Mirok Li
Der Yalu fliesst
Mirok Li

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Mein Vater

Einige Monate danach wurde mein Vater krank. Er war verreist gewesen, aber schon nach einigen Tagen war er wieder zurückgekehrt, und das ganze Haus geriet in große Aufregung. Woran er litt, wußte ich nicht. Ich sah nur, daß er bewegungslos in seinem Zimmer lag. Er hielt die Augen geschlossen und sprach kein Wort. Um ihn saßen meine Mutter, meine Großmutter und die Tante. Es kamen Ärzte und wieder Ärzte ins Haus, ohne ihn retten zu können. Die ganze Nacht und den ganzen nächsten Vormittag blieb er so liegen. Er schlief aber nicht, denn er verstand, wenn die Mutter ihn bat, die Medizin einzunehmen. Als es Nachmittag wurde, gab man die Hoffnung auf seine Rettung auf. Meine Mutter fiel in Ohnmacht und wurde in ihr Zimmer getragen. Es wurde totenstill im ganzen Haus. Alle Frauen waren im Zimmer des Vaters versammelt und alle Männer auf der Veranda davor. Kein Mensch sprach ein Wort. Nur die Tante, Suams Mutter, versuchte immer wieder, ihm Medizin einzuflößen, die er aber nicht mehr schlucken konnte.

Meine Mutter lag in ihrem Zimmer. Sie war wieder zu sich gekommen, sprach aber nichts und hielt nur meine Hand fest in der ihrigen. Als die Großmutter ins Zimmer kam, sagte sie zu ihr:«Es 55 ist aus mit uns allen, Mutter!« Die Großmutter hörte sie nicht. Sie saß da und sprach vor sich hin. Da kam die zweite Schwester Ozini zu uns und sagte, daß der neue Arzt, nach welchem wir schon am Morgen einen Boten ausgeschickt hatten, soeben angekommen wäre. Suam und ich eilten sofort in das Zimmer des Vaters.

Dieser neue Arzt war ein vielgesuchter Mann von großem Ruf. Er weilte seit einigen Wochen in unserer Stadt, um seine dortigen Patienten zu besuchen, doch war er gerade im Begriff gewesen, wieder in seine Heimat zu reisen. Wir verdankten es nur der großen Hartnäckigkeit unseres Boten, daß er doch noch zu uns gekommen war. Der Arzt betrachtete den Kranken nur kurz und sprach dann mit der Tante. »Er ist verloren,« sagte er, »ich will hier lieber nicht eingreifen«.

»Bitte, machen Sie einen letzten Versuch!« flüsterte meine Tante, die noch blasser als der Kranke selbst war. Sie hielt den fremden Mann am Ärmel und verhinderte ihn, aus dem Zimmer zu gehen. »Alles sollen Sie haben, was Sie sich nur wünschen.«

Er setzte sich und untersuchte Puls und Herz, dann den ganzen Körper des Kranken. »Gut, ich will meine Pflicht tun; machen Sie mir aber keinen Vorwurf, wenn der Versuch nicht gelingt.«

Er holte aus seiner Tasche ein Etui und daraus eine lange Nadel, mit welcher er zuerst der Oberlippe, dann der Unterlippe des Patienten einen 56 leichten Stich versetzte. Darauf fuhr er mit der ganzen Nadel direkt unter dem Rippenbogen tief in die Magengegend hinein, ließ sie einen Augenblick dort stecken und zog sie langsam wieder heraus. »Wenn der Patient leben soll, wird er bis heute abend ein Zeichen von sich geben«, sagte er und verließ das Zimmer.

Der Abend kam, die ganze Familie schöpfte wieder Hoffnung, denn es schien schon ein gutes Zeichen, daß es dem Vater nicht schlechter ging. Er lag ruhig da wie am Vormittag. Als es dämmerte, bewegte er die Hände, so daß sie sich berührten. Gespannt verfolgten wir alle seine Bewegungen. Die Tante streichelte sanft seine Hände und Arme. Da gingen seine beiden Augen auf; er blickte umher. Ein Aufatmen ging durch das Zimmer. Er schloß die Augen wieder und drehte sich auf die linke Seite, so daß wir sein Gesicht nicht mehr sehen konnten. Darauf schlief er ein und atmete wie ein Gesunder. »Er lebt!« sagte meine Tante und brach in fassungsloses Weinen aus; sie hatte keine Kraft mehr, sich zu erheben; man half ihr aufzustehen und in ihr Zimmer zu gehen.

