Leo Leipziger
Mascotte
Leo Leipziger

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2. Kapitel.

Ein Berliner Morgenbild.

Als Wahrendorff an den Linden angelangt war, blieb er einen Moment unschlüssig stehen. Dann beschloß er, sich des herrlichen Morgens noch etwas zu erfreuen und einen kleinen Spaziergang durch den Tiergarten zu machen.

Berlin war erwacht. Kräftige, gebräunte Männergestalten gehen dröhnenden Schrittes zur Arbeit. Aus der einen Tasche lugt das in ein rotes Taschentuch eingewickelte Frühstück, aus der andern die Schnapsflasche verräterisch hervor.

Wahrendorff schämte sich. Es gibt keinen traurigeren Moment für den Spieler, keinen Augenblick, wo er die ganze Verächtlichkeit und Unwürdigkeit seines Daseins in so hohem Maße fühlt, wo ihn der Ekel, den er selbst vor seinem Laster empfindet, so jäh beschleicht, als wenn ihm nach der unter den wahnsinnigsten Nervenaufregungen durchwachten Nacht lebendige Arbeit, freudige Schaffenskraft, der ehrliche Kampf ums Dasein entgegentritt. Die dröhnenden Schritte zeugen von selbstbewußter, eiserner Kraft und die verächtlichen Blicke, welche aus trotzigen Augen Wahrendorff trafen, erregten in ihm das peinliche Gefühl, daß die Pioniere der sozialen Frage über seine Nachtarbeit nicht im Unklaren waren.

Dazwischen machte sich aber auch die Freude am Dasein auf den Straßen geltend. Mehr und weniger elegante Reiter und Reiterinnen mit ihren Kavalieren, deren Adjustierung meistens viel zu wünschen übrig ließ, sprengten auf dem wohlerhaltenen Reitweg daher. Mancher edle Vollblüter passierte das Brandenburger Tor, aber noch mehr alte 15 Manegen-Gäule, deren bandagierte Beine sichere Schlüsse auf vergangene und zukünftige Niederbrüche zuließen. Auch die Amazonen selbst erregten nur in den seltensten Fällen Wahrendorffs Bewunderung. Neben der vornehmen Aristokratin, deren Sitz und Haltung man unzweifelhaft die langjährige Beschäftigung mit dem Pferdesport ansah, tummelte so manche ihr Rößlein, der das Reiten entweder ein vom Arzt verordnetes Gesundheitsmittel ober ein der Reklame dienender Zweck war. Vor dem Brandenburger Tor sah man die ersten Straßenbahnwagen, und der alte brave Kolporteur da draußen überreichte seinen zahlreichen Kunden für fünf Pfennige das »Kleine Journal«.

Eine Droschke kam von den Zelten her herangefahren. Zwei Dämchen, über deren Lebensberuf auch nicht der geringste Zweifel obwalten konnte, hielten einen biederen Provinzialen umschlungen, welcher mit verglasten Augen dasaß und noch keine rechte Ahnung davon hatte, wohin er verschleppt worden war. Sie jauchzten einem entgegenkommenden Gefährt zu, in welchem zwei Kolleginnen zusammen mit ihren Zuhältern saßen und nach dem Grunewald eilen wollten, um den schönen Sommermorgen im Freien zu verbringen. Der Posten am Brandenburger Tor, ein braver pommerscher Rekrut, sah mit offenem Munde dem Treiben zu und überlegte, daß ein Sommermorgen auf dem Pariser Platz doch ein ganz ander Ding sei als der Sonnenaufgang in seinem Heimatdorfe.

Als Wahrendorff in die schattige Charlottenburger Chaussee einbog und sorgenvoll unter den prächtigen alten Bäumen dahinschritt, wurde er plötzlich durch eine weiche Mädchenstimme aus seinen Träumen gerissen, welche ihm in flehentlichem Tone Streichhölzer zum Kaufe anbot.

Die kleine Verkäuferin stand anscheinend in dem Alter zwischen Kind und Jungfrau. Der müde Ausdruck ihres 160 Gesichts, die matten Züge, die blauumränderten Augen ließen sie jedoch unzweifelhaft älter erscheinen. Aus durchlöcherten Stiefeln lugten zerrissene wollene Strümpfe hervor, das halbkurze Kleidchen war alt, schmierig und verschlissen, und das um die Schultern gehängte Umschlagetuch fadenscheinig und verbraucht.

Wahrendorff war, wie alle Berliner, leider an diese Erscheinung gewöhnt. Er griff in die Tasche, holte ein Geldstück hervor und wollte nach der Spende achtlos an der Bettlerin vorübergehen, als ihn mit dem Danke der Beschenkten ein Blick aus so wundersamen Augen traf, daß er unwillkürlich stehen blieb.

»Wie alt bist Du eigentlich, Kleine?« fragte er endlich.

