Leo Leipziger
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Leo Leipziger

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15. Kapitel.

Auf Reisen.

Unsere beiden Durchgänger waren die ersten Fremden, welche das prächtige Eiland an der Nordsee in jenem Sommer besuchten. Sie erfreuten sich daher des Vorteils, unbeobachtet ihr erstes Alleinsein mit vollen Zügen genießen zu können. Sie bewohnten das einzige Haus, welches, auf der Düne belegen, den Ausblick auf die schäumende See gestattet.

Anna sah zum erstenmal das Meer. Ihr von wirklicher Liebe bisher noch gänzlich unberührtes Herz war für die Schönheiten der Natur außerordentlich empfänglich, und das allgewaltige Meer drang mächtig auf ihre Sinne und ihre Gedanken ein. Sie konnte stundenlang dem Brausen der Wogen ihr Ohr leihen, den Wolkenzug verfolgen und den Flug der Möwen beobachten. Während Wahrendorff zu ihren Füßen lag und ihr Liebesworte zustammelte, welche der rasendsten Sinnenlust Ausdruck gaben, blickte Anna nachdenklich in die weite Ferne hinaus und hörte kaum die verliebten Tiraden ihres Beschützers. Am glücklichsten fühlte sie sich, wenn sie sich einige Stunden lang allein an dem wunderbaren Anblick der Natur weiden konnte.

Dann stieg sie wohl einsam zu einer hohen Düne hinauf und blickte träumerisch hinab auf die bewegten Wasser zu ihren Füßen. Der blaue Himmel mit goldigem Sonnenschein, der das nasse Element da unten mit tausend glitzernden Funken belebt, der den weißen Sand leuchten macht wie den Schnee in den Alpen und die Dünenspitzen glühend wie die 108 Ferner des Hochgebirges, war nicht das Bild, das sie besonders anzog, sondern die düstere, graue Seestimmung, wo Himmel und Wasser grau in grau zusammenfließen, wo Gischt und Brandung in grauem Staube emporspritzen und wo die graue Möwe ihre klagenden Hilferufe erschallen läßt. Wenn der Nordweststurm dann mit voller Gewalt zu ihr herüberbrauste, die Wasserberge emporsteigen und zurückfallen ließ, wenn die Flut mit Gewalt den Strand eroberte und triumphierend den weißen Sand mit ihrem Schaum benetzte, dann überkam sie ein seltsam wollüstiges Gefühl des Glückes, allein zu sein mit der großen Mutter Natur, und die Welt, die Menschen und ihr eigenes Schicksal vergessen zu können. Oder sie flüchtete vor Wahrendorffs Umarmungen nach jenem stillen, von einer einfachen moosbewachsenen Steinmauer umgebenen Fleckchen Erde, wo die armen Schiffer, welche in den Sturmwettern ertrunken waren und von einer mitleidigen Welle an das Gestade gespült wurden, zur letzten Ruhe gebettet sind. Dort, in der Heimat der Heimatlosen, überließ sie sich ihren Gedanken und Träumereien.

Und wenn die Sonne am Abend in majestätischer Pracht weit draußen in den Wassern verschwand, und die Wolken am Horizont einen goldig strahlenden Palast bildeten, mit Säulen und Türmen, wie das Walhall der nordischen Götter, dann zog durch ihr Herz eine belebende frohe Ahnung, daß es doch vielleicht auf dieser Welt ein Glück gäbe, ein wahres, dauerndes, liebliches Glück.

In solchen Stunden legte sie sich selbst Rechenschaft ab über ihr bisheriges Leben. Wenn sie an den traurigen Handel dachte, welchen sie mit ihrer Person trieb, dann übermannte sie das Gefühl des Ekels nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor jenen Männern, die zu ihren Füßen lagen, trotzdem sie ihnen täglich wiederholte, daß sie nicht liebe und nicht lieben könne. Wenn Wahrendorff sich ihr in solchen 109 Augenblicken mit lüsterner Zärtlichkeit näherte, dann konnte sie eine Wut übermannen, welche sie in ungeschminkten Worten zum Ausdruck brachte. Dann quälte sie ihn mit grausamen Launen, gab ihm ihre Verachtung offen zu erkennen und warf ihm ohne Beschönigung sein Lotterleben und seinen Schurkenstreich in Hamburg vor.

