Mirok Li
Der Yalu fliesst
Mirok Li

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Die Uhr

Der Schüler, der neben mir saß und Kisop hieß, war ein schöner und kluger Knabe und schien viel zu wissen. Er hatte Mitleid mit mir, weil ich sehr wenig verstand und mutlos dasaß. Ich begriff fast nichts von der Naturkunde und noch weniger von der Rechenkunst. Er sah ab und zu in mein leeres Heft und schrieb dann einige Zahlen hinein, damit ich wenigstens die Resultate der schweren Rechnungen mit nach Hause nehmen konnte. Das half mir aber sehr wenig, weil ich nicht wußte, wie diese Resultate zustande kamen. So saß ich den ganzen Tag entmutigt da und wartete, bis es Abend wurde. Auf dem Weg nach Hause sammelte ich aber doch alles in meinem Kopf zusammen, was ich in der Naturkunde einigermaßen begriffen und was ich an Neuem über Europa gehört hatte, um es meinem Vater erzählen zu können. Er freute sich über jede kleinste Neuigkeit. Ich erzählte ihm alles Wort für Wort, was ich gehört hatte, und brachte ihm alles, was nur ein wenig europäisch aussah: Papierstücke mit europäischen Schriftzeichen, Bilder mit hohen Häusern, Brücken oder Türmen. Alles betrachtete er genau und lange.

Während der Pausen oder auch nach Schulschluß versammelten sich mehrere Kinder auf dem 81 Turnplatz und plauderten von den europäischen Ländern, von ihrem hohen Wissen und ihren weisen Männern, deren Namen ich mir schwer merken konnte, weil sie alle so seltsam fremd klangen. Ein reicher Chinese habe einen europäischen Weisen besucht, erzählte Puksori, ein Mitschüler. Da sei dem reichen Mann ein teurer Diamantring vom Finger gerutscht und in den Hof gefallen. Während der Unterhaltung mit dem Weisen hätte er dem Gastgeber von seinem Mißgeschick erzählt, worauf dieser ihm erwiderte: »Seid unbesorgt, mein teurer Gast, in einem europäischen Land hebt kein Mensch ein fremdes Ding vom Boden auf!« In der Tat sah der besorgte Mann durch das Fenster, daß der Diener, der gerade den Hof mit einem Besen fegte, den Ring zuerst wohl in die Hand nahm, ihn aber, nachdem der Boden sauber gekehrt war, wieder an die alte Stelle legte.

Kisop erzählte von einem chinesischen Prinzen, der eine Weile in Europa gelebt hatte. Als er wieder nach China zurückkehren wollte, ging er den höchsten Mann des Landes besuchen, um sich von ihm zu verabschieden und ihm für die Gastlichkeit seines Landes zu danken. Im Hof des Schlosses angelangt, fragte er den Gärtner, der soeben den Kiesboden reinigte, ob sein Herr Zeit hätte, ihn zu empfangen. Da antwortete der Gärtner: »Ich bin selbst der Präsident dieses Landes. In Europa gibt es keinen 82 Herrn und keinen Diener wie in den barbarischen Ländern.«

Wie freute sich mein Vater über diese Erzählungen! »Siehst du«, sagte er freudig erregt, die Europäer sind eben wahre Menschen!«

Die große Wanduhr, die mein Vater einige Tage danach hatte ins Haus kommen lassen, schlug Mitternacht. Unser ganzes Haus hallte und danach tickte die Uhr in der stillen Nacht weiter.

Mein Vater saß noch beim Licht und blätterte in meinen Schulbüchern. »Hast du nichts weiter von Europa gehört?«

»Nein.«

»Hat man dir nicht gesagt, wer diese Länder regiert?«

»Nein. Ich denke aber, daß das die Präsidenten sind. Sie sollen eine Art Könige sein.«

»Hm, das wäre möglich.«

Er las weiter in den Büchern, oft nachdenkend, und oft ein wenig lächelnd. Dann legte er sie weg und starrte vor sich hin, als ob er in die neue Welt hinübersehen wollte, die ihm verborgen war.

 

Eines Abends wartete ein Knabe an der Klassentür auf mich, als ich nach Hause gehen wollte. Er war aus einer höheren Klasse und hieß Yongma. »Bist du der Sohn des Kamtsal Li, der innerhalb des südlichen Tores wohnt?« fragte er mich. »Ja, der bin ich«, sagte ich. 83

»Wir wollen heute zusammen eine Familie besuchen, um ihren Sohn für unsere Schule zu gewinnen.«

Ich hatte früher schon oft gehört, daß die Kinder der neuen Schule in der Stadt herumgingen und viele Bürgerfamilien besuchten, um die Eltern von den Vorzügen unserer Schule zu überzeugen und ihre Kinder für den neuen Unterricht zu gewinnen.

»Lehrer Song hat uns beide für heute abend bestimmt«, sagte Yongma, als er meine zögernde Miene sah. »Komm gleich nach dem Abendessen zur Weidenbrücke! Dort treffen wir uns. Und bring einige von deinen Schulbüchern mit, damit die Eltern sie sehen können.«

Es war bereits dämmerig, als wir den Fluß entlang gingen. Nur das Wasser schimmerte im Abendlicht. »Weißt du etwas von Newton?« fragte mich Yongma im Gehen.