Meine Mutter, die inzwischen benachrichtigt worden war, kam ins Zimmer des Vaters und schien es nicht glauben zu können, daß eine Wendung zum Besseren eingetreten sei. Sie zitterte noch immer am ganzen Körper und sah selbst wie eine Leiche aus. Allmählich wurde sie ruhiger und 57 schickte uns alle aus dem Zimmer mit Anweisungen für die Küche und für den Gang zum Arzt. Suam und ich mußten zu Bett gehen, und wir schliefen auch gleich ein. Als ich nach Mitternacht aufwachte und ins Krankenzimmer lief, sah ich den Vater sitzen und mit der Mutter sprechen. Ich sprang auf ihn zu und er behielt mich auf seinem Schoß, bis die Mutter mich zu sich zog. Immer wieder mußte ich ihn anschauen, um ganz sicher zu sein, daß er wirklich lebte. Ich legte mich neben seinem Bett nieder und schlief wieder ein, während die Eltern leise miteinander über den Arzt redeten, der dieses Wunder vollbracht hatte.

Ja, dieser Arzt! Er war wirklich ein Wunderarzt. Später hörte ich, daß er vielen Menschen unserer Stadt und im ganzen Land das Leben neu geschenkt habe. Als er wieder in seiner Heimat war, soll er sogar einen Menschen, den man soeben zu Grabe trug, wieder ins Leben zurückgerufen haben. Leider verlangte er so viel Geld, daß die Armen ihn nicht zu sich rufen konnten. Dieses Unrecht kostete ihm selbst sein Leben. Als er von einem Besuch bei einem reichen Patienten nach Hause ging, traf ihn ein zentnerschwerer Stein. Man fand ihn zerschmettert unterhalb der Stadtmauer liegen. Niemand wußte, wer der Täter gewesen war. Man sagte, daß sich sein schwerer Geldsack in diesen Stein verwandelt habe. 58

Nur langsam erholte sich mein Vater. Den ganzen Herbst und Winter hindurch wurde er aufs sorgsamste gepflegt. Alle Arbeit, die er trotz seines Gichtleidens bis dahin geleistet hatte, mußte er ruhen lassen. Er zog einen scharfen Strich zwischen Heim und Außenwelt. Alle gesellschaftlichen Verpflichtungen wurden abgebrochen und nur seine wichtigsten Freunde kamen noch zu uns. Zuerst erfüllte er diese Forderungen des Arztes und die Bitten der Familie nur ungern, allmählich aber fühlte er selbst, daß er sich mehr Ruhe gönnen mußte. Mehr und mehr zog er sich von der Umwelt zurück. Zum Schluß griff er auch in den Haushalt ein: die Privatschule wurde aufgelöst; die Kinder gingen auf Nimmerwiedersehen nach Hause. Im Außenhof wurde es wieder still; nur der junge Schreiber Sunpil, der alte Knecht Pang und der Ernteverwalter Sunok hatten dort noch ihre Wohnungen.

Dann folgte ein großer Familienrat. Was sollte aus Suam werden? Man entschied sich dafür, daß er noch weiter zur Schule gehen müßte, um Chinesisch zu lernen. Er sollte mit seiner Mutter aufs Land ziehen, und zwar in das Dorf, in dessen Schule ein guter klassischer Unterricht erteilt wurde. Seine Mutter sollte dort die Bewirtschaftung eines Gutes, das meinem Vater gehörte und bisher von ihm selbst verwaltet worden war, übernehmen. So kam für uns beide der erste große Abschied, nachdem 59 wir die ganze Kindheit miteinander verbracht hatten. Ich begleitete Suam bis zum Drachenweiher, einer Bucht, die von unserer Stadt über eine Stunde entfernt war. Von hier aus wurde er mit einem Boot über die tiefe felsige Meerenge auf das andere Ufer übergesetzt. Zwischen seiner Mutter und seiner zweiten Schwester Dultje sitzend, sah er etwas verängstigt zu uns herüber, während das Boot das Segel hißte und über die unruhigen blauen Wellen hinwegschaukelte.

Nachdem so unser Hausstand sehr verkleinert worden, nahm unser Leben seinen gewohnten Fortgang. In meinem Vater aber ging eine große Veränderung vor sich. Er fing an, buddhistische Literatur und Gebete im Haus einzuführen. Jeden Abend verbrachte er nun mehrere Stunden im Gebet. Kein Regen, kein Wind, kein Besuch, keine Unruhe im Haus konnte ihn daran hindern. Ich verstand kein Wort von den Gebeten, weil er sie in Sanskrit sprach; ich vermutete nur, daß alle diese Worte seinem künftigen Leben galten.

