Leo Leipziger
Mascotte
Leo Leipziger

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1. Kapitel.

Im Klub.

In einer Seitenstraße der Linden, welche diesen einzigen Boulevard Berlins mit der Dorotheenstraße verbindet, steht ein vornehm aussehendes einstöckiges Gebäude. Die gardinenlosen Fenster und die allnächtlich bis zum späten Morgen vor der Haustür haltenden Droschken lassen vermuten, daß das vornehme Palais nicht zum Wohnen bestimmt ist, sondern anderen Zwecken dient.

An einem Julimorgen des Jahres 188x bot das geschilderte Haus das gewohnte Bild, nur mit dem Unterschiede, daß die Droschkenkutscher in lebhaft erregtem Tone ihrem Unmute Ausdruck gaben, weil sich immer noch kein 6 Fahrgast blicken ließ, trotzdem die Turmuhr der nahen Dorotheenstädtischen Kirche schon die fünfte Morgenstunde geschlagen hatte. Auch der brave langbärtige Portier mit der goldbetreßten Mütze wußte keine Auskunft zu geben.

»Det muß heute 'ne dolle Nummer oben sind,« meinte er achselzuckend. »Noch keener is wieder 'rausjejangen. Denn sind se alle anjeschossen! Der holländische Baron, der vorjestern anjekommen ist, wird se wohl alle scheen hochjenommen haben.«

Die Ahnung des biederen Türhüters war nur zu begründet. In dem großen, prächtigen Saale des ersten Stockes stand dicht gedrängt um den Ecarté-Tisch eine reiche und vornehme Gesellschaft. Durch den furchtbaren Nervenreiz waren die Gesichter der Herren gerötet, und sie folgten den Peripetien des Spiels, während die Hände krampfhaft die knöchernen Jetons umklammerten, welche die Fünfhundert- und Tausend-Markscheine repräsentierten. Eine kleine Schar Leidtragender, welche nichts mehr zu verlieren hatte, war klug genug gewesen, den erfolglosen Kampf mit dem Glück aufzugeben, und unterhielt sich in dem prächtigen, nach der Straße zu belegenen Bibliothekzimmer über die Vorgänge des Jeus. Mit der philosophischen Ruhe, welche alten Spielern nach geschlagener Schlacht zu eigen, mit dem stoischen Gleichmut, welcher das beste Kennzeichen für ausgebrannte Taschen bildet, erwog man die Chancen des Abends hin und her und schmiedete Pläne für die Strategie des nächsten Treffens.

Der dicke Anwalt Dr. Ferdinand Reim, der Vertraute aller Schauspielerinnen, der Ratgeber aller Niedergebrochenen, stützte sein behäbiges, bartloses Gesicht nachdenklich auf die eine Hand, während er mit der andern auf der vor ihm stehenden Schüssel mit belegten Brötchen eine verheerende Razzia abhielt.

7 »Omnia mea mecum porto,« dieses Wort entrang sich seinem kauenden Munde, indem er mit liebenswürdigem Lächeln zwei Fünfzigpfennigstücke aus der Weste hervorholte. »Kommt da ein fremder Mann, den keiner kennt, aus dem Lande der Tulpenzwiebeln und führt gleich einen so lustigen Krieg mit uns aus, daß kein Auge trocken bleibt. Was brauchen wir den fliegenden Holländer auch hier 'reinzulassen?! Eigentlich ist es doch vollständig genügend, wenn wir Bekannte uns gegenseitig das Geld abnehmen, dann bleibt es wenigstens in der Familie und kommt vielleicht einmal wieder zum Absender zurück.« Sprach's und führte ein neues Brötchen an den Mund.

