Leo Leipziger
Mascotte
Leo Leipziger

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21. Kapitel.

Schönleins Rache.

Etwa vierzehn Tage nach Annas erstem Auftreten saßen die beiden Freunde Dubski und Sanders in einem Restaurant Unter den Linden zusammen, welches sich durch vorzügliche österreichische Küche und gutgepflegtes Bier aus dem Bürgerlichen Brauhause zu Pilsen auszeichnet.

Seitdem das österreichische Element in Berlin seinen triumphierenden Einzug gehalten, und es kaum eine Privatbühne gibt, an welcher nicht der größere Prozentsatz des Mimenvölkchens zur schwarzgelben Farbe der Habsburgischen Monarchie schwört, war dieses Gasthaus der Sammelpunkt der fahrenden Sänger und Schauspieler aus dem befreundeten Nachbarlande geworden.

Dubski und Sanders kannten die meisten der Anwesenden und tauschten Grüße und Händedrücke mit ihnen aus. Trotz ermüdender Proben, welche wohl die Mehrzahl am Vormittage mitgemacht hatte, lachte und scherzte das leichtlebige Völkchen, neckte sich gegenseitig und tauschte den neuesten Kulissenklatsch untereinander aus.

»Wenn man die Kollegen und Kolleginnen so zusammen sieht, so müßte man meinen,« sagte Dubski, »daß der Geist der Eintracht alle diese Mitglieder der Bühnenzunft miteinander verbindet. Und dabei sind doch Neid und Mißgunst nirgends mehr zu Hause als gerade hier.«

»Doch nicht so ganz,« erwiderte Sanders. »Solange es ihnen gut geht, tun sie sich alles mögliche Schlechte an und 150 intrigieren gegeneinander, als ob sie hoffähig wären. Geht es aber einem von ihnen schlecht, so öffnen sie bereitwillig die Taschen und geben dem notleidenden Kollegen das Letzte her. Sie sind alle die Opfer des Ehrgeizes, und in ihnen allen steckt eine große Portion der modernsten Krankheit, der Nervosität. Von des Publikums und der Presse Gunst und Mißgunst getragen, sind sie unaufhörlichen Gemütsbewegungen ausgesetzt, um so mehr, als jeden Abend aufs neue ihre Zukunft auf dem Spiele steht. Jede neue Rolle kann ihnen Ruhm und Ehre einbringen, aber ebenso verhängnisvoll werden. Und gerade hier in der Hauptstadt ist ihre Stellung doppelt schwierig. Nur wenige dürfen sich rühmen, in der öffentlichen Meinung bei Publikum und Presse so gefestigt dazustehen, daß für sie nichts mehr zu befürchten ist. Das sind die Auserwählten. Das Gros aber muß mit voller Kraft immer wieder kämpfen, um den eroberten Platz zu behaupten.«

»Und die Weiber haben's leichter als die Männer,« meinte Dubski, »die hübschen Lärvchen genießen Protektion, welche sich bis in das Arbeitszimmer des Herrn Direktors erstreckt, und da kommt es denn auf ein bißchen Talent mehr oder weniger gar nicht an. Aber die Männer und die häßlichen Mädchen, die haben unsagbare Schwierigkeiten zu überwinden, um ihren Platz in der Großstadt zu behaupten und nicht rettungslos der Provinz zu verfallen.«

»Und die hübschen Mädchen, welche anständig bleiben wollen?« unterbrach ihn Sanders.

»Sprechen wir nicht davon!« meinte Dubski lächelnd. »Das ist ein Vorfall, der sich in der Großstadt nur bei außergewöhnlichen Talenten ereignet, deren Gage die erheblichen Betriebsunkosten deckt. Im übrigen aber wird der Pfad der Tugend von unseren liebenswürdigen Bühnenkünstlerinnen nicht so sehr häufig eingeschlagen, daher ist er noch gar nicht 151 abgetreten und das Pflaster noch so gut wie neu. Die Bühne ist keine moralische Anstalt, und im übrigen bin ich auch der Meinung, daß eine Frau nur dann eine wirkliche Leidenschaft darstellen kann, wenn auch in ihrem Herzen einmal der Sturm der Liebe getobt hat. Und ehe das nicht der Fall ist, wird auch unsere Anna, so fürchte ich, keine große Schauspielerin werden.«

Sanders nickte zustimmend.

