Mirok Li
Der Yalu fliesst
Mirok Li

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Die Fürbittmutter

Im Frühjahr verließ uns Siebengestirn mit seiner Mutter. Sie bezogen ein kleines Haus in einer uns benachbarten Gasse. Ich wußte nicht, ob Siebengestirns Mutter damit ihren Haushalt vergrößern wollte oder ob nur unser Streit daran schuld war, daß wir nicht mehr unter einem Dach lebten. Jedenfalls war die Trennung sehr heilsam. Wir stritten nie mehr, wenn wir uns wiedersahen. Suam und ich schämten uns sogar, daß wir den älteren Vetter verhauen hatten. Er war wohl aufreizend sauber, aber er konnte ja nichts dafür.

Bald danach kam ein sehr seltsamer Besuch zu uns, eine alte Frau aus einer weit entfernten Provinz. Mich kleinen Jungen nannte sie ihren Sohn. Meine Mutter sagte mir, daß ich sie »Mutter« rufen solle. Wenn sie mich auch nicht geboren hatte, so hätte sie doch für meine Mutter um einen Stammhalter gebetet, worauf ich auch wirklich zur Welt gekommen war. Sie war also eine Fürbitterin für Frauen, die sich ein Kind wünschten. Man durfte sie weder mit einer Wahrsagerin verwechseln, die mit ihrem Orakelbuch und dem buntbemalten Fächer von Haus zu Haus ging, um den Menschen die Zukunft zu weissagen, noch mit einer Schamanin, die mit Musik und Tanz Geister beschwörte. Sie war 48 von viel höherem Rang und hatte mit den niederen Dingen des Lebens nichts zu tun. Sie betete nur zum Herrn des Himmels, und das nur im Namen Buddhas oder eines seiner Jünger. Als meine Mutter von dieser Frau gehört hatte, war sie ungeachtet des weiten Weges zu ihr gegangen und hatte sie um ihre Fürbitte gebeten, denn sie lebte in großer Sorge, einmal alt werden zu müssen, ohne einem Sohn das Leben geschenkt zu haben. Da war die Fürbitterin mit meiner Mutter zu uns gekommen und hatte ein großes Gebet von neunundvierzig Tagen einem Jünger Buddhas, dem heiligen Mirok, dargebracht, nach dem ich später genannt wurde.

Einige Tage nach ihrer Ankunft folgte ich eines Abends den beiden Müttern in den Wald. Dort wollten wir vor einem Standbild des Heiligen ein Dankgebet verrichten. Weit entfernt von unserer Stadt, in einer tiefen Schlucht, stand das kleine Schutzhäuschen mit dem lebensgroßen steinernen Bild des heiligen Mirok. Die Betmutter holte aus dem nächstliegenden Dorf den Schlüssel, öffnete die Türe und zündete eine Kerze an. Es war inzwischen dunkel geworden; verängstigt stand ich zwischen den beiden Müttern und sah die im Kerzenlicht hell leuchtende Statue. Ihr Antlitz war ruhig und friedlich. Der Heilige hielt die Augen gesenkt. Seine Ohren waren merkwürdig lang. Die beiden Arme lagen dicht am Körper an. Die Hände waren ineinander verschlungen, die Beine enggestellt und 49 gerade, bis herab zu den Füßen von gleichmäßiger Stärke und nur andeutungsweise voneinander getrennt.

Die Fürbittmutter entzündete einen dreimal gefalteten Papierbogen vor dem Antlitz des steinernen Bildes und betete. Ich konnte nicht alles verstehen, was sie murmelte, denn ich war zu sehr ergriffen von dem Anblick des weißen, leuchtenden Heiligen im dunklen Wald, dessen wohlwollender Vermittlung ich mein Dasein auf Erden verdankte. Als wir nach dem Gebet das Häuschen wieder verschlossen hatten und heimkehrten, empfand ich eine große Dankbarkeit für die gute Fürbittmutter, die mir den Weg in diese Welt bereitet hatte. Ohne ihr Gebet wäre ich irgendwo anders geboren worden und ohne Suam, ohne Kuori und ohne meine Schwestern aufgewachsen. Ich hielt ihre Hand immer fester in der meinen und sie sagte oft: »Mein Kind, mein teures Kind!«

Sie überhäufte mich mit Geschenken; jedesmal, wenn sie in die Stadt ging, fragte sie mich, ob ich einen Wunsch hätte, und ich erhielt alles, was ich mir wünschte. Einmal brachte sie mir eine große griechische Schildkröte, die mich sehr entzückte. Ich hatte noch nie ein solches Tier gesehen. Der Rücken war wie ein schön geschnitzter Tuschkasten und auf dem Bauch trug sie deutlich sichtbar das chinesische Schriftzeichen »König« eingraviert, das mir Ehrfurcht einflößte. 50

Mein letzter vierbeiniger Freund war ein kleines, schönes Eichkätzchen gewesen, das sehr zahm geworden war. Es war mir jeden Abend, wenn ich aus dem Schulhof zurückkam, um Gesicht und Hals herumgesprungen und hatte sich in meinen Ärmeln getummelt, bis es eine Erdnuß oder eine Kastanie von mir bekommen hatte. Das hatte ich meiner Fürbittmutter erzählt und ihr geklagt, daß mir das Tierchen weggelaufen war. Und so hatte sie mir die Schildkröte als Ersatz gebracht.