Meine Mutter war glücklich darüber, weil sie selbst von ganzem Herzen an die buddhistische Lehre glaubte. Als es Sommer wurde, besprach sie mit ihm, ob wir nicht den Tempel »Licht Gottes« besuchen sollten, um dort unser Gebet zu verrichten. Sie lud auch einen Priester aus diesem Kloster ins Haus, um sich in den verschiedenen Zeremonien und Opfergaben beraten zu lassen. Der Plan 60 kam aber nicht zur Ausführung und wurde auf den nächsten Sommer verschoben. Das tat mir sehr leid.

Obwohl unser Städtchen von Bergen umgeben war, auf denen zahllose Klöster und Tempel verstreut lagen, hatte ich noch nie einen Tempel gesehen. Wir hatten bisher dem Buddha kein Opfer dargebracht und auch noch nie ein großes Gebet in einem Tempel verrichten lassen. Die Bettelmönche, die oft zu uns kamen und vor dem Tor ihr Gebet murmelten, trugen wohl auch nicht dazu bei, die weltlichen Städter religiöser zu machen. Nur einmal im Jahr, am achten April, an dem der heilige Buddha selbst nach seiner neunzehnjährigen Meditation wieder sein erstes Bad genommen und zu predigen angefangen hatte, wurde eine buddhistische Zeremonie in unserer Stadt gefeiert. Da wurde vor jedem Haus der Hauptstraße ein hoher Baum aufgestellt, der oft drei- oder viermal höher war als das Haus selbst. Von diesem Baum, dessen Stamm mit verschiedenfarbigen Tüchern umwickelt und geschmückt war, hingen zahllose bunte Bänder auf die Dächer und auf den Boden herab. Abends wurden die Seile und Bänder mit Lampions behängt, so daß man das Gefühl hatte, durch einen Garten voll Millionen leuchtender Blumen zu wandern.

Ich fühlte den heißen Wunsch, einen Tempel zu sehen, besonders den Tempel »Licht Gottes«, von dem meine Eltern schon oft gesprochen hatten. So 61 schloß ich mich eines schönen Vormittags ohne jede Überlegung zwei Knaben an, die einen Ausflug dorthin machten. Innerhalb des westlichen Stadttores hatte ich die ehemaligen Schulfreunde getroffen, als ich von meinem Morgenspaziergang nach Hause zurückkehren wollte. Ich fragte sie, wohin sie gingen und sie sagten kurz: »Zum Licht Gottes!« Als ich diesen Namen hörte, durchzuckte es mein Herz, und der Aufforderung mitzukommen folgte ich ohne Zögern.

Ich schritt tapfer aus und machte mir um das Kommende keine Sorge. Wie schön war die Wanderung! Wir verließen schnell unser Städtchen, kamen durch viele Schluchten immer tiefer ins Gebirge hinein, bis wir ganz von den Bergen eingeschlossen waren. Die Sonne brannte heiß und wir schwitzten sehr. Doch stiegen wir unermüdlich weiter, bis wir endlich in der Ferne einen von Bäumen umschlossenen Hof erblickten. Graue Dächer schimmerten durch das Laub, die Dächer des Klosters »Licht Gottes«.

Erst als wir dort angekommen waren, merkte ich zu meinem großen Schrecken, daß die Bäume lange Schatten auf die Erde warfen und daß die Sonne schon tief im Westen stand. Ich bat die anderen, gleich wieder den Heimweg anzutreten, weil es sonst zu spät werden würde. Sie sagten, daß es ohnehin schon zu spät geworden sei und daß wir heute im Kloster übernachten müßten. Ich wollte 62 dies auf keinen Fall, weil meine Eltern nicht wußten, wo ich war. Ich drängte daher zur Rückkehr, aber ohne Erfolg. Sie wollten zuerst die Tempel ansehen. Während unseres Streites sank die Sonne tiefer und tiefer und der junge Mönch, der uns empfangen hatte, sagte, daß wir unmöglich in der Nacht die gefährlichen Wege zurückgehen könnten. Ich mußte nachgeben, und die erste kummervolle Nacht meines Lebens verbrachte ich in diesem Gebirge.