»Pardon, mein Lieber,« erwiderte Gras Klitzow, ein älterer Herr von aristokratischem Aussehen und tadellosen Allüren. »Der Mann spielt durchaus fair und nobel. Wenn Sie natürlich immer auf den coup de trois ausgehen, dann sind Sie von vornherein absolut aufgeschrieben. Mir tut bloß der kleine Wahrendorff leid, der arme Kerl hat ein zu mörderliches Pech. Wenn das so weitergeht, wird die Riesenerbschaft wohl auch nicht lange reichen. Vorige Woche der Anschuß in Hamburg und die drei letzten Tage hier, das kann der stärkste Mann nicht auf die Dauer aushalten. Sagen Sie mal, Herr von Ostrowski, Sie sollten den armen Jungen doch etwas in Ihre Schule nehmen. Sie gewinnen immer, und der arme Kleine tut stets das Gegenteil.«

Der Angerufene, ein polnischer Edelmann, verbeugte sich mit der seinen Landsleuten eigenen, eleganten Verbindlichkeit.

»Erstens, verehrter Herr Graf, gewinne ich nicht immer. Aber da ich nicht mehr in der Lage bin, viel zu verlieren, und meine Verwandten definitiv und unverrückbar die einstimmige Resolution gefaßt haben, mit mir nur noch gesellschaftlich, aber nicht mehr finanziell zu verkehren, so gehöre ich zu jenen notleidenden Spielern, welche nur kleine 8 Gewinne erzielen können und noch viel kleinere Verluste ertragen dürfen. Auch ich habe einst mit Krone, Zepter und Schwert gespielt. Nachdem ich aber diese Insignien verjubelt habe, begnüge ich mich jetzt damit, in dem Kartenhaus-Theater, wo ich früher erste Rollen spielte, in der Komparserie tätig zu sein. Meine Dummheit kehrt täglich in der Person anderer wieder. Hierdurch habe ich die angenehme Genugtuung, stündlich zu erleben, daß mit mir das Geschlecht der Esel auf der Erde nicht ausstirbt. Wann haben Sie heute früh Termin, Reim? – Wollen wir zusammen zum Rennen fahren?«

»Vobis dictum, Ihnen gesagt, Herr von Ostrowski,« brummte der Anwalt, »von zehn bis zwei hab' ich auf dem Gericht zu tun, und dann darf ich heute die Sprechstunde nicht versäumen. Wahrendorff wird mit tödlicher Sicherheit erscheinen, um die Veräußerung diverser Parzellen seines Grundbesitzes mit mir zu besprechen, welche der heutige Abend wieder einmal notwendig gemacht hat.«

Der erste volle Sonnenstrahl fiel jetzt in das Zimmer und ließ die übermüdeten Gesichter der Herren noch gelber und abgespannter erscheinen.

»Also die letzten drei Partien,« sagte der alte Baron Newstraaten, welcher an der einen Seite des Tisches saß und die Chouette gehalten hatte. In kleinen Kästchen lagen die Marken bei ihm aufgehäuft, und die schwachen Sätze der Gegner bewiesen, daß diese nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu verlieren hatten.

Es mochten etwa dreißig Personen sein, welche die Nacht beim Kartenspiel durchwachten, gereifte Männer und junge Leute, Bankiers, Diplomaten, gewesene und gegenwärtige Theaterdirektoren, Offiziere, sowie solche, welche das, was sie von ihren Vätern ererbt, nicht erwerben wollten, um es 9 zu besitzen, sondern vergeudeten, um sich einen angenehmen Nervenreiz zu verschaffen.

Der gewohnheits- und gewerbsmäßige Spieler ist ebenso der willenlose Sklave seiner Leidenschaft wie der Opiumraucher und der Morphinist. Ihn beherrscht ja allein die wilde Passion des Spiels, und um ihr zu frönen, opfert er Gesundheit, Freiheit, Familie und selbst die Ehre.

Der junge Lebemann, welcher diesem Laster verfallen ist, kennt nur eine Mätresse, deren Rendezvous er unbedingt einhält: die Karte.

Alle Gefühle, welche sonst die Menschenbrust seiner Altersgenossen bewegen, gehen spurlos an ihm vorüber, und er vermag nicht, ein anderes Regen in sich aufkeimen zu lassen.

Vergeblich wartet die Frau auf den Gatten, vergeblich harren die Kinder ihres Vaters. Alle Beteuerungen und Schwüre, welche zuweilen in der augenblicklichen Reue über den Verlust ernst gemeint sein mögen, zerflattern, sobald die erste Versuchung und Verlockung wieder herantritt.