Je mehr sie ihm ihre Abneigung, ja ihren Haß zu erkennen gab, desto wilder aber entbrannte sein Leidenschaft, und er hätte kein Opfer gescheut, um selbst die wahnsinnigsten Launen Annas zu befriedigen. Auf ihren Wunsch verstand er sich dazu, vorläufig Berlin und ein Zusammentreffen mit Dubski zu vermeiden, den Winter auf Reisen zu verbringen und erst im Frühlinge des nächsten Jahres nach Hause zurückzukehren.

In den vornehmen Restaurants in Paris, im Café Londres zu Nizza, im Grand Hotel in Monte Carlo, überall erregte die schöne, junge Frau, welche sich so einfach und geschmackvoll zu kleiden wußte, und deren geheimnisvoll dämonische Augen die Männerherzen höher schlagen machten, die ungeteilte Bewunderung aller Kenner und Laien. Wahrendorffs zahlreiche Bekannte gratulierten ihm zu seiner schönen Begleiterin, und wenn dann seine Augen von befriedigter Eitelkeit und geschmeicheltem Selbstbewußtsein heller glänzten, empfand Anna desto mehr Widerwillen gegen den flachen Gesellen, welcher sie mit sich herumschleppte wie ein Korpsstudent seinen Renommierhund.

Und doch, das fühlte sie, es mußte ein Glück geben! Das kündeten ihr die blühenden Myrten und Orangen der sonnigen Riviera, das riefen ihr die gebräunten Pärchen entgegen, welche kichernd und plaudernd, küssend und scherzend am Golf von Neapel umherspazierten; das sagte ihr das junge Paar, welches sie zärtlich aneinander geschmiegt in einer Mondscheinnacht in Venedig in der Gondel traf; und 110 je größer ihre Sehnsucht nach Liebe wurde, desto intensiver gestaltete sich ihr Haß gegen den Mann, an den sie gekettet war, und der ihr nichts als Geld und Wohlleben zu bieten vermochte.

Solange sie mit Dubski gelebt hatte, war dieser Aufruhr ihres Innern um dessentwillen nicht zum Ausbruch gekommen, weil sie vor seinem ehrenhaften und anständigen Charakter volle Achtung hatte, weil er sie nie als Dirne behandelt, und sie nie als öffentliches Schaustück im Dienste seiner Eitelkeit vorgeführt hatte. Wenn sie auch keine Herzensneigung zu ihm empfand, so blickte sie doch mit Bewunderung zu dem erfahrenen und geistig bedeutenden Menschen auf, dem wohl Schwächen, aber kein Laster zu eigen waren.

Jetzt, in dieser neuen Situation, vibrierte in ihrem Herzen nur noch eine Saite, die Saite der Familienliebe. Ihrer Schwester Emmy schickte sie die schönsten Sachen, deren sie unterwegs habhaft werden konnte, den Bruder hatte sie instand gesetzt, als Vierjährig-Freiwilliger bei einem Kavallerie-Regiment einzutreten, und eine unbezwingliche Sehnsucht nach der Mutter hatte sich ihrer bemächtigt.

Sie dachte nicht mehr an die qualvolle, schimpfliche Behandlung, die ihr als Kind zuteil geworden, nicht mehr an die trostlosen Nächte, welche sie in der Dachkammer hungernd und durstend verbrachte, nicht mehr an die Schläge, welche sie nach unzulänglichem Streichholzhandel erlitten. Sie erinnerte sich einzig und allein nur daran, daß sie eine Mutter auf der Welt hatte, eine Genossin der traurigen Vergangenheit, eine Gefährtin für die sonnige Zukunft. Und so bat sie denn Wahrendorff, ihr zu gestatten, in Berlin bei der Mutter zu wohnen.

