Leo Leipziger
Mascotte
Leo Leipziger

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9. Kapitel.

Bei Hiller.

Wahrendorff ließ im allgemeinen die Sonne seiner Gunst über alle vornehmen Restaurants Berlins gleichmäßig strahlen, nur mit dem Unterschiede, daß er am Tage die vorderen und nachts die hinteren abgeschlossenen Räume bevorzugte. Der kleine, flinke Kellner, welcher unter dem Namen »der Herr Kommerzienrat« bekannt und beliebt ist, war daher weniger erstaunt als erfreut, die freigebigen Kavaliere noch zu der späten Nachtstunde bedienen zu dürfen. Sein kritischer Blick traf Anna und beim Herausgehen faßte er sein auf langjährige Beobachtungen fußendes Urteil in folgenden leise vor sich hingemurmelten Worten zusammen: »Ne nette Jöre, ville zu jung für den Herrn Baron, aber jutes Futter for Dubski. Der wird schon aus ihr wat Jeriebenes machen! Een geschickter Mensch!! Wo der bloß immer die neuen Nummern herkriegt.«

Während Dubski in Anna hineinsprach, welche in der neuen Umgebung weder ihre alte Vergnügtheit, noch ihren guten Appetit wiedergefunden hatte, und daher mehr den Eindruck einer Klosterfrau als einer Ballhausbesucherin machte, unterhielt sich die übrige Gesellschaft in lebhafter Weise über die neuesten Vorkommnisse auf literarischem Gebiete.

Die beiden Vertreter der öffentlichen Meinung waren durch Dubski mit Wahrendorff bekannt geworden. Der Pole hatte ihnen einen ziemlich hohen Kredit eröffnet, lud sie 60 zuweilen zu üppigen Gelagen ein, und verlangte nur dann einen Gegendienst, wenn er seine Schülerinnen vom Pfade der Tugend auf den Weg zur Bühne leiten und den jungen Novizen ein Engagement verschaffen wollte.

Die beiden Herren zählten zu den beliebtesten Journalisten der Residenz. Sie übten in zwei angesehenen Blättern verschiedener Parteirichtung die Theaterkritik aus und hatten sich im Westen Berlins einen stattlichen Familienverkehr zugelegt, wobei diejenigen Häuser bevorzugt wurden, deren gastronomischer Ruf fest und sicher begründet war. Ein großer Teil ihrer literarischen Tätigkeit konzentrierte sich denn auch auf die Beantwortung der zahllosen Einladungskarten, auf kleine poetische Gaben bei den Geburtstagsfeierlichkeiten der Damen und Töchter der gedachten Häuser und aus höchst bereitwillig gespendete Autographen für bis dahin durchaus reinliche Albums und Fächer.

In ihrer Kleidung vereinigten sie falsche Eleganz mit echter Geschmacklosigkeit, trugen zum Smoking helle Beinkleider und bunte, wallende Schlipse, ließen die Haare recht lang wachsen, um das Künstler-Exterieur zu wahren, und richteten sich in ihren kritischen Meinungs-Äußerungen echt menschlich nach persönlichen Freundschaften und Beziehungen. Im übrigen waren sie gute Menschen, welche in der langen Zeit von der Beendigung ihrer Schulbildung in der Untersekunda bis zur selbständigen Ausübung ihres Berufs so viel harte Entbehrungen bestanden und so viel trübe Erfahrungen gemacht hatten, daß man ihnen das Einlaufen in den glücklichen Hafen des gutgefüllten Magens wohl von Herzen gönnen konnte.

Beide waren klug und vorsichtig, hüteten sich, mit Stärkeren eine literarische Fehde anzuknüpfen, und kamen so nie in die Lage, den Schleier zu lüften, welcher ihre Talmi-Bildung und Ignoranz verbarg. Sie hießen Riedel und Roon, 61 letzteres eine wohlgelungene Abkürzung des ursprünglichen Namens Aron. Beide wurden stets mit Doktor angeredet, ein Kompliment an ihre Bildung, welches sie sich gern gefallen ließen, und auf welches sie um so weniger Anspruch hatten, als die einzige, wirklich von ihnen errungene Berechtigung die zum Einjährig-Freiwilligen-Dienste.

Riedel und Roon waren, der Richtung der von ihnen vertretenen Blätter getreu, der erstere konservativ, der zweite freisinnig. Da diese beiden Begriffe jedoch keinen Einfluß auf die Bearbeitung des Theaterteils haben, so verband sie eine herzliche und innige Freundschaft, welche so weit ging, daß der eine, wenn er einen neuen gastlichen Herd ausbaldowert hatte, auch dem andern diese Stätte eröffnete.

