schiefertafel ausgehändigt. Der Lehrer sagte, daß sie von einem Kaufmann für mich in die Schule gebracht worden seien. Ich besah mir die Bücher. Das eine hieß: »Die Geschichte des Morgenlandes« und das andere »Gesetze der Natur«. Ich schlug die Bücher auf und blätterte darin. In dem Naturkundebuch waren Bilder zu sehen: eine Waage, Glasröhren, einige Schiffe mit Segeln und ein europäisches Dampfschiff. Die Kugel aber, von der man heute gesprochen hatte, war nicht darin.

Lehrer Song fragte mich, ob ich eine Uhr hätte.

»Nein«, sagte ich.

»Hat dein Vater eine?«

»Nein.« 76

»Das ist schade«, sagte er besorgt. »Kennst du die neue Zeiteinteilung?«

»Zwölf Stunden?«

»Das ist richtig, aber zweimal zwölf Stunden, vormittags und nachmittags je zwölf. Morgen mußt du um acht Uhr in der Schule sein. Heute hat die Sonne gerade die Mauer des südlichen Turnplatzes berührt, als es acht Uhr schlug. Komm auf alle Fälle gleich nach der Morgenspeise.«

Ich blätterte noch im Naturkundebuch. »Ich finde die Kugel nicht«, sagte ich nach einiger Zeit.

»Welche Kugel meinst du?«

»An der die vier Pferde ziehen.«

»Da mußt du Lehrer Ok fragen. Ich unterrichte nur in der Geschichte. Jetzt aber gehe nach Hause, es ist schon dämmerig und deine Eltern warten auf dich!«

 

Im Zimmer meines Vaters saßen viele Männer und Frauen aus unserem Hause, auch meine Mutter und meine zweite Schwester waren dabei. Sie alle sahen sich die Bücher, meinen Schulranzen und das Schreibzeug genau an, während ich den Rest von der Abendtafel meines Vaters aufaß.

Nachdem sie wieder in ihre Zimmer zurückgekehrt waren und wir, mein Vater und ich, uns schlafen gelegt hatten, fragte er mich, was ich Neues gelernt hätte. 77

»Mancherlei, Vater.«

»Hast du etwas über Europa gelernt?«

»Ja, aber es war etwas ganz Besonderes.«

»Nun, laß mich hören, wovon die Rede war«, sagte er ungeduldig.

»Ich kann das nicht richtig erklären. Ich habe sehr aufmerksam zugehört, aber eigentlich nicht recht verstanden, was der Lehrer sagte. Er erklärte, wie eine Kugel von vier Pferden auseinandergezogen werden sollte. Dann als es Abend wurde, sah ich eine Glasröhre. Jeder Stein auf dem Schulhof, die Kleider der Menschen, die Dachziegel, alles schillerte bunt, wenn ich das Glas vors Auge hielt. Ich verstehe nicht, warum das so ist. Können Sie es mir sagen?«

»Soll das aus Europa gekommen sein?« fragte er, nachdem er lange Zeit geschwiegen hatte.

»Ja, ich glaube schon.«

»Welcher Lehrer zeigte es dir?«

»Er scheint Ok zu heißen.«

»Und was sagte er dazu?«

»Ich glaube, das Licht soll so etwas wie gespalten werden.«

»Licht spalten? Licht spalten?« wiederholte er flüsternd.

Nach einer Weile hieß er mich, die Lampe wieder anzuzünden und die Bücher aus dem niederen Schrank, der in der einen Zimmerecke stand, herzuholen.

Diese Bücher hatte er aus der Königsstadt 78 bekommen. Sie enthielten viele europäische Weisheiten. Er blätterte sie alle durch, dann mußte ich sie wieder in den Schrank hineinlegen. »Du mußt in der Schule aufmerksamer sein«, sagte er enttäuscht. »Nun blase das Licht aus und lege dich schlafen.«

»Es war mir heute so sonderbar zumute«, sagte ich. »Die ganze Schule war mir sehr fremd. Lange Zeit hatte ich Angst, es würde mir dort nie gefallen, denn es ist da alles so ganz anders, als ich es gewohnt bin.«

Mein Vater schwieg lange. »Warst du traurig?« fragte er dann.

»So etwas Ähnliches war es. Ich habe immer wieder an die alte Schule und an unser Haus denken müssen.«

»Komm ein wenig in mein Bett«, sagte er und zog mich an der Hand zu sich hin. »Kannst du noch das Lied von Sotongpa auswendig?«

Ich dachte nach und bejahte es. Dieses Lied von dem segelnden Dichter hatte ich ihm im vorigen Jahr vorgelesen.

»Willst du es mir vortragen?«

Ich tat es ohne zu stocken.

»Kannst du das Lied vom ewigen Kummer vorsingen?«

Ich tat auch das. Es dauerte lange, bis die fünfzig Strophen vorüber waren. 79

»Ist dein Herz jetzt etwas beruhigt?« fragte er.

Ich bejahte es und kroch in mein Bett zurück.

»Wirst du morgen wieder in die Schule gehen?«

»Ja, wenn Sie es wollen.« 80

 


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