Leo Leipziger
Mascotte
Leo Leipziger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

4. Kapitel.

Herr Schönlein.

Während sich die eben geschilderten Vorgänge abspielten, flanierte ein Mann die Neue Friedrichstraße zwischen der Königstraße und dem Amtsgericht I eifrig auf und ab. Die Glocke von dem nahegelegenen Rathausturm hatte eben die elfte Stunde geschlagen.

Der Nachtwandler sah nervös und blaß aus. Er mochte etwa dreiundzwanzig Jahre zählen, und sein Schnurrbart hatte es noch nicht weiter gebracht, als daß man den Eindruck hatte, vor einem schlechtrasierten Menschen zu stehen. Die kleinen, durch einen Kneifer verdeckten Augen zeigten etwas Schlauheit, aber noch mehr Tücke und Schlechtigkeit, und der fest zusammengepreßte Mund ließ auf Grausamkeit und Härte schließen. Seine Kleidung zeugte von falscher, fadenscheiniger Eleganz. Die grauen Hosen waren an ihrem unteren Ende zerzaust und zerfranst, während der weitausgeschnittene dunkle Rock ein Hemd sehen ließ, welches der Wäsche dringend bedurfte.

Der Träger aller dieser Herrlichkeiten war Herr Max Schönlein aus Breslau. Sein Vater betrieb daselbst in der Goldenen Radegasse das Geschäft eines Zuckerbäckers. Der Knabe zeigte von Jugend an viel Talent, und der ehrgeizige Erzeuger brachte ihn auf das Magdalenen-Gymnasium. Leider gingen Talent und Fleiß nicht Hand in Hand, und nach verschiedenen Karzerstrafen wurde eines Tages das consilium abeundi zur rauhen Wirklichkeit. Der 28 hoffnungsvolle Jüngling genoß trotzdem in der Familie weiter den Ruf eines hochbedeutenden und von seinen Lehrern leider verkannten Talents, ein Ruhm, welchen er dadurch zu erhalten wußte, daß er für den gesamten Bekannten- und Verwandtenkreis bei allen freudigen und traurigen Gelegenheiten höchsteigenhändige Reimwerke vom Stapel ließ. Wenn diese Leistungen auch keinen literarischen Wert hatten, so zeugten sie doch von einer gewissen Geschicklichkeit und einer nicht ungewöhnlichen Beherrschung der Sprache. Nachdem der alte Schönlein das Zeitliche gesegnet und dem einzigen Leibeserben ein kleines Vermögen hinterlassen, gelang es Herrn Max unter gütiger Mitwirkung einiger Freunde und Freundinnen, besagte Erbschaft in kurzer Zeit bis auf den letzten Pfennig durchzubringen. Bekanntlich lehrt die Not viel öfter beten als arbeiten, nicht selten aber auch stehlen. Und Schönlein stahl.

Da nach unseren Strafgesetzen die Not noch nicht als strafausschließend wirkt, so mußte der Dichter Max wohl oder übel seine sechs Monate Gefängnis absitzen. Nach diesem unangenehmen Abenteuer schüttelte er den Staub der gastlichen Zelle von den Füßen und begab sich in der Hoffnung auf sein Talent nach Berlin.

Nachdem er hier einige Monate hindurch bei einer Zeitung Lokal-Reporter-Dienste geleistet, zog er es vor, an dem Morgen eines Tages, an welchem die Portokasse revidiert werden sollte, freiwillig seine Stellung zu räumen. Darauf ließ er sich von einem Privat-Detektiv-Institut als Rechercheur engagieren. Aber auch hier verfolgte ihn das Pech. Es stellte sich heraus, daß er gegen den doppelten Betrag seiner Tageseinkünfte dem zu Observierenden die Pläne des Auftraggebers mit rührender Pünktlichkeit mitgeteilt hatte.

Augenblicklich war er bei einem Winkeladvokaten tätig, für den er in den Diebeshöhlen weniger bemittelte Verbrecher, 29 welche nicht imstande waren, sich zur Verteidigung einen ordentlichen Anwalt zu bestellen, als Kunden sammelte. Bei dieser Gelegenheit hatte er Herrn Eduard Hanke, Annas Bruder, kennengelernt und so innige Freundschaft mit ihm geschlossen, daß letzterer ihn sogar in den Schoß seiner Familie einführte.