Ich sah kaum die herrlichen Hallen mit den zahllosen Statuen, hörte nicht, was der Mönch erzählte, aß nichts von den Speisen, die er uns brachte. Ich sah nur hinüber zu den Bergen, hinter denen unser Städtchen liegen mußte. Nirgends war ein breites Tal zu sehen, nirgends das Meer, an dessen Anblick ich so gewöhnt war. Nur schroffe Gipfel türmten sich ringsum auf und die Abendglocke des Tempels verhallte einsam in den Schluchten. Die Mönche in gelben Gewändern traten in den Hof, um das Abendgebet zu verrichten. Um die Hände trugen sie Gebetschnüre geschlungen. Aus den Hallen der Tempel leuchteten Tausende von Kerzen von den Opfertischen, die rings an den Wänden aufgestellt waren. Hier beteten die Mönche und mit ihnen die Hinterbliebenen der Toten für die Seelen ihrer Verstorbenen das große Gebet. Von kurzen Pausen unterbrochen währte das Gebet die 63 ganze Nacht hindurch, bis der Morgen graute. Dann traten die Beter in den freien Hof und schritten langsam im Kreise umher, die Mönche, wohl über hundert an der Zahl, in ihrer feierlichsten Gebetstracht, die Frauen in Trauerkleidung. Jede der Frauen hielt mit beiden Händen eine Holztafel, auf der ein zylinderförmig gefalteter Papierbogen, offenbar der Sitz der abgeschiedenen Seele, stand. In der Mitte des Kreises loderte das heilige Holzfeuer in den dämmernden Morgen. In feierlichem Rhythmus klangen die dumpfen Holzglocken, die Mönche sangen im Chor das Abschiedsgebet und das Namuhamitabul. Jetzt sollten sich die Seelen der Toten endlich von der Erde lösen, um in ein anderes Dasein einzugehen. Ergriffen vom Takt der Holzglocken und dem rhythmischen Gesang schritten wir drei Kinder still hinter den Frauen einher. Ununterbrochen bewegten wir uns im Kreise, und schon dämmerte der Morgen herauf. Die Gesichter der Menschen wurden klarer, die Schluchten erhellten sich. Immer inbrünstiger wurde das Gebet und immer schneller bewegte sich der Kreis. Jetzt stieg im Osten die rote Glut über den Bergen empor und die ersten Sonnenstrahlen drangen zu uns. Während die Mönche weitersangen, trat eine Frau nach der anderen an das Feuer heran und warf den Sitz der Seele in die Flammen. Alle Frauen schluchzten, denn das war der letzte Abschied für die Ewigkeit. Wir Knaben schluchzten auch. Dumpf und düster 64 klangen die Rhythmen der Holzglocken, und unaufhörlich sangen die Mönche ihr Namuhamitabul.

 

Tief ergriffen von dieser Nacht, nahm ich Abschied von den Bergen und trat den Heimweg an.

Ich ertrug zu Hause allen Tadel und jede Strafe ohne Widerrede. Seltsam erschüttert war ich durch das religiöse Erlebnis und ich fühlte mich erwachsener als tags zuvor. Mein Vater verzieh mir bald und ließ sich alles erzählen, was ich erlebt hatte. Er schien sich darüber zu freuen und erlaubte mir sogar, von nun an abends einen kleinen Teil seines Gebets mitzubeten. Nach dem Gebet erzählte er mir von den verschiedenen Klöstern und Tempeln, die in den Schluchten des Yangtsetales zerstreut lagen und von den berühmtesten Dichtern besucht und besungen wurden.

Im Chinesischen las ich gerade die Dichter der Tangdynastie. Was ich aber gerne von meinem Vater hörte, waren nicht geschriebene Geschichten oder Gedichte aus Büchern, sondern seine eigenen Erzählungen, Sagen und Anekdoten aus der Tangdynastie. Es gab in jener Zeit so viele unglückliche Dichter, so viele schöne Verlassene, die, von Sehnsucht gequält, ihren Tod in den Fluten des Stromes suchten. Wehmütige Melodien klangen von den Felsen und aus den Lauben in die einsamen Schluchten und traurige Abschiedslieder schwebten im Abendnebel über dem Tungtingsee. 65

An schönen Mondscheinabenden ließ der Vater einen Sitz unter dem Pfirsichbaum im Brunnenhof herrichten. Dann wurden seine Geschichten sehr poetisch; er fand des Erzählens kein Ende und ab und zu dichtete er auch. Alle väterliche Strenge war verschwunden. Er scherzte mit mir, wenn ihm ein guter Reim glückte. Einmal verführte er mich sogar dazu, einige Becher voll Wein aus seinem Krug zu trinken.