»Nein«, sagte ich.

»Du hast aber sicher von der Schwerkraft gehört, durch die alles zur Erde fällt?«

»Nein«, mußte ich wieder sagen.

Yongma blickte mich überrascht an. Er schien nicht zu begreifen, daß ein Knabe meines Alters noch nichts von der Schwerkraft wußte. »Ich weiß nur, daß die Erde sich um die Sonne dreht«, sagte ich.

»Gut, das kannst du auch den Leuten erzählen«, sagte er lächelnd. »Oder du kannst vom Sauerstoff 84 reden. Du sagst, daß das Wasser aus zwei verschiedenen Stoffen zusammengesetzt sei, aus Sauerstoff und Wasserstoff. Unsere Ahnen hätten nur gewußt, daß das ganze Weltall aus zwei Polen, aus Yin und Yang, bestehe, die Europäer kennen aber dieses Prinzip auch in einzelnen Dingen, wie im Wasser, in der Luft und bei den Felsen.«

Seine Stimme war sehr sanft, er redete schön und bedächtig. »Viele sagen, daß jetzt eine schlechte Zeit gekommen sei. Dann sagst du: es ist keine schlechte Zeit, es ist nur eine neue Zeit, die jetzt begonnen hat, vergleichbar dem Frühling nach einem langen Winter mit viel Schnee. Die Azaleen blühen und der Kuckuck ruft. So empfinde ich unsere Zeit.«

Der Vater der Familie, die wir besuchten, war ein Pinselmacher. Über die ganze Außenwand seines Hauses war mit großen Schriftzeichen geschrieben, daß hier Pinsel verkauft wurden. Wir waren gerade oben an der Steintreppe angelangt, als eine junge Frau mit einer Gießkanne in der Hand uns entgegentrat. Als sie hörte, in welcher Absicht wir gekommen waren, sagte sie kein Wort, ging ins Haus und schloß die Türe zu. Obwohl wir mehrmals klopften, wurde uns nicht geöffnet.

Wir standen da und lauschten eine Weile dem Tosen des nahen Gebirgsbaches und kehrten dann um.

»Wenn du einen Holzkasten zu Hause hast«, sagte Yongma, »beklebst du ihn mit schwarzem 85 Papier innen und außen. Nur eine einzige Seite mußt du offen lassen und dann mit einem matten Glas bedecken. An der gegenüberliegenden Seite bringt man ein enges Loch an, so eng, daß nur eine Nähnadel durchgehen kann. Wenn du diesen Kasten gegen die Landschaft hältst, siehst du alle Bäume und alle Blumen auf dem Glas abgebildet. Wenn du den Kasten den Leuten zeigst, kannst du ihnen sagen, daß man mit einem ähnlichen Photographien macht.«

An seinem Hause angelangt, führte er mich in seine Stube, um mir die vielen Bücher zu zeigen, die er besaß. Sie waren zum Teil auf europäische Weise gebunden und mit goldenen Schriftzeichen verziert. Ich wagte kaum, sie zu berühren. »In Europa schreibt man eben mit Gold, während wir nur mit Tusche malen«, erklärte er mir. Als ich weggehen wollte, gab er mir ein kleines, dünnes Buch in einem blauen Umschlag mit einem europäisch klingenden Namen darauf. »Dieses Buch liest jeder fortschrittlich denkende Mensch, zeig es einmal deinem Vater!« Ich eilte damit nach Hause.

 

»Abraham Lincoln, Abraham Lincoln«, flüsterte mein Vater, »ist das wohl ein Menschenname?«

»So habe ich es verstanden.«

Er las einige Seiten darin, blätterte die anderen durch und besah das Buch von vorne und hinten. 86 »Leg dich jetzt schlafen«, sagte er kurz und las ununterbrochen weiter.

»Ist das ein europäischer Weiser?« fragte ich den Vater.

Er nickte.

»Wie Konfutse oder Mengtse?«

»Nein, von anderer Art.«

»Vielleicht wie unser Yulgok?«

»Es ist etwas ganz anderes.«

Meines Vaters Miene zeigte, daß er ungestört sein wollte. Ich schwieg und wartete, bis er das Buch ausgelesen hatte. Er schien durch die Erzählung sehr erregt zu sein, sagte mir aber nichts davon. Schweigend saß er da und blickte unentwegt auf das Buch, das vor ihm lag. Dann zündete er eine Pfeife an und rauchte.

War dieser Europäer vielleicht ein Dichter? Ein Held, ein treuer Untertan eines schlechten Königs? Gab es auch in Europa Könige, die schlecht regierten?

Ich holte mir meine Bilder aus der Schublade und betrachtete die hohen Häuser, eine lange Brücke und einen spitzen Turm. Was taten die Leute wohl mit diesem Turm?

