Mirok Li
Der Yalu fliesst
Mirok Li

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Im Frühjahr

Im Winter dachte ich viel an meine früheren Schuljahre, an die Schulfreunde und an alles, was sie mir über die neue Welt Europa erzählt hatten. Ich sah auch die Bilder wieder vor mir, die ich als Kind gesammelt hatte. Es waren herrliche Häuser und Burgen, die so hoch waren, daß sie eher der Region des Himmels zugehörten als der Erde. Wenn ich trotz des Schneesturms die Bucht entlang spazieren ging, sah ich im fernen Westen all diese Gebäude vor mir und ich sah die fröhlichen, hochgewachsenen, blonden Menschen, die dort ein und aus gingen. Sie kannten keine irdischen Sorgen, keinen Kampf ums Leben und keine Laster. Sie forschten nur über Natur und Kosmos und gingen den Pfaden der Weisheit nach. Dort mußte man studiert haben, wenn man ein wahrhaft gebildeter Mensch der neuen Kultur werden wollte. Dort konnte man alles selber sehen und selber erleben und alle Lehren von den Forschern selbst empfangen. Viele schöne Sagen und Anekdoten, die ich über diese Wunderwelt gehört hatte, wurden in mir wieder lebendig, und ich fing an zu überlegen, wie ich dorthin gelangen könnte.

Es schneite nun nicht mehr. Die Eisblöcke in der Bucht machten sich los und verschwanden. Es wurde warm. 128

An einem schönen Märznachmittag begab ich mich auf den Weg zum Markt Shinmak, der von uns zwei Tagemärsche entfernt lag. Durch diesen Markt sollte die Eisenbahn gehen. Wenn ich hier einen Zug bestieg, kam ich über die nördliche Grenze unseres Landes hinaus und draußen würde es immer wieder eine Möglichkeit geben, um weiter nach Westen vorzudringen, bis ich schließlich in Europa ankommen mußte. Das war alles, was ich vorderhand wußte. Wie ein Eisenbahnzug aussah, wie man ihn bestieg, in welcher Sprache man sich draußen verständigte und ob auch in Europa das Geld gebräuchlich war, das alles wußte ich nicht.

Ich lief den Nachmittag und die ganze Nacht hindurch, weil der Weg im Mondschein gut zu erkennen war. Ich mußte aber auch den ganzen nächsten Tag gehen, bis ich erst gegen Abend den Marktflecken erblickte, der in einer weiten Ebene lag. Schon von ferne merkte ich, daß das ein anderer Ort als unsere Heimatstadt war. Da war viel mehr Lärm und mehr Verkehr. Schreiend, klingelnd und hupend fuhren Rikschas, Autos und Motorräder durch die sich drängende Menge der Fußgänger. In der Hauptstraße lebten fast nur Japaner, deren Sandalen man überall klappern hörte. Mit großer Mühe schob ich mich durch das Gedränge der engen Straße bis zum anderen Ende des Ortes, wo der Bahnhof lag. Dort erfuhr ich, daß der 129 mandschurische Zug erst am nächsten frühen Morgen hier durchfuhr.

Ich prägte mir das Bahnhofsgebäude, den Bahndamm, den Ein- und Ausgang genau ein, damit ich mich am nächsten Morgen nicht irren konnte. Ich sah das alles zum erstenmal in meinem Leben. Nach langem Suchen fand ich am äußersten Ende des Ortes eine kleine einheimische Gaststätte, und dort kehrte ich ein. Zum erstenmal in meinem Leben übernachtete ich in einem Gasthaus.

Nach dem Abendessen legte ich mich gleich schlafen, weil ich am nächsten Morgen zeitig aufzustehen hatte. Ich fühlte große Müdigkeit, denn ich war die ganze vergangene Nacht hindurch ohne Rast gelaufen.