Das geschah an dem schönen Mondscheinabend, als meine Mutter nicht bei uns war. Das war gut, denn sie hätte mir nicht erlaubt, mit dem Vater zu trinken. Sie war eine scharfe Gegnerin des Weins, während mein Vater dieses Gift gerne genoß. Darüber kam es hie und da zu kleinen Spannungen zwischen den beiden; im allgemeinen war meine Mutter aber nachsichtig und gönnte dem Vater jeden Abend einen Krug voll Reiswein. Wenn wir zusammensaßen, stand ein kleiner Tisch mit dem Weinkrug, zwei Schälchen und einer Schüssel voll Obst vor ihm. Die Mutter blieb gewöhnlich so lange bei uns sitzen, bis der Abend vorgerückt und der Krug leer geworden war. An jenem Sommerabend war sie aber nicht bei uns, weil die Frauen gerade einen Leseabend hielten.

Der Mond war schon über dem Dach des leeren Schulhauses aufgegangen. Am wolkenlosen blauen Himmel entfaltete er seinen Glanz. Die Mauer zwischen den beiden Höfen warf einen scharfen 66 Schatten. Kein Mensch war zu sehen, keine Stimme war zu hören. Nichts regte sich in dem großen Haus. Alles Leben, alles Bewußtsein strahlte für mich von dem lächelnden Gesicht des Vaters aus, der so wunderbar erzählte. Je weiter der Abend vorschritt, je mehr er trank, desto lebendiger wurden seine Erzählungen. So viele Gedichte wurden zitiert und gesungen. »Weißt du, wer der große koreanische Dichter Kim-Saggaz war?« fragte er mich. »Nein«, sagte ich voll glücklicher Erwartung einer neuen Geschichte. »Sein Vater war ein hoher Beamter, der Gouverneur einer südkoreanischen Provinz. Der König regierte schlecht und verlor deshalb bald jedes Ansehen. Dreißigtausend Soldaten besaß damals der mächtige Gouverneur im Süden. Sie waren gute Schützen. Mit ihnen marschierte er nach Seoul, um den König zu stürzen. Drei Provinzen hatten sich ihm bereits angeschlossen, kein Mensch hielt seinen Zug nach Norden auf. Als er aber mit seinen Truppen in eine neugewonnene Stadt einzog, traf er auf einen Mann, der ihn auf der Straße erwartete. Unbewaffnet war er und seine Hände waren leer; doch er stellte sich dem Pferd des siegreichen Eroberers entgegen und faßte es am Zügel.«

Mein Vater blickte in sein Weinschälchen und trank es aus. Ich wollte es wieder füllen, aber der Krug war leer. »Ist nichts mehr drin?« fragte er. Dabei wurde er etwas – ich weiß nicht, ob ich es 67 so nennen darf – ja, etwas traurig. Das betrübte mein Herz. »Ich hole noch Wein«, sagte ich und stand mit dem Krug auf. Er lachte und ergriff meine Hand. »Du bist sehr kühn«, sagte er, »bitte die Mutter recht schön! Vielleicht gibt sie dir noch etwas!«

»Sicher bringe ich dir Wein!« erwiderte ich.

Ich kam mit dem vollen Krug zurück und schenkte ihm ein. Das freute ihn. »Und wer war dieser Gegner?« fragte ich. »Ja, das wollte ich gerade von dir wissen. Wer könnte dieser kühne Mann gewesen sein?«

Ich überlegte lange Zeit und sagte dann: »Der König selbst?«

»Gut!« sagte er, »das wäre auch richtig gewesen, wenn der König selbst gekommen wäre und sich so waffenlos dem Feind gestellt hätte. Das hätte vielleicht ein anderer König getan. Dieser hier war aber sehr feig. Nein, nicht der König, sondern sein Sohn, des Eroberers eigener Sohn war es, der berühmte Kim-Saggaz! Nicht wahr, das hast du nicht erwartet? Aber es war wirklich sein eigener Sohn. ›Wende deine Truppen nach Süden!‹ bat er seinen Vater. Der aber sagte: ›Werde mein Offizier, ich gebe dir tausend Schützen.‹ ›Nein‹, antwortete der Sohn, ›du hast deinem König die Treue gebrochen, ich verweigere dir den Gehorsam!‹ Damit ließ er den Vater weiterziehen. Kim-Saggaz blieb 68 königstreu, aber er unternahm nichts gegen seinen Vater, sondern wurde ein Betteldichter.«

»Ich hätte aber dem Vater geholfen«, sagte ich, als mein Vater geendet hatte.