Diesem Kartell des Hungers entsprach auf der anderen Seite ein Kartell der Liebe. Sie protegierten gemeinschaftlich junge Künstlerinnen, welchen für die Befriedigung ihres Ehrgeizes kein Opfer zu klein war, und ließen vor Anmut und Schönheit das sogenannte redaktionelle Gewissen verstummen.

Soeben setzte Riedel den Herren seine Meinung über die an jenem Abend stattgehabte Première eines jungen Realisten auseinander, entsprechend der Kritik, welche er vor einigen Stunden zur Belehrung für die Zeitgenossen in Druck gegeben hatte. Er war mit der dramatischen Arbeit nicht einverstanden, konnte und durfte es auch nicht sein, weil darin die Berechtigung mancher sozialen Frage in einer geradezu empörenden Weise in allerlei geistvollen Ausfällen gegen die obersten Zwei- bis Dreitausend Ausdruck gefunden hatte. Roon dagegen hatte den festen Auftrag erhalten, das Werk unbedingt zu loben, weil der Autor der Protégé der Frau seines Chefredakteurs war.

Nachdem die Herren den Zuhörern ihre Meinungsverschiedenheiten in so warmen und beredten Worten 62 auseinandergesetzt hatten, daß für den Unbefangenen kein Zweifel an der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit ihrer edlen Männerüberzeugung bestand, mischte sich auch Doktor Reim, welcher seiner alten Gewohnheit gemäß zunächst die aufgetragene kalte Küche nach Gebühr gewürdigt hatte und die beiden Kunden vollständig durchschaute, ins Gespräch.

»Sehen Sie, meine Herren, das Unglück unserer Journalistik besteht darin, daß die Kritiken über ein neues Werk mindestens eine Woche zu früh erscheinen. Das große Publikum wird gehindert, selbständig zu denken und zu urteilen, wenn ihm von seinem Leibblatt sofort eine Direktive gegeben wird. Besonders,« fügte er mit einem kaum merklichen sardonischen Lächeln hinzu, »wenn das mit so viel Schärfe und Geist geschieht wie von Ihnen.

Überlaßt doch dem Publikum, ob es sich für die Realisten begeistern will oder nicht, und paßt Euch dann das Urteil der Zuschauer nicht, so könnt Ihr ja nicht nur dem Autor, sondern auch dem verderbten Geschmacke die Leviten lesen. Aber so – Clique, nichts als Clique und dazu Unbildung und Geschmacklosigkeit.

Das Bedauerliche bleibt jedoch dabei die Abhängigkeit der Theater von der Presse . . . Aber jetzt wollen wir uns auch einmal wieder mit dem kleinen Fräulein beschäftigen. – Lieben Sie die Realisten, Fräulein Anna?!«

Die Angeredete errötete über das ganze Gesicht und antwortete verlegen:

»Die Herren kenne ich nicht! Im Ballhaus scheinen sie jedenfalls nicht zu verkehren.«

Allgemeine Heiterkeit war die Folge dieses unfreiwilligen Aperçus. Anna stand wütend auf und sagte ärgerlich in weinerlichem Tone:

»Sie wollen feine Herren sein und uzen mir, ein armes Mädchen?! Jloben Sie vielleicht, det ick mir hier bei Ihrem 63 Quatschen amüsiere? Sekt jibt's in der Joachimstraße ooch. Darum brauchten Sie mir ja nich mitzunehmen. Und wat mein erstes Verhältnis war, der war ooch jebildet un hat für die Zeitungen jeschrieben. Aber der hat mir nie ausjelacht.«

»Wer war denn der glückliche Kollege?« fragte Riedel, nachdem sich der Sturm der Heiterkeit etwas gelegt hatte.

»Doktor Schoenlein,« erwiderte Anna stolz.

»Unbekannte Größe,« riefen Roon und Riedel. Und der letztere fragte ironisch: »Der schreibt wohl für die Deutsche Ballhauszeitung?«

»Is ja nich zu machen,« lachte Anna. »Er war früher in Breslau und lebt jetzt in Berlin.«

Nun mischte sich auch Dubski ins Gespräch.