Und diese Lüge des Daseins erscheint um so verwerflicher und grotesker, als ihr scheinbar äußere Vornehmheit, erzwungene Ruhe und die gentlemanlike Korrektheit gegenüberstehen.

Nur scheinbar!

Diese Korrektheit gilt dem Laien gegenüber als das staunenswerte, prächtige Prunkgewand der Ehre, während der Eingeweihte durch die Falten die schwarze Sittenverderbnis mit Sicherheit erkennt.

Ja, dieser merkwürdige Ehrbegriff der Spieler! Sie fürchten nicht, ihre Brust der Pistole preiszugeben, wenn es dem ebenbürtigen Feinde einfällt, sie durch eine hingeworfene Bemerkung in ihrem Ehrbegriffe auch nur zu ritzen, und auf der andern Seite treten sie alles mit Füßen, was die bürgerliche Moral als anständig und ehrenhaft bezeichnet. Sie 10 verfallen auf die elendesten Manöver, um ihre Spielschulden zu bezahlen oder nicht zu bezahlen. Was schert sie Weib, was schert sie Kind, wenn sie nur ihren Nerven die wohlige Aufregung verschaffen können.

Dort der Herr mit kahlem Kopf und kleinem Schnurrbärtchen, ein jugendlicher Greis, entstammt einer bekannten österreichischen Industriellen-Familie. Er ist Baron, und dies gibt ihm das genügende Relief, um sich auf Kosten seiner bürgerlichen Mitspieler, denen er selbstverständlich bare Darlehn und Spielverluste schuldig bleibt, einen Kammerdiener halten und den grand seigneur spielen zu können. Dasselbe gilt von jenem hübschen à la suite gestellten Offizier mit schwarzem Schnurrbart. Er gewinnt und zieht das Geld ein, er verliert und bleibt es schuldig. Dafür aber gibt er den Gerupften die Genugtuung, daß er als Sprosse eines alten Geschlechts Arm in Arm mit dem Parvenu auf dem Rennplatz erscheint und der aufgeputzten und geschminkten Gattin seines Freundes in der Loge Ritterdienste leistet. So arbeiten sich unanständige Gesinnung, falsche Eitelkeit und Protzentum gegenseitig in die Hände und das Ergebnis ist ein Teil jener oberen Zehntausend, welche der Bourgeois und der Mann aus dem Volke mit unverhohlener Bewunderung betrachtet.

Wieder hatte Baron Newstraaten eine Partie gewonnen und machte immer noch nicht Miene, seinen vom Glück so begünstigten Platz zu verlassen.

»Nun, meine Herren,« fragte er lächelnd, »keinen Mut mehr?« Und dabei blickte er einen hübschen Herrn von martialischem Äußeren an, welcher einstmals Gardes du Corps-Offizier gewesen, dann an einem ausländischen Seestrande Badedirektor geworden und es jetzt seines echten, alten Grafentitels, seines vornehmen Aussehens und der trefflichen Manieren wegen zu einem geschätzten Mitgliede 11 des Klubs gebracht hatte. Niemand zweifelte an seinen liberalen Anschauungen, welche er dadurch betätigte, daß er nicht wie seine früheren Standesgenossen nur am Spieltisch mit den Herren verkehrte, sondern auch an den intimen Diners der Geldaristokratie in der Tiergartenstraße teilnahm.

Der Angeredete sagte verlegen: »Wenn Sie gestatten, Herr Baron, so sage ich Ihnen tausend Mark an.«

Newstraaten nickte gewährend, denn er wußte zwar, daß er im Falle des Gewinnes das Geld nicht bekommen, andererseits aber das Beispiel nicht ohne Nachahmer bleiben würde. Und so geschah's. Von allen Seiten klapperten die knöchernen Marken auf den Tisch, und die Nichtadligen, die Barone von Gnaden eines kleinen Herzogs, deren Bestätigung in Preußen immer noch auf sich warten ließ, alle folgten dem Vorgange des ahnenreichen Aristokraten.

Inzwischen lief der Haushofmeister in seinen Escarpins hüstelnd hin und her. Der Baron verstand den Wink und drückte ihm hundert Mark in die Hand, worauf sich der Beschenkte wieder in seinen Schlafwinkel zurückzog.