»Sechzehn Jahre, Herr Baron!«

»Seit wann bist Du denn heute schon unterwegs?«

»Seit jestern Abend um neun!«

»Und das leiden Deine Eltern?!«

»Vater ist dot, und Mutter schickt mir doch.«

»Wo wohnst Du denn?«

»Det derf ick nich sagen.«

»Warum denn nicht?!«

»Mutter meent, wenn ick mir einfallen lasse und hetze ihr Leute vom Tierschutzverein in die Wohnung, denn kriegt' ick janz extra mächtige Keile, un an die jewöhnigliche habe ick schon jenug.«

»Bekommst Du armes Kind denn immer Prügel?«

»Det kommt uff den Verdienst an, Herr Baron! Wenn ick or'ntlich Draht nach Hause bringe, denn derf ick ins Zimmer rin schlafen und essen. Wenn ick aber nischt verdiene, denn jeht's rin in die schräje Dachkammer. Denn jibt's eene Portion Keile un nischt zu.«

Wahrendorff mußte über diese praktische Auffassung des Unglücks unwillkürlich lächeln. Die ordinäre Sprache und 17 Denkweise des Kindes kontrastierte so seltsam zu den wunderbar tiefblauen Märchenaugen, zu dem feinen Oval des lieblichen Gesichtchens, zu der schlanken und eleganten Gestalt, daß ihn ein merkwürdiges Interesse für das Schicksal der Proletariertochter ergriff. Außerdem war ihm die kleine Ablenkung von seinen, nur das Kartenspiel erwägenden Gedanken ganz angenehm, und so ließ er sich von der Kleinen in eine menschenleere Seiten-Allee begleiten, in welcher er das Geplauder fortzusetzen beschloß.

»Wie heißt Du denn, Kleine?«

»Anna Hanke, Herr Baron!«

»Hast Du noch Geschwister?«

»Na, jewiß doch, eenen jroßen Bruder un 'ne kleene Schwester.«

»Wo arbeitet denn der Junge?«

Die Kleine brach in ein helles Gelächter aus. »Der un arbeeten! Der jeht spazieren, Herr Baron, janz jenau wie Sie, bloß det er nich so 'ne feine Kluft hat.«

»Aber er muß doch von etwas leben?«

»Nu jewiß, von Wurscht un Schnaps! Der hat ooch sein Jeheimnis. Er is aber een juter Kerl. Mir hat er jern und ick ihm. Wenn ick von de Arbeet komme un habe or'ntlich wat verdient, denn kriegt Ede ooch wat ab, bloß Mutter derf nischt merken.«

»Möchtest Du gerne sehr viel Geld haben?«

Die Augen des Mädchens leuchteten in seltsamem Glanze auf.

»Wenn ick bloß det erleben könnte, det ick wie die feinen Mächens Unter die Linden mit scheene Lackstiefels und seidne Röcke un een großen Chapeau uff'n Kopp bei Kranzlern sitzen könnte, un so'n Kerl mit de weiße Jacke un Hose mir immer so eene Portion Schlagsahne nach de andre jeben müßte, nee – det wäre zu scheen.«

18 »So ein hübsches Mädchen wie Du! Das wird schon mal kommen!«

»Wenn ick mal erst een Jahr älter bin, Herr Baron, denn soll'n Se Ihre Freide an mir haben. Aus alle meine Freindinnen, die bloß zwee Jahre älter sind wie ick, is so wat Jroßes jeworden. Na überhaupt die schwarze Cläre, det Mächen hat noch vorigtes Jahr uff de Friedrichstraße jehandelt wie ick un nu fährt se de Linden lang in 'ne Droschke I. Jüte, aber mit die richtige feine Droschke mit de schwarzen Hüte. Un tanzen dhut se jeden Abend, un Vater wat frieher Schuster war, der sitzt jetzt den janzen Dag in de Destillje und sagt in de janze Gegend: ›Wat det Mächen für 'ne jute Dochter is!!‹«

»Na würdest Du denn, wenn es Dir gut ginge, auch für Deine Mutter sorgen?«

»Na, jewiß doch! Wenn Mutter mir nich mehr haut, sin mer die besten Freinde. Un det is doch det Scheenste, wenn man in de Famielje jlicklich is.«

Wahrendorff lachte hell auf. Sie waren am Goethe-Denkmal angelangt und er mußte daran denken, sich von der doch immerhin etwas kompromittierenden Gesellschaft zu trennen. »Hör' mal, mein Kind,« sagte er, »Du gefällst mir und ich will Dir behilflich sein. Hier hast Du vorläufig zwanzig Mark. Sei heute abend um acht Uhr an der Ecke Unter den Linden und Wilhelmstraße und dann wollen wir sehen, was sich weiter für Dich tun läßt.«

Bei dem Anblick der Doppelkrone hatte Anna ihren Kasten mit Streichhölzern auf die Erde gestellt, drehte sich wie ein Kreisel herum, daß die goldblonden Zöpfe im Bogen um ihr Gesicht flogen, und schrie vor Entzücken hell auf. »Nee, so wat, Herr Baron, wat müssen Sie für'n feiner Kerl sind!« Nach einer Weile setzte sie zögernd hinzu: »Is det aber ooch nich Falle mit heite abend?!«

19 »Nein, nein,« erwiderte Wahrendorff. »Du kannst Dich darauf verlassen, sei nur pünktlich!« Und damit überschritt er die Königgrätzer Straße und setzte seinen Weg durch die Voßstraße weiter fort. Seine gute Laune war wiedergekehrt, und abergläubisch, wie alle Spieler, gab er sich der angenehmen Hoffnung hin, in der Kleinen eine Mascotte gefunden zu haben. Im Kaiserhofe angelangt, empfing ihn sein Kammerdiener Robert. Als letzterer seinen Herrn so vergnügt sah, zog er eine falsche Schlußfolgerung auf die Vorgänge der vergangenen Nacht und war um so erstaunter, als sein Herr ihm eine Depesche zur Besorgung übergab, welche kurz und lakonisch folgende Worte enthielt: »Meyer & Co., Leipzig. Schickt sofort 100 000 Mark. Wahrendorff.«

Der Absender aber legte sich vergnügt auf das Lager nieder, und sein seliges Lächeln deutete an, daß er von seiner Mascotte und einer Serie von zehn gewonnenen Partien träumte. 20

 


 


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