Mirok Li
Der Yalu fliesst
Mirok Li

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Die erste Strafe

Suam saß in der kleinen Kammer neben dem großen Herrenzimmer und war fleißig an der Arbeit. Er spaltete eine lange Bambusröhre zu feinen Stäbchen und säuberte sie mit einem scharfen Messer, bis sie glatt wurden; dann schnitt er in einen großen Bogen Papier, den er zum Schönschreiben bekam, ein rundes Loch und malte darunter mit Tusche einen Schmetterling. Das Papier wurde mit den feinen Bambusstäbchen gespannt, geleimt und getrocknet. Das war nun ein Papierdrachen. Wir hatten bei anderen Kindern, die auf der Stadtmauer vor unserem Hause spielten, oft solche Drachen gesehen und hatten uns seit langer Zeit einen solchen gewünscht. Der Wunsch war aber nicht in Erfüllung gegangen, weil uns dieses Spiel wie viele andere von den Eltern nicht erlaubt wurde. Suam hatte sich das Spielzeug bei anderen Kindern genau angesehen, und jetzt machte er selbst seinen Drachen. Ich bewunderte meinen tüchtigen Vetter und half ihm beim Spannen und Trocknen, in der Hoffnung, den Drachen bald steigen lassen zu können.

Als wir am nächsten Tag im Hinterhof heimlich den ersten Versuch machten, stieg er nicht, sondern fiel immer wieder zu Boden und blieb liegen. 22 Ich lief unzählige Male zu ihm hin und warf ihn in die Höhe, während Suam mit aller Schnelligkeit in der entgegengesetzten Richtung mit dem Ende der Schnur wegrannte. Der Drachen aber blieb am Boden liegen. Enttäuscht machte Suam einen neuen aus etwas dünneren Stäbchen und dünnerem Papier, aber auch dieser wollte nicht steigen. So machte er einen nach dem anderen. Papier hatte er ja genug, denn er bekam jeden Tag drei neue Bogen, von denen er nur zwei beschrieb und den dritten zum Drachenbauen verwendete. Außerdem waren in der Kammer mehrere Ballen wunderschönen Papiers, von dem er auch oft welches nahm. Dorthin kam abends kein Mensch mehr, sodaß er ungestört arbeiten konnte. Ich kehrte ermüdet und etwas entmutigt in mein Zimmer zurück.

 

Im Bett liegend betrachtete ich gerne die Bilder des Wandschirms. Er hatte acht Flügel. Berge, Felsen und Blumen, Bäche und Brücken oder der Meeresstrand mit darüber hinwegziehenden Wildgänsen waren darauf und alles leuchtete wunderschön im Kerzenlicht. Am liebsten sah ich aber das Bild eines Hirtenknaben, der, auf einer Kuh reitend, Querflöte blies. Er ritt an einer hohen Trauerweide vorbei und schien zu dem Häuschen zurückzukehren, das in der Ferne hinter einem Hügel, kaum sichtbar, verborgen lag. Ich freute mich an dem besonnten 23 Weg und an der ruhig schreitenden Kuh und glaubte die Töne der Flöte zu hören und fühlte einen unendlichen Frieden.

Wenn ich so allein da lag, kam oft meine dritte und jüngste Schwester zu mir. Sie war nur um zwei Jahre älter als ich und hieß Setje. Sie war ein eigenartiges Mädchen. Ungern ging sie zu den andern Schwestern und Basen, die sich jetzt zu der abendlichen Stunde im Hinterhof versammelten und sich mit verschiedenen Mädchenspielen vergnügten. Statt dessen kam sie zu mir und erzählte mir ihre Märchen. Sie kannte zahllose Sagen und Märchen von den Sternen, von Sonne und Mond, von Schwalben, Hasen und Tigern, von armen Bauern und Holzfällern.

In einer ihrer Erzählungen ging ein armer Holzfäller ins Gebirge, um Holz zu holen. Da rollte eine Haselnuß den Bergabhang herunter. »Die ist für meine Mutter!« sagte er und steckte sie in seine Tasche. Es kamen aber immer wieder neue Nüsse heruntergerollt. Er dachte immer nur an seine Mutter und steckte sie alle in die Tasche. Als er aber nach Hause kam, fand er, daß alle Nüsse in der Tasche sich in Gold verwandelt hatten.

In einem anderen Märchen fischte ein armer Fischer an einem großen Strom. Er fing den ganzen Tag keinen einzigen Fisch und war in Sorge, weil er nichts nach Hause bringen konnte. Erst abends fing er einen Karpfen, dessen Schuppen wie Silber 24 glänzten. Als er aber den Fisch in den Korb legen wollte, sah er, daß der Karpfen bitterlich weinte. Da wurde es dem Fischer traurig zumute, und er ließ ihn wieder schwimmen. Am nächsten Morgen wurde er vom König des südlichen Meeres geholt und mit einem »Schatzwasserkrug« belohnt, weil der Karpfen, dem er gestern das Leben geschenkt hatte, des Meerkönigs einziger Sohn war. Und aus dem Schatzwasserkrug kam alles heraus, was der Fischer sich nur wünschte.

Wie alle meine Schwestern ging auch Setje nicht in unsere Schule, in der meistens nur Knaben unterrichtet wurden. Die Töchter sollten nur von ihren Müttern und von älteren Frauen in den Künsten der Frauen gelehrt werden. Setje war aber noch zu jung dazu. Sie lernte weder nähen noch sticken noch kochen, sie verbrachte die Tage nur mit Spielen und Plaudereien. Manchmal sah ich sie im Garten sitzen und einen ihrer kleinen Finger mit zerquetschten Balsaminenblättern umwickeln. Dadurch sollte der Fingernagel rot werden, was sie für schön hielt. Manchmal sah ich sie in einer Zimmerecke liegen und in einem dicken Buch lesen. Sie las gerne Erzählungen und Romane.

