Leo Leipziger
Mascotte
Leo Leipziger

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22. Kapitel.

Vergib uns unsere Schuld.

Wahrendorff hatte die Nachricht von der Verhaftung mit großer Seelenruhe hingenommen, um so mehr, als nichts in die Öffentlichkeit gedrungen war. Er spielte mehr denn je, kümmerte sich nur wenig um Anna und unternahm wiederholt kleine Reisen nach Paris und London, um dort die zahlreichen Verluste wieder einzuholen, welche er in den letzten Monaten in Berlin erlitten. Sein elendes Aussehen, die verstörten, übernächtigten Züge, seine Nervosität ließen darauf schließen, daß er auch bei seinen auswärtigen Gastspielen keine Seide gesponnen hatte.

Anna widmete sich mit rührendem Eifer ihrem neuen Berufe, und der Erfolg war nicht ausgeblieben. Durch fleißige Arbeit und emsiges Schaffen suchte sie die Sorgen zu verdrängen, welche das Schicksal ihrer Familie ihr verursachte. Denn wie ein Unglück selten allein kommt, hatte auch Ede beim Militär traurige Erfahrungen gemacht. Nachdem er sich im Dienste einen Ungehorsam gegen den Vorgesetzten hatte zuschulden kommen lassen, war er aus Furcht vor Strafe desertiert. Er war jedoch gefaßt worden, und das Kriegsgericht hatte ihn zu einer mehrjährigen Festungsstrafe und Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes verurteilt. –

Anfang Januar fand dann vor der Strafkammer die Verhandlung gegen Frau Hanke mit Ausschluß der Öffentlichkeit 158 statt. Da die Angeklagte den Tatbestand unumwunden zugab, wurde von einer Zeugenvernehmung Abstand genommen. Das Urteil lautete auf zwei Jahre Zuchthaus und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf zwei Jahre.

Mit heroischem Gleichmute hatte Anna das Geschick der Mutter und des Bruders hingenommen. Sie wußte und fühlte in ihrem Herzen, daß sie alle zum Leiden bestimmt waren, und nur der eine Gedanke beseelte sie mit täglich wachsender Kraft, ihrer Schwester eine bessere Zukunft zu verschaffen, als ihnen beschieden war. Sie blickte mit klaren Augen auf die Vergangenheit zurück und verhehlte sich keinen Augenblick, daß nur dieses schuldlose Kind ein Recht auf ein Glück habe, das die anderen drei durch zahlreiche Fehltritte verwirkt hatten.

Wahrendorff stand den traurigen Ereignissen in Annas Familie apathisch gegenüber, denn seine Situation wurde von Tag zu Tag kritischer. Das Glück hatte ihm endgültig den Rücken gekehrt, und er befand sich in dem traurigen Stadium, in welchem es bereits besonderer Anstrengungen bedurfte, um die verlorenen Gelder innerhalb der vorgeschriebenen vierundzwanzig Stunden zu beschaffen. Er verhehlte sich keinen Augenblick, daß Anna ihm durchaus nicht von Herzen zugetan war, und seine Leidenschaft zu ihr wuchs in dem Maße, als die Furcht, mit seinem Vermögen die Geliebte zu verlieren, Platz griff. Auch seine Gesundheit war erschüttert.

Die mißbrauchten Nerven versagten den Dienst, und die krankhaften Erscheinungen, welche Überreizung und Überanstrengung zu erzeugen pflegen, machten sich geltend. Das verkehrte Leben, welches er Jahre hindurch geführt hatte, begann die traurigsten Folgen zu zeitigen, und die Minen, welche er seiner Kraft und Stärke selbst gelegt, waren so weit gediehen, um das Werk der Zerstörung zu vollenden.

159 Im Klub war das Mißtrauen gegen ihn, welches der Sieg Anitas hervorgerufen, in stetem Steigen begriffen und hatte immer neue Nahrung erhalten.

Noch vor wenigen Monaten hatte er gemeinsam mit zwei Offizieren an einem Jeuabend in seiner Privatwohnung einem jungen Fabrikbesitzer eine so enorme Summe abgenommen, daß der Unglückliche in Konkurs geriet und froh gewesen war, von den Gläubigern als Beamter in seinem früheren Besitz belassen zu werden. Die beiden Offiziere waren mit schlichtem Abschied entlassen worden, und Wahrendorff war die Schande widerfahren, daß, als er wenige Tage nach diesem Vorfalle in einem der vornehmsten Klubs an einem Pokertische Platz nehmen wollte, die übrigen Mitspieler aufstanden und er allein sitzen blieb.