Man pflegt den Spielern großmütige Freigebigkeit nachzurühmen. Wenn dies auch zutrifft, so wäre es dennoch falsch, diese edle Regung auf das Konto eines anständigen Charakterzuges zu setzen. Dieser Umstand beweist eben nur, daß der Spieler mit der Zeit jedwede Schätzung für den Wert des Geldes verliert. Die Ausgaben des Lebens spielen bei seinen Umsätzen gar keine Rolle mehr, die übrigen Freuden des Daseins gelten ihm nur als Vorbereitung oder als Nachlese des einzigen Zweckes – des Spiels. Das Jeu an und für sich legt dem großen Spieler schon Kosten auf, welche im Vergleich zu den Preisen sonstiger Vergnügungen ungeheuerlich sind, denn der Preis des Kartengeldes ist ein enormer und kann sich an einem Abende auf Hunderte steigern. So kommt es, daß in aller Herren Ländern die glänzendsten und 12 luxuriösesten Spielklubs einzig und allein vom Ertrage des Kartengeldes leben, daß sie imstande sind, für diese Einkünfte prächtige Palais zu errichten, die beste Küche zu führen und allen diesen Luxus ihren Mitgliedern für einen Spottpreis zur Verfügung zu stellen.

Wenn ein Staat sich entschließen könnte, das Kartengeld im Klub auf einen minimalen Preis festzusetzen und die Privatspielhöllen dann mit unnachsichtlicher Strenge zu verfolgen, würde so manche ehrliche Familie vor dem Ruin, so mancher ehrliche Name vor der Schande bewahrt werden.

Baron Newstraaten hatte wieder gewonnen und spähend durchmaß er die Schar seiner Gegner.

Ein junger Mann mit interessantem Gesicht und vornehmer Haltung drehte nervös und unmutig die Spitzen seines blonden Schnurrbartes. Er überlegte einen Augenblick, ob er noch einmal sein Heil versuchen und bei einem Klubgenossen oder dem Hausmeister eine Anleihe machen sollte. Aber mit dem Sonnenstrahl schien auch für ihn ein Augenblick der Erleuchtung gekommen zu sein, und so wandte er sich langsam dem Bibliothekzimmer zu, während ihn die listigen Augen des Holländers lauernd verfolgten.

»Lieber Reim,« mit diesen Worten trat er in das Zimmer, »ich muß Sie heute abend notwendig sprechen.«

»Weiß schon,« knurrte der andere, »heut nachmittag werden wir wieder etwas Erbschaft flüssig machen. Sie sind doch unverbesserlich, Wahrendorff. Statt, wie es Ihre Mittel Ihnen erlauben, ein wahres Götterleben zu führen, statt endlich einem der schönsten Mädchen, welche Sie förmlich belagern, das Taschentuch zu reichen, verplempern Sie Gesundheit, Geld und Zukunft, ohne dabei irgend etwas davon zu haben als den kleinen Nervenreiz, dessen Reaktion viel peinlicher ist, als Ihnen der augenblickliche Kitzel Genuß gewährt.«

13 »Können Sie mir Ihren täglichen Vortrag über dasselbe Thema nicht ein andermal halten? – Ich bin wirklich nicht gelaunt, die Vorwürfe, die ich mir selbst weit intensiver mache, von anderen bestätigt zu hören. Also bis heute nachmittag!«

Mit einer kurzen Verbeugung verließ Wahrendorff das Zimmer, nahm im Vestibül seinen Überzieher in Empfang und schritt langsam und nachdenklich die breite Freitreppe hinab. Die prächtige, kühle Morgenluft umwehte lindernd die pochenden Schläfen des Spielers und mit einem tiefen Atemzuge, welcher einem schweren Seufzer glich, sog er die Düfte, welche von den nahen blühenden Linden herüberströmten, ein.

»Die Droschke für Herrn Baron,« rief der Portier. Wahrendorff schüttelte abwehrend den Kopf und schlug zu Fuß den Weg nach seiner Wohnung im Kaiserhof ein. 14

 


 


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