Der Verliebte war glücklich, seiner Anna einen Wunsch erfüllen zu können. Er ordnete an, daß ein hübsches 111 einstöckiges Häuschen in der Gegend des Tiergartens auf den Namen von Annas Mutter gemietet würde und von den bewährtesten Dekorateuren auf das prächtigste ausgestattet werden sollte. Anna war überglücklich, benachrichtigte ihre Mutter brieflich von dem Geschehenen und ließ sich zur Gegenleistung bereit finden, ihre Reise mit Wahrendorff im tête-à-tête noch weiter fortzusetzen.

Von Italien fuhren sie beide hinüber nach der ehemaligen Kornkammer Roms, und verbrachten herrliche Stunden bei dem freundlichen Wirte Timaeo in Taormina, dem schönsten Fleckchen Erde auf Sizilien.

Auch hier empfand Anna traurig die alte Wahrheit, daß alles das, was wir allein genießen, nur halb genossen ist. Selbst das Schönste dürfen wir nicht allein betrachten, um es in seinem ganzen Werte zu würdigen. Der Gedankenaustausch mit einem Wesen, das uns versteht, unsere Empfindungen begreift und mit uns fühlt, macht unsere Freude am Schönen in der Natur wie in der Kunst erst zu einer vollkommenen, und die Gemeinschaft zweier gleichgestimmter Seelen erzeugt den wohlklingenden Akkord der Harmonie der Geister.

Wahrendorff fühlte wohl, daß etwas Fremdes, Unüberbrückbares zwischen Anna und ihm lag. Mit der allen Spielern eigenen Nervosität suchte er daher einen Eindruck durch den andern zu verwischen, ein Bild durch das nächste zu töten und durch die Gewalt der Kontraste die Sinne zu berauschen.

In dieser Absicht schifften sie sich nach Tunis ein und statteten den halbverfallenen Palästen des Bey eine flüchtigen Besuch ab. Dann ging es weiter nach Algier. Immer sandiger, immer menschenleerer wurde die Gegend, immer glühender die Sonne, und nur die Stationshäuschen der Eisenbahn erinnerten an die moderne Zivilisation.

112 Gegen Abend langte man in El Cantara an, zu deutsch dem »Tor der Wüste«. Und als der Zug auf einer schmalen Schlucht, welche von Sanddünen eingefaßt war, hervorbrauste, blickte das entzückte Auge auf einen herrlichen Palmenhain, – El Cantara: die erste Oase. Bald ist Biscra, der südlichste Punkt der Bahn, erreicht, und trotz der dreißig Grad Wärme erquickt den müden Reisenden die herrliche reine Wüstenluft und der Anblick des weit ausgedehnten Palmenwaldes.

Der Mond war aufgegangen und ein wunderbarer Sternenhimmel wölbte sich über Biscra. Die reine Wüstenluft erregte die Fata Morgana, als ob man mit der Hand nach den Sternen greifen könne wie nach den Lichtern des Weihnachtsbaumes.

Unverwandt und entzückt blickte Anna zum Himmel empor. Ihr ganzes Wesen, ihr Herz und ihr Gehirn, ihr Blut und ihr Sinn, alles schrie nach Liebe.

»Lieber Gott,« so betete sie vor sich hin, »laß mich doch auch das zweite Element kosten, welches deinen Bau zusammenhält. Den Hunger hast du mich spüren lassen, lasse mich armes Menschenkind doch auch die Liebe begreifen und verstehen.«

Eine prächtige Sternschnuppe durchkreuzte das Firmament und verlöschte mit der hellen Glut eines Meteors.

»Hast Du Dir etwas gewünscht, kleine Träumerin?« fragte Wahrendorff.

»Ja,« erwiderte sie mit so strahlenden Augen, als ob sie es mit den funkelnden Sternen da droben aufnehmen wollte, »und jetzt glaube ich, es wird dereinst in Erfüllung gehen.« 113

 


 


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