Die Familie Hanke hatte die Ehre, einen so feingebildeten Herrn bei sich zu sehen, auf das allerfreudigste empfunden, und Schönlein ließ sich die Huldigungen der Mutter Hanke in dem Maße gefallen, als er dieselben dem Fräulein Anna selbst entgegenbrachte. Schon oft hatte er die Kleine vor Hunger und Schlägen bewahrt, sie auf ihren Ausgängen begleitet und ihr die herrlichsten Schilderungen von den Freuden und Genüssen dieses Lebens entworfen. Dankbar nahm Anna seine Wohltaten entgegen, willig lieh ihre ungesunde Neugier seinen beredten Schilderungen das Ohr, und mit ihrer angeborenen Schlauheit hoffte sie in Max Schönlein den Mann gefunden zu haben, der ihr bei ihren Zukunftsplänen nützlich und förderlich sein sollte. Seine lüsternen Absichten hatte sie bisher energisch zurückgewiesen, vertraute ihm aber trotzdem so vollkommen, daß sie ihm jedes Erlebnis und jedes Geheimnis mitteilte. So hatte sie ihm auch von der Begegnung mit Wahrendorff Mitteilung gemacht, und man kann sich denken, mit welcher Aufregung Schönlein, der hier ein gutes Geschäft witterte, dem Resultate von Annas Expedition entgegensah.

»Endlich,« rief er aufatmend aus, als Anna an der Ecke der Königstraße sichtbar wurde und mit schnellen Schritten auf ihn zukam.

Der Schweiß lief ihr von der Stirn, das Gesicht war purpurn gefärbt, und als sie Max die heiße Hand reichte, fühlte er die Pulse erregt schlagen.

30 »Da,« rang es sich gepreßt aus ihrem Munde heraus, indem sie in die Tasche griff und ihm eine Handvoll Banknoten und Gold hinhielt, »achthundert Mark. Allens for mir, allens for mir!«

Schönlein schwirrte der Kopf, aber eine Sekunde genügte, um ihm seine kalte Berechnung wiederzugeben; er fühlte, daß jetzt der Moment klugen Handelns gekommen sei, und er die Hand, welche das Glück ihr geboten, mit aller Energie zu ihrer beider Nutzen erfassen müsse. Während sie langsam zusammen nach dem Alexanderplatz zu schritten, blieb Max plötzlich stehen, und indem er Anna scharf fixierte, fragte er: »Wirst Du Deiner Mutter davon erzählen?«

»Wat Du denkst, ick jehe ja lieber in't Wasser! Damit die mir de Jroschens abnimmt und sich jute Dage macht.«

»Was willst Du denn sonst tun? Du hältst doch die Mutter nicht für so dumm, daß sie den Braten nicht merkt, wenn Anna sich plötzlich feine Sachen kauft und zu Hause keinen Appetit zum Essen hat? Vergraben kannst Du den Schatz doch auch nicht – oder« – fügte er lauernd hinzu – »willst Du mir das Geld zum Aufbewahren geben?«

»Denn noch lieber Muttern, Herr Max« – versetzte Anna höhnisch, indem sie ihm einen Blick zuwarf so mißtrauisch und feindlich, daß Schönlein sich ärgerte, diese haarsträubende Dummheit begangen zu haben.

»Hör mal, Anna,« begann er nach einer Pause, indem er seinen Arm vertraulich unter den ihrigen schob, »Du weißt, daß ich es gut mit Dir meine und der einzige Mensch unter Deinen Bekannten bin, der ahnt, wie es in der Welt zugeht, und der Dir für die Zukunft nützlich sein kann.«

Anna nickte ernst.

»Nun, dann schlage ich Dir folgendes vor. Du gehst nicht zu Deiner Mutter zurück. Du ziehst mit zu meiner Wirtin nach der Linienstraße, wo noch ein Zimmer frei ist. Bei der 31 Polizei braucht sie Dich nicht anzumelden, das besorge ich schon. Ich gebe Dir täglich Unterricht, damit Du Dich fein und gebildet ausdrücken kannst, und als Entschädigung gibst Du mir zu essen und zu trinken. Wenn Du ordentlich Fortschritte gemacht hast, kaufst Du Dir feine Sachen, und dann wollen wir uns schon zusammen weiter durch Berlin durchschlagen.«

»Erst wollen wir mal eenen Schluck uff den Schreck drinken,« meinte Anna. »Ick habe zwar schon feinen Sekt im Magen, aber der Durscht nach dem Zeug is noch jrößer jeworden. Denn kennen wir uns die Sache ieberlejen.«

»Auch richtig,« meinte Schönlein, und beide zogen schweigsam nach der Linienstraße, wo sie in ein an der Straße belegenes Lokal eintraten, welches von Gesindel besucht wurde und schon oft von ihnen aufgesucht worden war. Der Wirt, ein ehemaliger Kriminalschutzmann, welcher entlassen worden war und hier seinen Broterwerb gefunden hatte, begrüßte die beiden mit verständnisinnigem Schmunzeln.