Obwohl ich so müde war, fand ich keinen richtigen Schlaf. Die Beine schmerzten mich, und im Halbschlummer sah ich immer wieder meine Mutter vor mir. Für sie hatte ich einen kurzen Abschiedsbrief auf das Schreibtischchen gelegt, damit sie nicht umsonst nach mir suchte. Ich mußte es so machen, weil sie mich für ungeschickt hielt und mich nicht fortgelassen hätte. Der Gedanke an den Brief hatte mich auf dem ganzen Weg beruhigt, und ich hatte wenig an meine Mutter gedacht. Jetzt sah ich sie aber immer wieder vor mir, als ob sie wirklich da wäre. Endlich schlummerte ich ein, aber ich erwachte bald wieder, schlummerte wieder ein und wachte wieder auf. Ich hörte die Mutter nach mir 130 rufen oder sah sie traurig und wortlos über meinem Brief sitzen. Einmal faßte sie mein Gesicht mit beiden Händen und lächelte, wie sie es gerne getan hatte, wenn sie nach Songnim gekommen war, um mich für einige Tage zu besuchen. So ging es die ganze Nacht.

Ich träumte von meiner Kindheit. Ich saß auf einem Strohkissen in unserem Hinterhof und sah zu, wie meine Mutter in den Hof kam und ihre gefärbten Seidentücher an einem Seil aufhing, um sie trocknen zu lassen. Warm schien die Sonne auf den Hof. Ich freute mich, meine Mutter zu sehen, lief zu ihr und umfaßte sie von hinten und rief: »Rate, liebe Mutter, wer ist hinter dir?« Sie hing das Seidenstück fertig auf, wandte sich zu mir und hob mich vom Boden in die Höhe. »Ja, wer ist denn das?« fragte sie lachend – und hielt mich hoch über ihrem Gesicht – »ja, wer ist denn das, mein Goldast, mein Jadeblatt! Willst du ein großer Dichter werden oder ein großer Maler, oder ein Held oder ein Statthalter in unserer Provinz?«

Gegen Morgengrauen sah ich sie bitterlich weinen; mein Kopf lag in ihrem Schoß. Ich erschrak sehr und flüsterte: »Nein, Mutter, ich gehe nicht fort!« Ich hatte sie nur einmal so gesehen, als wir damals nach dem Begräbnis meines Vaters von dem hohen Berg heruntergestiegen waren und unter einem Zelt vor dem Haus unseres Grabhüters 131 übernachteten. Wieder wach geworden, fühlte ich mich fiebrig, und ich fror.

Draußen war es dämmerig und ein kalter Wind blies über die Ebene. Die kleine weiß gestrichene Halle des Bahnhofes war aber hell beleuchtet und voll von zahllosen Menschen. Meistens waren es Japaner, Soldaten und Frauen, die herumstanden, sich voreinander verbeugten, Abschied nahmen und einander Geschenke gaben. Immer mehr Menschen strömten herein und störten einander bei den tiefen Verbeugungen. Als endlich der kleine Schalter aufgemacht und die Fahrkarten verkauft wurden, stellten sich die Uniformierten der Rangordnung nach am Eingang auf. Die anderen in Ziviltracht und Sandalen schlossen sich an. Ich stellte mich ganz am Schluß an und erhielt, als ich an die Reihe kam, eine Fahrkarte nach der mandschurischen Hauptstadt.

Über den Bahndamm huschte die Dämmerung. Eiskalt blies der Wind. Endlich kam der Zug, donnernd, pfeifend und rauchend. Die Menschen rasten zu den Wagen und drängten sich an den Türen. Schon pfiff der Zug und eilte wieder davon, und ich war auf dem Bahndamm stehen geblieben.

Ein Bahnbeamter trat zu mir und fragte mich, warum ich nicht eingestiegen wäre. Als ich ihm keine Antwort gab, nahm er mir die Fahrkarte aus der Hand und warf einen Blick darauf. »Nach Mukden sogar!« rief er erstaunt und sah mich prüfend an. 132 Dann führte er mich ins Bahnhofsgebäude und erzählte seinen Kollegen den Vorfall.

Ein älterer Mann betrachtete mich mißtrauisch und fragte nach meinem Namen, Alter und Beruf. »Haben dir deine Eltern die Fahrt nach Mukden erlaubt?« fragte er mich.