Die Wanduhr schlug langsam und brummend. Es klang, als kämen die Töne aus der Ferne her, von der unerreichbaren Hochburg der Weisheit, die nur selten durch vorüberziehende Wolkenrisse zu mir herüberleuchtete. 87

Selten empfing mein Vater Besuche. Er sagte, daß er viel Ruhe brauche. Alle Geschäftsbesucher aus der Stadt ließ er durch den jungen Schreiber Sunpil empfangen, und die Bauern unserer Güter wurden durch den Ernteverwalter Sunok bewirtet und beraten. Die Leute kamen und gingen, handelten und schlossen Verträge ab, aber alles nur im Außenhof, dem ehemaligen Schulhof. In dem Brunnenhof, der von dem anderen durch eine Zwischenmauer mit einem verschließbaren Tor getrennt war, blieb es den ganzen Tag ruhig. Morgens fegte der Knecht den Hof sauber und abends goß Kuori den kleinen Garten.

Der einzige Besuch, den mein Vater täglich empfing, war meine Mutter, die nach dem Abendessen in Begleitung von Kuori oder einer anderen Bediensteten erschien und eine kurze Weile bei uns blieb. Sie besprach den Haushalt mit meinem Vater, erzählte ihm vom Innenhof und von Frauenbesuchen. Nachdem sie noch eine Weile zugehört hatte, was ich von der Schule erzählte, ließ sie den aufgerollten Bambusvorhang vor dem offenen Fenster herunter, entzündete die Lampe und wünschte uns eine gute Nacht.

Von meinen Schwestern kam Ozini, die mittlere, an manchen Abenden zu uns und hörte unserem Gespräch zu. Sie interessierte sich sehr für meinen Schulbesuch. Sie blätterte oft in meinen Büchern und las auch manche Stellen, die ihr zu gefallen 88 schienen. Nicht selten nahm sie dieses oder jenes Buch, das ich am nächsten Tag nicht brauchte, in ihr Zimmer mit, um es genau zu studieren. Als mein Vater sie einmal fragte, ob auch sie diese neue Anstalt besuchen wollte, erschrak sie doch heftig und legte das Buch schnell wieder weg. »Wie können Sie einen solchen Scherz mit mir treiben?« sagte sie verlegen.

Knegi, meine älteste Schwester, war schon seit langer Zeit verheiratet, und unsere jüngste Schwester Setje war noch zu scheu, um das Zimmer des Vaters zu betreten.

Eines Abends, als meine Eltern eine längere Besprechung hatten und ich allein in dem kleinen »Ostzimmer« am Innenhof war, kam Ozini zu mir. »Diese Bücher sind so merkwürdig«, sagte sie mißbilligend, »sie enthalten keine klassischen Wörter und es sind keine Sätze voll tieferen Sinnes darin. Glaubst du denn, daß dich diese Bücher einmal weise machen?«

»Ich denke schon«, sagte ich.

»Und was lernst du aus diesen Büchern?« sagte sie wichtig und besah ein Buch nach dem anderen. »Eigentlich ist es sehr schade um dich. Du bist doch ein begabter Knabe, hast bereits Tsungyong gelesen, so viele Gedichte gelernt und sogar die Anekdoten von Yulgok abgeschrieben. Jetzt vergeudest du aber dein Talent mit solchen nutzlosen Dingen.« 89

Ozini war ein kluges Mädchen. Sie hatte viel gelesen, viele Anekdoten und viele Romane guten Stils, und sie führte ständig klassische Worte im Munde, die sogar meiner Mutter oft unbekannt waren. Man sagte, daß sie das klügste Kind von uns allen sei, und sie war auch die einzige Schwester, die mich oft tadelte. Sie fand meine Schrift schlecht und unordentlich und meine Sprache schmucklos. So wollte ich womöglich ein Gespräch mit ihr vermeiden.

»Die neuen Wissenschaften sind eben anders«, sagte ich schließlich doch, »da lernt man zum Beispiel, wie man Eisenbahnzüge baut, die Tausende von Meilen täglich fahren können. Man lernt, wie man die Entfernung des Mondes schätzt oder wie man die Kraft des Blitzes zur Beleuchtung benützt.«

»Darum bist du doch kein weiser Mann«, sagte sie besorgt.

»Es ist eine andere Zeit gekommen«, sprach ich weiter, »eine hellere nach unserem dunklen Schlaf. Ein neuer Wind hat uns aufgeweckt. Jetzt ist es Frühling nach einem langen Winter. So sagt man.«

Sie schwieg lange und hörte mich kaum an. »Wie weit ist denn eigentlich das Land, das man Europa nennt, von uns entfernt?« fragte sie.

»Das habe ich noch nicht gelernt, ich denke aber mehrere zehntausend Meilen.« 90

»Einst hatte sich die Prinzessin Sogun in ein blumenloses Land verheiratet. Ist das vielleicht dort?«

»Nein, das war bloß das Hunnenland.«

»Glaubst du, daß in Europa Blumen blühen wie die Lilien, Forsythien und Azaleen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Glaubst du, daß auch dort der Südwind weht, daß man im Mondschein beim Wein sitzt, um dichten zu können?«

»Das kann ich auch nicht bestimmt sagen.«

»Du weißt eigentlich gar nichts«, stellte sie enttäuscht fest. 91

 


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