Ich berührte die Schildkröte nur ab und zu behutsam auf dem Rücken. Viel mehr konnte ich auch nicht mit ihr anfangen. Sie war so ganz anders als das Eichkätzchen. Sie sprang nicht, sie schrie nicht, sie bewegte sich nur langsam um die Veranda herum und blieb oft lange Zeit an einem Fleck sitzen. Sie sah sehr vornehm und königlich aus und schien tiefe Gedanken zu haben. Die Fürbittmutter erklärte mir, daß sie über die Schicksale der Menschen nachdenke und deshalb auch Glück und Unglück voraussagen könne. Um das zu erfahren, müsse man sich so weit bücken, bis der Rücken eine Waagerechte bildete. Dann legte man sich das Tier auf den Rücken und wartete, bis es herunterkroch. Kroch es nach der rechten Seite herunter, so bedeutete es Glück, kroch es nach der linken, so bedeutete es Unglück. Suam und ich bückten uns jeden Morgen einmal auf den Boden und warteten, bis das Tier nach langer Überlegung herunterkletterte. Es war 51 mir nicht ganz geheuer, wenn es nach links kroch. Suam riet mir, daß ich jedesmal die linke Seite meines Rückens ein wenig in die Höhe heben sollte, damit die Schildkröte nur nach rechts zu kriechen hatte. War das Orakel gesprochen, so hatte sie Ruhe vor uns und kroch gemächlich bald im Innenhof, bald im Brunnenhof allein umher. Sie lebte nur von Gurken oder Melonen, die wir reichlich für sie besorgten. In den südlichen Ländern aber, in denen diese Wundertiere aufwachsen, sollen sie nur vom Tau, der sich jeden Morgen beim Sonnenaufgang um ihre Lippen bildet, leben.

 

Es war wieder Hochsommer geworden. Meine Fürbittmutter hatte uns verlassen. Wegen der großen Hitze hatten wir nur vormittags Schule, nachmittags durften wir an den Bach gehen und baden, solange es uns gefiel. Wir konnten jetzt gut schwimmen und wagten uns auch dorthin, wo das Wasser vier oder fünf Meter tief war. Selbst bei dieser Tiefe sah man den felsigen und sandigen Grund hellgrün heraufschimmern, weil das Wasser in allen Bächen kristallklar war. Wir schwammen wie Frösche, tauchten bis zum Grund oder ließen uns auf dem Rücken liegend im Strudel herumtreiben. Schön war es auch, auf einem Felsen zu liegen, die Augen zu schließen und nur dem Gemurmel des Wassers zuzuhören.

Suam und ich nahmen jedesmal die Schildkröte mit, damit sie frei herumschwimmen konnte. Auf 52 dem Weg hin und zurück wickelten wir sie, um sie nicht der heißen Sonne auszusetzen, in ein großes Kürbisblatt ein. Nur einmal vergaßen wir sie mitzunehmen, und an diesem Tag geschah das Unglück. Sie schien ein großes Verlangen nach Wasser gehabt zu haben und war irgendwohin fortgelaufen, weil man sie allein gelassen hatte. Als wir abends wieder heimkehrten und sie füttern wollten, war sie nirgends zu finden. Wir suchten sie im ganzen Haus, und alle halfen uns dabei. Allmählich wurde es dämmerig und dunkel. Die hellen Kürbisblüten leuchteten und Fledermäuse schwirrten in der Luft. Aber die Schildkröte ließ sich nicht sehen. Jeder trug eine Kerze oder eine Talgschnur, und wir suchten in allen Zimmern, in den Kornkammern und in den Gruben der Gärten, bis Kuori die Gesuchte endlich in einem Kochkessel entdeckte. Die Schildkröte bewegte sich nicht mehr und blieb liegen, wie immer man sie auch auf die Erde setzte. Sie war tot.

Am nächsten Tag baute Suam im Hinterhof mit seiner Schaufel einen kleinen Hügel aus Erde, auf dem wir die Schildkröte begraben konnten. In Korea gab es damals noch keine Gräber in der Ebene, weil jede Familie ihren eigenen Berg besaß und auf ihm einen Familienfriedhof. So wollten auch wir die Schildkröte auf einem Berg begraben. Suam schaufelte den ganzen Nachmittag, bis der Hügel etwa einen Meter hoch war. Ich machte aus zwei dicken Ästen und einem Strohseil eine rohe Bahre, auf der 53 wir die Schildkröte zu Grabe tragen wollten. Unbeweglich lag sie während des ganzen Tages da. Wir opferten dem Berggeist und der toten Gespielin je ein Schälchen Wasser an Stelle von Wein, damit die Seele der Abgeschiedenen Ruhe hatte, und begruben die Leiche bei Sonnenuntergang. Es war uns recht traurig zumute, als das kürbisgroße Grab fertig war.

Schildkröten sollen ein langes Leben haben und mehrere tausend Jahre alt werden. Wenn ein solches Wundertier in unserem Haus gestorben war, so hatte das wohl nichts Gutes zu bedeuten. 54

 


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