»Nein«, sagte ich.

»Ich dachte es mir«, sagte er ärgerlich werdend. »Was wolltest du denn in der Mandschurei tun?«

»Nach Europa weiterreisen«, sagte ich zögernd.

Er sah mir lange Zeit ernst ins Gesicht. »Aha, so weit wolltest du reisen. Hast du einen Paß dazu?«

»Nein, ich habe nicht an so etwas gedacht.«

»So, so. – Hast du Gepäck?«

»Nein.«

»Kannst du gut Englisch oder Französisch oder Deutsch?«

»Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen.«

»Wieviel Geld hast du bei dir? Zeige es mir.«

Ich legte mein ganzes Geld auf den Tisch. Er warf einen flüchtigen Blick darauf und lächelte. »So wolltest du ohne Gepäck, ohne Kenntnis des Englischen, ohne Paß und nur mit diesem bißchen Geld nach Europa fahren?«

»Ja, so war es.«

Er betrachtete mich wieder scharf. »Warum bist du aber nicht in den Zug eingestiegen?« 133

Ich schwieg wieder. Der junge Beamte, der mich hergeführt hatte, warf ein, daß ich darauf vorhin auch nichts gesagt hätte.

»Sag, warum bist du denn nicht eingestiegen?« sagte der ältere Mann noch einmal.

»Es war alles so unruhig und laut«, antwortete ich.

Der jüngere Mann lachte und erzählte, daß er das von den Koreanern schon mehrere Male gehört hätte. »Die Eisenbahn ist für diese Menschen zu würdelos, zu geräuschvoll, zu hastig«, bemerkte er und alle lachten.

»Du kannst aber nicht gut auf einem Esel nach Europa reisen«, meinte der ältere Mann.

»Nein, das geht nicht gut«, erwiderte ich.

»Willst du es trotz des Lärms morgen noch einmal versuchen, mit unserem Zug nach Europa zu fahren?«

»Ich weiß es nicht.«

Unser Gespräch stockte. Dann ließ sich der Beamte meine Fahrkarte zurückgeben, zahlte mir mein Geld wieder heraus und legte es zu dem anderen Häufchen. »Geh jetzt wieder in deine Heimat zurück und studiere da weiter. Bei uns sind die Schulen genau so gut wie in Europa. Wenn du ein begabtes Kind bist und die Schule als Primus oder fast so gut absolvierst, so kannst du nach Seoul fahren und dort eine Hochschule besuchen. Auch unsere Hochschulen sind genau so gut wie die europäischen und in Seoul findest du überall die neue Kultur. Alle 134 offiziellen Gebäude sind in europäischem Stil gebaut, dreistöckig, sogar vierstöckig, und die Professoren sind in vornehme europäische Tracht gekleidet. Aber auch nach Seoul darfst du nur fahren, wenn es dir deine Eltern erlauben. Nach der Vorschrift muß ich jeden entlaufenen Jungen in Haft nehmen und durch die Polizei nach Hause bringen lassen. Bei dir will ich aber eine Ausnahme machen, weil du kein schlechter Mensch zu sein scheinst. Nimm das Geld und gehe nach Hause. Sei aber vorsichtig mit dem Geld, denn es ist etwas sehr Wertvolles!«

Ich kehrte in mein Gasthaus zurück und legte mich schlafen. Als ich aufwachte, war es schon später Nachmittag geworden. Es schien kein Sonnenstrahl in mein Zimmer, und ich fror. Von außen drang der Straßenlärm herein. Rikschakulis schrien, Fahrräder klingelten und die Händler priesen ihre Waren an, besonders laut die bekannten japanischen Lebenspillen Jintan. In der Ferne pfiff ein Zug und dampfte bald in den Bahnhof. Es wurde gerufen und kommandiert. Ein neuer Zug kam aus einer anderen Richtung und pfiff ohrenbetäubend. Irgendwo schlug ein Gendarm einen Menschen. Man hörte ihn stöhnen und um Vergebung bitten. Sandalen klapperten über das Pflaster, und Marschmusik spielte.

Da trat ich den Heimweg an. 135

 


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