Die Folge davon waren einige unblutige Pistolenduelle, aus welchen Wahrendorff zwar als Kavalier, nicht aber als Ehrenmann hervorgegangen war.

Um sein Glück auch nach anderer Richtung hin zu versuchen, hatte er sich, entgegen seinen früheren Prinzipien, zu gewagten Börsenspekulationen verleiten lassen. Er war eine riesige Baisse-Spekulation in Kreditaktien eingegangen, in dem klaren Bewußtsein, falls das Geschäft fehlschlug, die Differenzen nicht bezahlen zu können.

So war der Ultimo des Monats Januar herangekommen, und da auf der Operation schon ein beträchtlicher Verlust lag, weigerte sich der Bankier, ohne Deckung das Engagement zu prolongieren, und drohte mit Exekution. Noch vierundzwanzig Stunden hatte er vor sich, um seinen Verpflichtungen zu genügen, ohne daß es ihm gelungen wäre, ein Mittel zur Beschaffung der nötigen Kapitalien zu finden. Die Wucherer, welche ihm früher bereitwillig die größten Summen geliehen und ihre zwischen 70 und 100 Prozent schwankenden Zinsbeträge stets glücklich eingeheimst hatten, weigerten sich, ihm 160 die geforderte Summe vorzustrecken. Sie schützten die schlechten Zeiten, die hierdurch entstandenen zahlreichen Ausfälle und Mangel an Barmitteln vor, so daß Wahrendorff auch hier unverrichteter Dinge abziehen mußte. Die Pferde seines Rennstalls waren schon längst für Spielschulden verpfändet, die für Anna in seiner guten Zeit hinterlegten 100 000 Mark ohne ihr Wissen abgehoben, und in seinem Portefeuille befanden sich noch fünf Tausendmarkscheine, der letzte Überrest der ererbten Millionen. – – –

Unsicheren Schrittes schwankte Wahrendorff seiner Wohnung zu. Er legte sich auf den Diwan nieder und suchte zum erstenmal in seinem Leben die Zukunft mit Ruhe und Überlegung zu bedenken. Aber seine Gedanken verwirrten sich, und die abenteuerlichen Pläne, welche sein Hirn durchkreuzten, nahmen keine greifbare Gestalt an. Nur das eine leuchtete ihm ein, daß er unbedingt mit Anna sprechen und ihr seine verzweifelte Situation auseinandersetzen müsse. Mit tiefem Seufzen entschloß er sich, den schweren Schritt sofort zu tun.

Er fand Anna in ihrem Boudoir, in die Rolle vertieft, welche sie am Abend zum erstenmal spielen sollte, und bei seinem Eintritt runzelte sie die Stirn über den ungelegenen Störer. Mit liebenswürdiger Miene schritt er auf sie zu, küße ihr galant die Hand und bat sie um eine kurze Unterredung. Anna bemerkte sofort, daß die anscheinende Ruhe Wahrendorffs nur erkünstelt war, und begriff, daß sie ernste Dinge zu hören bekommen würde.

»Du siehst schlecht aus,« sagte sie, »die Nachtluft im Klub scheint Dir nicht mehr zu bekommen und Du tätest gut daran, Deine fleißige Arbeit etwas einzuschränken.«

»Du hast den Moment zum Spotte nicht günstig gewählt, Anna. Das, was ich Dir zu sagen habe, ist für uns von weittragender Bedeutung, und Deine Zukunft wie die meinige 161 hängen von der Entscheidung ab, welche in wenigen Minuten hier in diesem Zimmer fallen wird.«

»Du fängst an, mich zu interessieren,« lachte Anna höhnisch. »Ich habe Dir dieses Kompliment, seitdem wir uns kennen, nicht oft machen können.«

»Da Du nicht zu den Frauen gehörst, liebe Anna, welche die charakteristische Furcht Eures Geschlechts besitzen, so brauche ich Dich nicht schonend auf das vorzubereiten, was ich Dir sowieso nicht vorenthalten kann. Ich bin ruiniert

»Endlich!« rief Anna aus.