»Bitte, meine Herren, ärgern Sie mir die Kleine nicht. Wir sind hier alle Gäste unseres lieben Wahrendorff, und als solche unterliegen wir keineswegs Ihrer geistvollen Kritik. Ich bin mit Jean Jacques Rousseau der Ansicht, daß wir alle schlecht von Natur sind, daß wir versuchen müssen, uns durch Selbsterziehung zu bessern, und daß wir vor allem an den Nebenmenschen die guten Seiten würdigen und schätzen sollen. Sehen Sie und bewundern Sie daher, wie graziös und nett unsere kleine Dame die Honneurs des Kaffees und der Liköre macht.«

Und zu Anna gewendet, fuhr er fort:

»Wenn Sie, liebes Kind, sehr klug sein wollen, und mit einem Schlage das Herz unseres boshaftesten Freundes, des Dr. Reim, gewinnen möchten, so gebe ich Ihnen einen guten Rat: Schmieren Sie ihm mit Ihren wohlgeformten Händchen ein fettes Brötchen.«

»Aha,« brummte Reim, »Heloise hat ihren Abailard gefunden.«

64 Anna entledigte sich ihrer Aufgabe mit solch überraschender Grazie, daß Riedel und Roon ganz entzückt waren. Jeder nahm eine Hand Annas in die seinige und versprach, falls sie sich einmal der Bühne widmen wollte, ihr mit voller Uneigennützigkeit stets und gern zu Diensten sein zu wollen.

Mit einem vergnügten »Auf Wiedersehen« trennte sich die Gesellschaft, und Dubski bat Anna um die gern erteilte Erlaubnis, sie nach Hause begleiten zu dürfen.

Auf der weiten Droschkenfahrt nach ihrer vor dem Halleschen Tor belegenen Wohnung setzte Dubski ihr auseinander, welche Pläne er für die Zukunft mit ihr vorhabe. Er legte ihr dar, daß er entschlossen sei, für sie zu sorgen, und daß er außer etwas Freundschaft nichts weiter von ihr verlange als redlichen Fleiß, damit sie diejenigen Kenntnisse erwerbe, deren Aneignung ihr in der ersten Jugend leider versagt war.

Anna versprach alles, ohne recht an die Verwirklichung der in Aussicht gestellten Herrlichkeit zu glauben. Wie oft hatte sie schon sekt- und liebestrunkene Männerlippen in ihrer kurzen Hetärenlaufbahn ganz ähnliche Worte stammeln hören, und nach vierundzwanzig Stunden flüchtigster Bekanntschaft war immer alles aus gewesen. Was ihr jedoch imponierte und einigermaßen Glauben einflößte, war, daß Dubski, entgegen allen ihren bisher auf ihren Heimfahrten gemachten Erfahrungen, kein Wort von Liebe sprach, durchaus nüchtern war und nicht den geringsten Versuch machte, ihr auch nur den kleinsten Kuß aufzudrängen. Dieses Erstaunen erreichte seinen Gipfel, als Dubski das Haus aufschloß, Anna auf den nächsten Tag zum Frühstück in ein Restaurant einlud und, nachdem er einen Kuß auf ihre Hand gedrückt hatte, die Droschke wieder bestieg und verschwand.

»Entweder ist der Kerl verrückt oder mächtig anständig,« murmelte sie, als sie langsam die Treppe hinaufstieg.

65 Die letztere Anschauung gewann jedoch die Oberhand, als sie in ihrem Zimmer den Kommodenschlüssel aus ihrem Täschchen hervorzog und fünf Hundertmarkscheine in dem letzteren vorfand. – – –

Dubski kehrte in rosiger Stimmung nach seiner Wohnung in die Dorotheenstraße zurück. Sein treuer Diener Brenke, ein braver Litauer, welcher für seinen Herrn durchs Feuer ging und dessen Eigenheiten genau kannte, bemerkte trotz seiner Schlaftrunkenheit die heitere Laune seines Gebieters.

»August,« sagte Dubski lächelnd, »von morgen ab hast Du wieder eine gnädige Frau.«

Brenke schmunzelte und freute sich über die langentbehrte Vermehrung der Familie. Er wußte aus Erfahrung, daß er sich der neuen Gebieterin unentbehrlich machen konnte, und daß dann so manches für ihn abfiel, wonach sein Herz sich sehnte. Somit waren alle drei direkt und indirekt beteiligten Personen mit der Wendung der Dinge außerordentlich zufrieden, und ein jeder von ihnen sah mit Spannung und Vergnügen der Zukunft entgegen. 66

 


 


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