Die Bücher, die sie las, waren nicht in der schweren chinesischen, sondern in der leichten koreanischen Schrift geschrieben, die nur aus etwa zwanzig Buchstaben bestand. Da hießen die einzelnen Zeichen nicht »Himmel« oder »Erde«, »Sonne« 25 oder »Mond«, sondern »A« oder »O«, »E« oder »K« oder »N«, wie mir Setje nacheinander erklärte. Setje hatte sie schon sehr früh bei ihrer Ziehmutter gelernt, und seitdem konnte sie alle Erzählungen lesen. Man nannte diese einfache Schrift, die unsere eigene war, die »Volksschrift« und verwandte sie nur für leichte Geschichten, Erzählungen und Romane, damit auch Frauen, die meistens keine Schule besuchten, etwas zu lesen hätten.

Setje unterrichtete mich gerne. Sie brachte mir das Zählen, die Feiertage und Geburtstage und sonstige wichtige Dinge bei. Wenn sie kein Märchen erzählte und schweigend neben mir lag, die Arme unter dem Kopf verschränkt, wußte ich, daß sie mich bald ausfragen wollte. »Wie heißen die Himmelsrichtungen?« fragte sie mich.

»Osten, Westen, Süden und Norden«, sagte ich.

»Wie heißen die Farben?«

»Blau, Gelb, Rot, Weiß und Schwarz.«

»Wie folgen die Jahreszeiten aufeinander?«

»Frühling, Sommer, Herbst und Winter.«

»Welche Schönheiten bringt der Frühling?« fragte sie weiter. Sie hatte mich viele Sprüche über die Schönheit der Jahreszeiten gelehrt, die ich hersagen sollte.

»Auf den Bergen blühen Blumen, und der Kuckuck ruft aus jeder Schlucht.«

»Ja, so ist es. Was macht nun den Sommer schön?« 26

»Sprühregen rieselt auf den Äckern, und an den Mauern grünen die Weiden.«

»Was ist im Herbst schön?«

»Kühler Wind säuselt auf den Feldern, welkes Laub fällt von den Bäumen und der Mond bescheint den einsamen Hof.«

»So ist es gut. Und was bringt der Winter?«

»Hügel und Berge hüllen sich in Weiß; keinem Wanderer begegnet man auf dem Pfad.«

»Du bist sehr klug!« lobte sie mich.

 

Eines Abends ging ich doch wieder in die Geheimkammer, um zu sehen, was Suam tat. Er hatte es inzwischen mit zahllosen kleineren Drachen versucht; jetzt wollte er einen ganz großen machen. Er ließ mich mit schwarzer Farbe zwei große Schmetterlinge unter das runde Loch malen, während er selber Bambusstäbe schnitzte. Der Leim kochte und das Bügeleisen steckte in der Glut des Feuerbeckens. Wir klebten ein Stäbchen nach dem andern aufs Papier, als plötzlich die Kammertüre aufging und mein Vater vor uns stand. Wir fuhren zusammen und wußten nicht, was wir tun sollten. Suam konnte in der Eile den Drachen nicht mehr verbergen. Der Vater hatte ihn schon erblickt. Er sah uns, den Drachen und die aufgebrochenen Papierballen eine Weile fassungslos an und rief dann zornig: »Kommt heraus!« Wir schlichen heraus, der schöne 27 Drachen blieb in der Kammer zurück. »Er hat mir nur zugeschaut!« stotterte Suam, um mich vor Strafe zu schützen.

Sie folgte am nächsten Morgen. Das Drachenbauen allein wäre vielleicht nicht so schlimm gewesen, aber der Mißbrauch des Papiers, das wir zum Schönschreiben verwenden sollten, und das Aufbrechen der wertvollen Ballen galt als die schlimmere Übeltat. Dies wurde dem Lehrer mitgeteilt und er strafte uns. Wir mußten unsere Hosen hinaufziehen und bekamen Stockhiebe auf die Waden. Der Lehrer hatte stets einige Stöcke von Fingerdicke in seiner Nähe, aber er hatte sie bisher noch nie gebraucht. Nun sollte an uns beiden als den Ersten der ganzen friedlichen Schule ein Exempel statuiert werden. Alle Kinder rückten ringsum an die Wand, um zuzusehen, während wir beiden Sträflinge in der Mitte des Zimmers saßen. Es war sehr feierlich, schmerzlich feierlich! Der Lehrer setzte seinen Gelehrtenhut auf, erklärte unsere Missetat noch einmal genau, nahm einen Stock in die Hand und prüfte, ob er zäh genug war. Oh, wie furchtbar! Dann befahl er Suam, die Waden frei zu machen. Suam guckte mißbilligend die Stöcke an und blieb unbeweglich sitzen. »Willst du nicht freiwillig hierherkommen?« rief ihn der Lehrer an. Suam seufzte, stellte sich vor ihn hin und zog seine Hosen hoch. Drei Hiebe folgten schnell aufeinander und Suam heulte los. Dann 28 erklärte er, daß ich ganz und gar unschuldig wäre und daß ich nur dabei zugesehen hätte, wie er die Drachen machte. Trotzdem bekam auch ich drei Hiebe, die mir sehr weh taten. Aber der Schmerz war nicht das Schlimmste, ich konnte ihn aushalten; peinlicher war die Schande, vor den Augen aller Kinder, die uns beide so mitleidsvoll ansahen, geschlagen zu werden. 29

 


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