»Wie meinst Du das!?«

»Wie ich das meine? – Sehr einfach! Seit ich Dich kenne, warte ich auf den Moment, wo Du mir diese Mitteilung machen wirst, und bin außerordentlich erstaunt und voll Bewunderung für Deine Tüchtigkeit, da Dich erst heute dieser längst zu erwartende Schicksalsschlag getroffen hat.«

»Und nun? Wie denkst Du Dir unsere Zukunft?!«

»Unsere Zukunft?!« lachte Anna höhnisch auf. »Unsere Zukunft?! Aber, mein Lieber, was geht mich unsere Zukunft an? Meine Zukunft ist ja gesichert. Ich habe, wie Du weißt, Vermögen und überdies eine hübsche Stellung. Und Du, Du wirst schon wieder jemanden finden, der ordentlich Champagner trinkt und dann mit Dir Karten spielt.«

»Du irrst, Anna! Du hast kein Vermögen mehr. Ich weiß, daß ich schimpflich gehandelt habe, als ich das Geld zu meinem Nutzen verwendete, aber ich tat es in der leider jetzt fehlgeschlagenen Hoffnung, es Dir dereinst mit Zinsen wiedergeben zu können.«

»Herrlich, wunderbar!« rief Anna aus, indem sie aufsprang und in die Hände klatschte. »Dann habe ich ja Dir gegenüber gar keine Verpflichtung mehr. Du bringst mich 162 nur um das angenehme Gefühl, daß ich mich im Glanze meiner Großmut sonnen wollte.

Aber ich vergaß! Etwas kann ich noch für Dich tun.«

Und damit eilte sie an ihr Wandschränkchen, holte die Kassette mit dem prächtigen Schmuck hervor und stellte sie vor Wahrendorff hin.

»Hier, mein Bester! Du kannst dies um so ruhiger zurücknehmen, als ich Dir die Versicherung gehe, daß ich das Zeug nur mit Widerwillen getragen habe. Denn diese Perlen bedeuten wirklich Tränen! Tränen der Familien über die verlorenen Söhne, welche mit Herrn Wahrendorff Karten gespielt haben und jetzt in Amerika als Kellner ihren Leichtsinn büßen.«

»Du bist hart, Anna, ungerecht und – undankbar.«

»Undankbar? Nennst Du den Diener undankbar, welchen Du besoldet, der Dir seine Dienste gewidmet und der sich sodann ein unabhängige Stellung gründet?

Habe ich Dir je gesagt oder gezeigt, daß ich Dich liebe?!

Du warst ein vornehmer Lebemann, Du hattest schöne Pferde, trankst die besten Weine, trugst die eleganteste Kleidung und brauchtest eine schöne Mätresse. Solange Du diese Dinge bezahlen konntest, warst Du in der Lage, sie Dir zu beschaffen, und jetzt, mein Freund, mußt Du eben in Deinen Ansprüchen an das Leben bescheidener werden.«

»Höre mich an, Anna! Du weißt nicht, was Du sprichst. Unsere Zukunft kann sich noch glänzend gestalten. Entsage Deiner Theaterlaufbahn und folge mir nach Paris. Dort treten wir als Mann und Frau auf. Ich kenne aus Nizza und Monte Carlo viele und reiche Kavaliere. Sie werden uns besuchen und unterstützen, und Du wirst sehen, daß uns am Strand der Seine das Glück wieder lächeln wird.«

Ein gellendes Lachen war die Antwort, so höhnisch und grausam, daß ein Schauer den unglücklichen Spieler durchfuhr.

163 »Das ist ein treffliches Plänchen! Monsieur de Wahrendorff und Frau geben sich die Ehre, Herrn Baron X. und Herrn Grafen Y. zum Diner einzuladen. Man kommt gern, denn es ist bekannt, daß man in diesem Hause vorzüglich ißt und trinkt, daß die Frau des Hauses reizend ist, und daß der Herr Gemahl ihr auf das eindringlichste eingeschärft hat, zu den Habitués von einer hingebenden Liebenswürdigkeit zu sein.

Nach Tische wird ein Spielchen gemacht, die Frau Baronin animiert und berauscht mit ihrer Schönheit die reichen Dummköpfe, welche die Gimpel bilden. Und das Ganze nennt man einen Tripot. Der Herr Baron sind ein Falschspieler und die Frau Baronin, seine Geliebte, ist die Schlepperin. Wenn die Polizei sich in die Sache mischt, und dem Pärchen der Boden zu heiß wird, versucht man dasselbe Manöver in einem anderen Städtchen, und nach kurzer Zeit prangen in dem Verbrecher-Album der großstädtischen Polizeibehörden, Abteilung für Hochstapler, die wohlgelungenen Photographien von Monsieur de Wahrendorff und Frau . . . . 

Nein, mein Freund, nur Du bist so tief gesunken, um solche Pläne zu schmieden. Hier trennen sich unsere Wege. Ich besitze den bedauerlichen Ehrgeiz, mich von jetzt ab anständig durchs Leben zu schlagen, und für Dich kann es wirklich herzlich gleichgültig sein, auf welche Weise Du zugrunde gehst.«

Wahrendorff zitterte am ganzen Leibe vor Wut. Er sprang auf seine Geliebte los, packte sie an den Haaren, und mit den Worten: »Dirne, da hast Du, was Dir gebührt,« schlug er ihr mit der geballten Faust ins Gesicht.