»Die besten Absichten leiden an der Unmöglichkeit Schiffbruch, mit den geringen Anfangsgagen selbst in der bescheidensten Weise den Ansprüchen, welche das Leben und die Toiletten stellen, genügen zu können. Die Choristinnen, die kleinen Solodamen erhalten Monatsgagen, welche durchschnittlich hundert Mark betragen. Dafür gibt der Theaterunternehmer allerdings die Kostüme. Nun kommen aber seidene Strümpfe, Lackschuhe, hübsche Wäsche, Handschuhe und andere kleine Bedürfnisse hinzu, welche die Schauspielerin selbst bestreiten muß. Wenn man dabei in Erwägung zieht, daß solch ein Wesen, welches meistens schon morgens um zehn Uhr auf der Probe sein muß, zuweilen auch das menschliche Bedürfnis hat, sich satt zu essen, so ist es klar und einleuchtend, daß die Leichtfertigkeit hier einen vorzüglichen Nährboden finden muß.«

»Und,« meinte Dubski, »wen soll man da wegen Kuppelei anklagen? Den Theaterdirektor, den Staat oder die Gesellschaft? Für die oberen Zehntausend liegt in diesen Theaterverhältnissen ein getreues Abbild der sozialen Frage, und es wundert mich nur, daß hier noch kein Streik und kein Boykott ausgebrochen ist.«

»Das ist aber noch nicht alles,« fügte Sanders hinzu. »An diesen unglücklichen Geschöpfen sitzen noch soundso viel Blutegel, welche ihnen das Letzte aussaugen. Die Vermieterin 152 nimmt ihnen das Doppelte von dem ab, was der Chambregarnist bezahlt, die Schneiderin, welche auf das hübsche Gesicht hin Kleider liefert, sorgt dafür, daß die Rechnung kein Ende nimmt, und endlich bezieht der Theateragent seine vertragsmäßigen Prozente für seine wenig mühevolle Vermittelung dieser materiell so glänzenden Lebensstellung. So sinkt das Weib, welches die glitzernde Kulissenlaufbahn womöglich mit idealen Anschauungen begonnen hat, nach kurzem Kampfe müde und verzweifelt in die Arme des Verführers und ist am Ende froh, wenn sie der Engagementsvertrag vor der Polizei sichert. Sie druckt stolz auf ihre Visitenkarte, daß sie Mitglied des pp. Theaters ist, und vergißt ihre Stellung so weit, daß sie mit Verachtung auf die Kolleginnen hinabblickt, welche ohne Engagement und ohne Theateretikette nur dem lukrativeren Teil der Beschäftigung obliegen.« –

In diesem Augenblick erschien der Wirt und teilte Dubski mit, daß er dringend ans Telephon gebeten würde. Nach wenigen Minuten kehrte der Pole zurück und benachrichtigte Sanders, daß Anna ihn soeben gebeten habe, sofort in ihre Wohnung zu kommen, da etwas Ungeheuerliches vorgefallen sei. Die beiden bestiegen schnell einen Wagen und fuhren nach dem Tiergarten hinaus.

Sie fanden Anna in Tränen gebadet. Unter unaufhörlichem Schluchzen und Weinen erzählte sie folgendes: Vormittags um zehn Uhr, als sie gerade mit ihrer Mutter beim Frühstück saß, sei ein Herr gekommen und habe Frau Hanke zu sprechen verlangt. Der Mann habe die Mutter aufgefordert, ihm den auf ihren Namen lautenden Mietsvertrag vorzulegen, und die Frage gestellt, ob ein Herr Wahrendorff und ihre Tochter Anna bei ihr wohnten. Nachdem die Mutter dem Verlangen nachgegeben und seine Frage bejaht, habe der Herr ein Schlüsselbund aus der Tasche gezogen, sich durch eine daranhängende Blechmarke als Kriminalbeamter 153 legitimiert und demnächst die Mutter aufgefordert, ihm zur Wache zu folgen . . . . .

»Nun sind sechs Stunden seitdem vergangen,« seufzte Anna, »und Mutter ist immer noch nicht zurück.«

Dubski tröstete die Unglückliche, indem er ihr klar zu machen suchte, daß es sich nur um ein Mißverständnis handeln könne, versprach, sofort zur näheren Erkundigung auf die Polizeiwache zu fahren, und bat Sanders, während der Zeit Anna Gesellschaft zu leisten.

Auf der Wache wurde ihm der wenig tröstliche Bescheid, daß Frau Hanke bereits nach dem Präsidium am Alexanderplatz eingeliefert sei. Eine weitere Auskunft konnte oder wollte ihm der Beamte nicht geben. Dubski entschloß sich daher, nach dem Präsidialgebäude zu fahren und daselbst von einem ihm befreundeten Kriminalkommissar Aufklärung und Rat zu erbitten.

Zum Glück fand er den gesuchten Herrn noch in seinem Arbeitszimmer vor. Er machte den liebenswürdigen Beamten mit dem Zweck seines Besuches bekannt, und dieser versprach ihm, sofort die gewünschte Auskunft einzuholen. Nach bangen zehn Minuten, während welcher Dubski unruhig in dem Zimmer auf und ab schritt, kehrte der Kriminalkommissar mit ernstem Gesicht zurück.