»Det is scheen, Herr Dokter, det se mir wieder beehren; juten Abend, scheenes Freilein, wie jeht's de werte Familie?«

Nach einem flüchtigen Händedruck und kurzem Kopfnicken, welches den zahlreichen Bekannten galt, die an den Tischen Platz genommen hatten, begaben sich die beiden in das reservierte Hinterstübchen, wo bald ein kühle Weiße und zwei Schnäpse vor ihnen standen.

Das ganze Lokal machte einen freundlichen und sauberen Eindruck und der unbefangene Beobachter hätte nie und nimmer gedacht, daß er sich in einer Verbrecherhöhle Berlins befinde.

Seit dem Erstehen von Neu-Berlin und der strengen Durchführung der baupolizeilichen Maßregeln hat die Poesie der Verbrecherkneipe erheblich an Romantik eingebüßt. Die 32 berüchtigten »Keller« sind so ziemlich verschwunden, die Eleganz der Restaurants hat sich auch auf diese Destillen übertragen, und gerade im »Scheunenviertel« kann man sich von dieser zeitgemäßen Umwälzung am ehesten überzeugen.

Nur die Bassermannschen Gestalten mit den geröteten Nasen und dem scheuen Blick, die beschürzten Dirnen ohne Kopfbedeckung aus der nahen Weydingerstraße, Vertreterinnen der allerniedrigsten Prostitution, lassen vermuten, daß man sich an einem Herde befindet, auf welchem die Bazillen der Sünde und des Lasters einen günstigen Nährboden finden.

Die beiden in dem Hinterzimmer befanden sich jetzt in lebhafter Unterhaltung. Der Weißen und den Schnäpsen war eine Flasche Rotspon gefolgt, und Max ließ dem Strome seiner lügnerischen Beredsamkeit freien Lauf.

»Siehst Du, Anna, heutzutage kann man nur vorwärts kommen, wenn man recht viel Geld hat und den Leuten ordentlich imponiert. Wer Pinke hat, vor dem nehmen sie den Hut ab, und wer keine hat, der gilt als ausgemachter Lump. Ich bin auch nur dadurch heruntergekommen, daß ich die andern für anständige Leute gehalten und gedacht habe, sie würden mich auch im Dalles nicht verlassen. Ja! Kuchen! Mit dem letzten Groschen waren sie futsch, und als ich aus dem Gefängnis kam, grüßte mich kein Mensch mehr. Aber« – dabei schlug er mit der Faust auf den Tisch – »ich will mich noch rächen und der Bande etwas zu knabbern geben, daß sie an mich denken sollen.«

»Det stimmt,« erwiderte Anna, »ick habe nu ooch jrade jenug an de Keile und ick sehe nich in, warum ick mir for die andern quälen soll. Un Sie sind ja een riesig jebildeter Mensch. Nee, wenn ick denke, det Sie keen Jeld haben, so een Mann, von dem sojar schon wat Jedrucktes in de Zeitung 33 jestanden hat« – und dabei blickte sie mit unverhohlener Bewunderung zu Max auf.

Dieser legte sein Gesicht in ernste Falten, seine Züge nahmen einen feierlichen Ausdruck an und mit erhobener Stimme versetzte er pathetisch:

»Du und ich, wir sind nicht dazu geboren, um in dieser Gesellschaft zu verkommen. Aus uns beiden kann noch etwas Großes werden, wenn Du meinen Rat befolgst und auf meine Vorschläge eingehst. Du hast vorhin von meiner Bildung gesprochen. Das war sehr richtig. Darauf sehen die Leute heutzutage, und darum mußt Du auch gebildet werden. Viel gehört nicht dazu, und helle, wie Du bist, werden wir das schon in ein paar Monaten fertig kriegen und dann raus auf de Linienstraße und rinn in Berlin W!«

Er füllte bei diesen Worten die Gläser, stieß mit Anna an und drückte ihr einen Kuß auf die Lippen, welchen diese erwiderte. Dann erhoben sie sich und gingen hinaus. Das Lokal war leer geworden, denn die Besucher waren entweder »auf Arbeit« gegangen oder suchten eine passende Stelle, um die schöne Sommernacht im Freien zu verbringen, und aus der Straße gingen die Dirnen ihrem Gewerbe nach.

Die vielen Getränke, der Gegensatz zwischen der Hitze der Kneipstube und der frischen Nachtluft erregten bei Anna Schwindel und Beklommenheit. Sie taumelte. Max faßte sie um die Taille und flüsterte ihr Liebesbeteuerungen in die Ohren. So kamen sie vor ein großes Haus, an dem zahllose Plakate möblierte Zimmer, Schlafstellen und leere Räume verkündeten.

Max holte den Hausschlüssel hervor, schob Anna in den Flur, und als die Türe knarrend wieder ins Schloß fiel, war auch diese Seele dem Teufel auf Erden verfallen. 34

 


 


 << zurück weiter >>