Mit einem leisen Seufzer sank Anna ohnmächtig zusammen.

164 Als Wahrendorff das schöne Weib hilflos auf dem Boden liegen sah, da war es ihm, als ob er mit dieser Tat den letzten Grad der Verworfenheit und Gemeinheit erreicht hätte. Er fühlte, daß die Verachtung, welche dieses gefallene Wesen ihm gezeigt, aus seinem Herzen den letzten Rest von Anstand und Scham herausgerissen hatte. Ohne Aussicht auf Rückkehr fühlte er sich für immer verloren.

Ihn packte der Zynismus der Verzweiflung.

Mit gieriger Hand griff er nach dem Schmuckkästchen, schob dasselbe unter den Arm und stürzte hinaus.


Etwa nach einer halben Stunde erwachte Anna aus ihrer Bewußtlosigkeit. Sie führte die Hand an den schmerzenden Kopf und brach in ein leises Klagen aus. Langsam und allmählich kehrte ihr Gedächtnis zurück, und sie fing an, sich immer bestimmter an die schreckliche Szene zu erinnern, welche sich soeben zwischen ihr und Wahrendorff abgespielt.

Merkwürdigerweise empfand sie weder Groll noch Haß gegen den Mann, der sie soeben gezüchtigt, und fragte sich, ob sie recht daran getan, den Verzweifelten noch mit Spott und Hohn zu überhäufen. Mit Wehmut und Reue dachte sie daran, daß sie es vielleicht gewesen, welche Wahrendorff zu einem unbesonnenen Schritt verleitet, und das Gewissen begann sich in ihr zu regen.

Er hatte ihre Mutter bei sich aufgenommen, für den Bruder gesorgt und ihr die Mittel zur Verfügung gestellt, der Schwester eine sorgfältige Erziehung angedeihen lassen zu können. Wenn ihn auch nicht die Großmut sondern die Leidenschaft für sie zu diesen Handlungen getrieben hatte, so war und blieb sie ihm doch zu Danke verpflichtet, und in dieser traurigen Stunde legte sie sich das offene und reumütige Geständnis ab, daß sie nicht edel an ihm gehandelt habe. Jetzt warf sie sich vor, daß sie den Einfluß, welchen sie über 165 ihn besaß, nicht zu dem edlen Rettungswerke gebraucht habe, den Unglücklichen aus den Klauen des Lasters zu befreien. Und der Gedanke, daß sie an seinem Untergange mitschuldig sei, tauchte immer greifbarer in ihrem Sinne auf. Ein unsägliches Mitleid erfaßte sie mit dem Armen, der ohne Halt, ohne Freund und Ratgeber an den Klippen des Lebens gescheitert war, und den sie nicht einmal vor dem Riff, dem er entgegentrieb, gewarnt hatte.

Ihr Leben schien ihr verwerflich und ihre Handlungsweise unentschuldbar. Sie gelobte sich, alles, was in ihren Kräften stand, zu tun, um das Geschehene wieder gut zu machen.

Sie fing an, einzusehen, wie falsch und trügerisch ihre Logik gewesen war: daß sie aus Liebe zu ihrer Schwester nimmermehr berechtigt gewesen sei, sich Wahrendorff hinzugeben, um dann so, wie sie es getan, an ihm zu handeln.

Was sie bis jetzt für gut gehalten, erschien ihr in diesem Augenblicke schlecht und egoistisch. Sie zweifelte an sich und ihrem Können und verwünschte das, was sie noch soeben für erstrebenswert gehalten. Ratlos lag sie da, und ihre starre Seele begann unter der heftigen Erregung ihres Gemüts zu schmelzen. Die beiden Worte, welche sie von Sylt aus an Dubski gerichtet, klangen ihr in den Ohren, und es war ihr, als ob das Schicksal den guten Vorsätzen, welche in ihrer Seele keimten, ein melancholisches »Zu spät!« entgegenriefe.

Von diesen Gewissensqualen gefoltert, schleppte sie sich auf den Knien zu dem Divan, begrub ihren Kopf in den Kissen und benetzte dieselben mit ihren Tränen. Ihr Schicksal und das Schicksal Wahrendorffs traten ihr in ihrer ganzen Bitterkeit vor die Seele, sie faltete die Hände und ihre Lippen murmelten inbrünstig: »Vergib uns unsere Schuld!« 166

 


 


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