»Nein«, sagte der Vater zu mir, »das verstehst du noch nicht. Wenn man dem König die Treue gelobt hat, darf man ihm niemals untreu werden.«

»Kim-Saggaz hatte aber seinem Vater auch Gehorsam versprochen, den durfte er ihm nicht verweigern.«

»Freilich«, gab mir der Vater zu, sich über meine Logik freuend, »deshalb hat er auch nichts gegen seinen Vater unternommen, sondern ist ein Dichter geworden und hat sich von der Welt losgelöst«.

»Ich hätte trotzdem dem Vater geholfen«, sagte ich. Es war mir unbegreiflich, daß man des Königs wegen seinen eigenen Vater verlassen sollte.

»Oh, du Trotzkopf!« rief mein Vater aus.

»Nein, das meinen Sie bloß. Ich weiß aber nicht, ob Sie als Erwachsener es besser wissen als ich!«

»Gut gesprochen!« sagte er. »Also, mein kluger Sohn, trink ein Schälchen Wein mit mir!« Er schenkte die zweite Schale ein, die, unbenützt, wahrscheinlich nur der guten Form wegen dastand.

Über dieses Angebot erschrak ich heftig, denn ich war bis dahin gewohnt, das berauschende Getränk als einen Feind zu betrachten, weil die Mutter immer wieder dagegen sprach. Nun nahm ich aber doch die Schale in die Hand. 69

»Gut, also trink!«

Da leerte ich sie in einem Zug. Bald aber kamen mir Tränen in die Augen, denn der Wein war sehr stark. Der Vater steckte mir schnell eine Dattel in den Mund und mir wurde besser.

»Wie hat es dir geschmeckt?«

»Gut!« sagte ich.

»Siehst du, also noch ein Schälchen!«

Ich nickte. Sagen konnte ich nichts. Es wühlte in meiner Brust und mein Hals war wie zugeschnürt. Ich bemühte mich aber, ruhig sitzen zu bleiben und nicht zu jammern, während mein Vater ein Gedicht von Kim-Saggaz nach dem andern hersagte.

Als wir die zweite Schale leerten, hatte ich bereits zwei Datteln in der Hand. Diesmal war es aber nicht so schlimm. Vergnügt und mutig kaute ich die Datteln. Bald danach aber drehte sich's mir im Kopf, sonderbar und merkwürdig. Doch gab ich nicht nach und blieb sitzen, als ob ich mich sehr wohl fühlte.

Die Mutter kam nun zu uns und merkte gleich, daß mein Zustand etwas außergewöhnlich war.

»Freilich, ja, ja«, sagte der Vater zu ihr, »er hat zwei Schälchen Wein getrunken«.

Sie war entsetzt und sagte kein Wort, aber ihr Blick war nicht streng und vorwurfsvoll, sondern eher etwas ironisch.

»Darf ich noch ein Schälchen trinken?« fragte ich den Vater. 70

»Um Himmels willen!« rief die Mutter aus und nahm das Schälchen weg.

»Oh, seien Sie nicht so grausam«, bat sie der Vater, »etwas Wein schadet ihm nichts. Ich muß doch einen Freund haben in meiner Einsamkeit.«

»Meinetwegen heute dies eine Mal!« sagte sie und füllte die Schalen.

Ganz stolz leerte ich nun die dritte. Ich fühlte mich erwachsen. Ich durfte der Freund meines Vaters sein, der so klug war und der so schön erzählen konnte. »Ach, weißt du, Vater, nein – wissen Sie – ich muß ja Sie zu dir sagen – wenn die Mutter nur wüßte, wie unentbehrlich der Wein für einen Dichter ist!«

»Recht so«, sagte mein Vater, während die Mutter ihre Augen zusammenkniff und mich von der Seite her betrachtete. Ich konnte nicht unterscheiden, ob sie mich dabei bewunderte oder ob sie sich über mich lustig machte. Es war mir gleich, ganz gleich! Der Mond schien so hell, die Pfirsiche dufteten, ich saß beim Wein und war der Freund meines Vaters! 71

 


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