»Die Mitteilung, welche ich Ihnen zu machen habe, lieber Freund, ist traurig, und es wird wenig zu helfen sein. Frau Hanke ist auf eine Denunziation hin, welche an die königliche Staatsanwaltschaft gelangt ist, unter dem dringenden Verdachte der schweren Kuppelei – sie soll ihre Tochter mit deren Geliebtem in ihrer Wohnung beherbergt und von dem Verhältnisse der beiden gewußt haben – festgenommen worden. Sie hat bei ihrer ersten Vernehmung den Tatbestand unumwunden eingeräumt und wird noch heute in das Untersuchungsgefängnis nach Moabit eingeliefert. Die 154 Untersuchungshaft ist in diesem Falle obligatorisch, da der § 181 des Reichs-Strafgesetzbuches, welcher hier zur Anwendung kommt, ein Verbrechen im Sinne des Gesetzes darstellt. Ein Antrag auf Haftentlassung gegen Kaution wäre daher in diesem Falle zwecklos. Wenn ich mir erlauben darf, Ihnen unter den obwaltenden Umständen einen Rat zu geben, so suchen Sie schleunigst einen guten Verteidiger zu gewinnen, welcher sich mit der Angeschuldigten sofort in Verbindung setzen und die Akten einsehen darf.«

Dubski war durch diese schreckliche Neuigkeit tief erschüttert. Erst auf der Straße kam ihm das Bewußtsein wieder, und er eilte zu Dr. Reim, um seine Aufregung einigermaßen zu beschwichtigen, ehe er Anna die Hiobspost überbrachte. Der Anwalt ließ ihn, trotzdem das Sprechzimmer dicht gefüllt war, sofort eintreten. Nachdem ihm Dubski alles erzählt, schüttelte er ernst das Haupt.

»Aussichtslose Sache, lieber Dubski,« meinte er nach einer Weile, »wir wollen tun, was in unseren Kräften steht, aber einen Erfolg kann ich Ihnen nicht versprechen. Sagen Sie Anna, daß ich noch heute abend hinkommen werde, und empfehlen Sie denjenigen, welche schon um die Sache wissen, strengste Diskretion an. Haben Sie denn eine Ahnung, wer den Schurkenstreich der Denunziation begangen hat?«

Dubski verneinte die Frage.

»Ich wüßte nicht, woher Anna einen so grausamen Feind haben sollte. Mißgünstige Kolleginnen sind doch einer solchen Untat nicht fähig, und ich glaube doch Annas Leben so weit zu kennen, daß ich über Persönlichkeiten, die sie mit einem derartigen Haß verfolgen könnten, informiert wäre.«

Und nun machte sich Dubski auf den Weg, um der bedauernswerten Tochter das Schicksal der Mutter zu berichten. Beim Eintritt in die Wohnung fand er sie noch im Gespräche mit Sanders.

155 Es war sechs Uhr abends geworden und die Nacht war hereingebrochen. Anna war in um so größerer Erregung, als sie spätestens um sieben in der Theatergarderobe sein mußte, und der Weg dorthin mindestens eine halbe Stunde betrug. Wahrendorff war auf einige Tage verreist und wurde erst am nächsten Tage zurückerwartet. An der sorgenvollen Miene des Eintretenden sahen die beiden gleich, daß etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein mußte.

»Machen Sie es kurz,« rief Anna, als der Unglücksbote schweigend ihre Hand nahm und sie mitleidig anblickte.

Dubski wußte, daß die reine Wahrheit hier am Platze war und jeder Umschweif Hoffnungen erregt hätte, welche nach den übereinstimmenden Ansichten des Kommissars und des Doktor Reim ohne Aussicht auf Erfüllung waren.


Nachdem er geendet, erhob sich Anna.

»Schönleins Rache,« murmelte sie tonlos. »So büßt meine Mutter meine Schuld, und ich habe nur die eine Entschuldigung, gerade ihr Bestes gewollt zu haben. Aber niemand darf etwas erfahren. Für alle neugierigen Frager ist die Mutter verreist, und Sie, Sanders und Dubski, werden mir den Freundschaftsdienst erweisen, daß keine indiskrete Notiz in die Zeitungen gelangt. Vorläufig nehmt meinen Dank für Euern Anteil.«

Und damit drückte sie den Männern, welche die Seelenruhe der Unglücklichen bewunderten, die Hände, dann legte sie den Pelzmantel um die Schultern, stieg in den bereitstehenden Wagen und rief dem Kutscher zu: »Schnell ins Theater!« –

Als sie aus dem Gesichtskreise ihrer Freunde entschwunden war, trat die Reaktion nach der fürchterlichen Nervenspannung ein. Sie bedeckte das Antlitz mit den Händen und brach in einen konvulsivischen Weinkrampf aus. Ihre Schuld an dem traurigen Verhängnisse, welchem die Mutter entgegenging, 156 stand klar vor ihrer Seele, und sie empfand aufs neue den Fluch ihres Daseins. Aber bei all dem Mitleid für das Geschick der Mutter, bei all den Vorwürfen, welche ihr eigenes Gewissen ihr bereitete, bei all der Verzweiflung, welche in ihr wühlte, kehrte immer der eine Gedanke wieder:

»Wenn nur um Gottes willen Emmy nichts erfährt.« 157

 


 


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