Mirok Li
Der Yalu fliesst
Mirok Li

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Trauerjahre

Ozini war still geworden. Sie sprach nicht mehr so oft und so viel wie früher. Der Tod meines Vaters schien sie so verändert zu haben. Schweigend ging sie im Innenhof ihren Arbeiten nach und betrat selten das Zimmer des Vaters, in dem sie zu dessen Lebzeiten trotz der Mahnung der Mutter, nicht so oft in die Nähe der Männer zu gehen, jeden Tag erschienen war. Nur wenn meine Mutter verreist war, was sie im Herbst oft tat, und Ozini die Stelle der Mutter vertreten mußte, kam sie in den späten Abendstunden in mein Zimmer, um nachzusehen, ob da alles in Ordnung war. Sie sah mir eine kurze Weile zu, wie ich zeichnete und schrieb, ohne nach dem Sinn der Zeichnung zu fragen oder die schlechte Schrift zu kritisieren. »Leg dich zeitig schlafen«, sagte sie dann mit sanfter Stimme, »die Mutter wünscht es so!«

Ich blieb oft bis über Mitternacht bei den Büchern. Das Studium war schwieriger und zeitraubender geworden als früher, weil wir sehr viel Japanisch lernten und die Lehrbücher in allen Fächern durch japanische ersetzt worden waren. In Geschichte mußten wir ganz umlernen; alle Ereignisse, die in der Zeit von Koreas Unabhängigkeit geschehen waren, mußten ausgemerzt werden, weil das 115 koreanische Volk nicht mehr als ein Volk mit einer eigenen Geschichte betrachtet wurde, sondern nur als eine außenstehende Volksgruppe, die seit jeher dem japanischen Reich hätte Tribut zahlen sollen.

Andere Fächer wie Geographie und Naturkunde waren auch schwierig zu studieren, weil viele Begriffe und Ausdrücke und die Anordnungen des Lehrstoffs andere geworden waren. Zugunsten der japanischen Sprache war der Unterricht in diesen Fächern sehr verkürzt worden. Es war keine Zeit mehr für sie da. Man erklärte nichts Näheres und las nur flüchtig einmal den Lehrstoff durch, so wie er im Buch stand. Alles andere wurde uns Schülern überlassen.

Von meinen Schulfreunden kam jetzt Kisop oft zu mir, um mit mir ein wenig zu plaudern und mir beim Studium zu helfen. Er war oft kränklich und fehlte manchmal mehrere Wochen in der Schule. Doch gehörte er immer noch zu den besten Schülern unserer Klasse und war immer bereit, mir in Mathematik zu helfen. Er setzte sich neben mich und sah zu, wie ich die Aufgaben löste. Machte ich einen Fehler, lächelte er still und korrigierte ihn, ohne etwas dazu zu sagen.

Yongma kam jeden Abend, aber immer nur für kurze Zeit, und fragte dann jedesmal, ob ich etwas in der Schule nicht verstanden hätte. Er konnte mir am besten helfen, weil er doch der klügste und erfahrenste von uns allen war und Japanisch am 116 besten beherrschte. Er beantwortete alle Fragen genau und klar und ging dann gleich wieder fort, weil er noch anderen Freunden helfen mußte und auch für sich etwas zu arbeiten hatte.

Mansu, der seit einem Jahr in der Klasse in meiner Reihe saß und sich mit mir angefreundet hatte, gesellte sich auch gerne zu uns. Er plauderte viel und erzählte mir oft von seinen Spaziergängen, von alten, merkwürdigen Bäumen, schönen Badeplätzen in den Gebirgsbächen, von Tempelchen und Pagoden, die er in der Umgebung unserer Stadt neu entdeckt hatte. Er lernte leicht und begriff manche Dinge in der Naturkunde viel schneller als ich, so daß er mir oft behilflich sein konnte.

Trotz der Hilfe all meiner Freunde mußte ich viel mehr arbeiten als die anderen, um mitkommen zu können. Ich wußte nicht, ob das nur daher kam, daß ich vorher zu lange in die alte Schule gegangen und in den neuen Wissenschaften noch nicht zu denken gewohnt war. Manches konnte ich überhaupt nicht verstehen, und Begriffe wie Atom, Ion oder Energie nur sehr unklar. Jetzt kam auch noch die Algebra dazu, die mir viel Schwierigkeiten machte. Ich verstand nicht, was die Gleichungen bedeuten sollten und was der Sinn der ganzen Algebra war. Mansu und Kisop konnten mir auch keine Erklärung darüber geben und selbst Yongma wußte nichts anderes darüber zu sagen, als daß solche Gleichungen später beim Studium der 117 höheren Physik angewandt werden sollten. Ich grübelte und grübelte für mich allein, oft die halbe Nacht.

Wenn ich so in den späten Stunden noch bei meinen Büchern saß und gegen die Schläfrigkeit kämpfte, erschien meine Mutter bei mir, nahm mir das Schreibzeug sacht aus der Hand, legte die Bücher und Hefte zusammen und hieß mich schlafen gehen. Glaubte ich aber, noch weiter arbeiten zu müssen, sagte sie nur kurz: »Das ist nicht nötig, folge mir.«

Es war in einer solchen Nacht, als sie noch eine Weile bei mir sitzen blieb, nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte. »Was macht dir so viel Schwierigkeiten beim Studium?« fragte sie mich.

»Alles«, murmelte ich, »Mathematik, Physik, Chemie, alles ist mir noch unklar.«

»Sei nicht traurig«, sagte sie, nachdem sie lange geschwiegen hatte, »wenn du für diese Schule nicht genügend begabt bist. Diese neue Kultur, die uns allen so fremd ist, liegt dir eben nicht. Denk' an die früheren Jahre! Wie leicht lerntest du die alten Klassiker und die Dichtung. Eine Leuchte warst du! Komm, verlaß die neue Schule, die dich quält, und geh in diesem Herbst auf das Gutsdorf Songnim, um dich zu erholen. Es ist das kleinste, aber mir das liebste Gut. Edelkastanien und Persimonen wachsen dort. Ruhe dich da gut aus. Lerne unsere Bauernfamilien und ihre Arbeiten kennen. In dem stillen Dorf wirst du gut gedeihen, besser als hier in der 118 unruhigen Stadt. Du bist eben ein Kind der alten Zeit!«

Das machte mich traurig. Ich hatte immer gefürchtet, zu wenig Begabung für die neuen Wissenschaften zu haben, zu denen mich mein Vater geführt hatte und die allein uns der höheren Kultur nahe bringen würden. Daß ich nun nach vier Jahren fleißigen Arbeitens als unbegabt zurücktreten mußte, machte mich sehr traurig.

»Wirst du es tun?« fragte mich die Mutter, als ich schweigend dalag.

»Natürlich, Mutter, ich werde tun, was Sie wünschen«, sagte ich mutlos.

»Mein liebes Kind«, sagte sie und ging aus dem Zimmer. 119

 


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