Leo Leipziger
Mascotte
Leo Leipziger

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3. Kapitel.

Bei Langlet.

Das Rennen in Charlottenburg war zu Ende. Alles eilte zum Diner, um sich beim schäumenden Glase Sekt des Gewinnes zu freuen und sich über den Verlust zu trösten.

Zu den ersteren gehörte Wahrendorff. Zweimal waren seine Farben siegreich gewesen. Im Großen Charlottenburger Hürden-Rennen hatte Pickwick sein schweres Gewicht leicht nach Hause getragen und war nach einem brillanten Rennen seinen Gegnern einfach davongelaufen.

Das telegraphisch von Westends Höhen bestellte Diner war bereit. Herr Langlet, nach französischer Sitte mit tadelloser weißer Schürze angetan, stand in dem dreifenstrigen, nach der Wilhelmstraße zu belegenen Salon und musterte mit prüfendem Blick noch einmal die Tafel. Schon wurden im Vorzimmer Stimmen laut, Sporen klirrten, und dazwischen kicherten wohllautende Damenstimmen.

Etwa zwanzig Personen, darunter vier Damen, hatten sich eingefunden, um dem hippischen Sieg die gastronomische Weihe zu geben, und bald herrschte im Saale die ausgelassenste, fröhlichste Stimmung. Die Damen gehörten größtenteils dem Theater an, d. h. weniger sie, als ihre Toiletten. Sie standen mit den Direktoren auf gutem, mit der Kunst auf schlechtem Fuße. Ihre Freunde und Gönner protegierten sie in der Weise, daß dann und wann dem Bühnenleiter ein nicht rückzahlbares Darlehn zum Ankaufe von Stücken gewährt wurde, Logen allabendlich reserviert 21 und trotz des Nichterscheinens der Herren bezahlt wurden – und darum ging der Direktor wegen des häufigen Ausbleibens der Damen bei den Morgenproben und einer plötzlichen Reise nach Nizza nicht zu scharf mit ihnen ins Gericht. Ihre Herkunft war sehr fragwürdiger Natur, und die Vergangenheit weniger rätselhaft als peinlich in der Erinnerung. Sie hatten samt und sonders von ihren Gönnern gelernt, wie man sich räuspert und wie man ißt, von der Bühne gewisse einstudierte Posen übernommen und damit die Befähigung erlangt, mit der vornehmen Lebewelt in den geheimnisvollen Räumen der chambres separées und ihrer Boudoirs zu verkehren. Sie lebten in ihrem ephemeren Glanze als Eintagsfliegen, ohne sich dem traurigen Gedanken zu verschließen, daß all die Herrlichkeiten über kurz oder lang ein Ende nehmen, und das Pflaster, welchem sie entronnen, sie dereinst gastlich wieder aufnehmen würde. Denn trotz aller Munifizenz großmütiger Verehrer pflegen ja diese armen Kinder der freien Liebe stets von drückenden Schulden belastet zu sein. Was die anständige Frau einfach bezahlt, Wohnung, Kleidung, Kost, müssen sie mit dreifachem Golde aufwiegen. Und die sogenannten ehrlichen Leute ziehen den wucherischen Profit aus der Schande der Dirne.

Neben der schönen, blonden Asta hatte Dubski, der unzertrennliche Freund und Begleiter des Gastgebers, Platz genommen. Man wußte nicht viel von ihm. Nach dem russisch-türkischen Feldzuge des Jahres 1877 war er nach Berlin gekommen und hatte sich durch seine Freigebigkeit, seinen treffenden, wenn auch boshaften Witz, seine allgemein bewunderte Dienstwilligkeit in Sport-, Theater- und Journalistenkreisen viele Freunde und Freundinnen erworben. Sein Äußeres war tadellos, das Gesicht interessant. Die kühne Adlernase und zwei ungemein kluge braune Augen 22 verliehen ihm etwas Anziehendes, und die fremdländische, auf polnische Abkunft deutende Aussprache des Deutschen war von jenem gewissen exotischen Reiz, welcher bekanntlich auf die deutsche Damenwelt seine Wirkung nie verfehlt. Er hatte Wahrendorff kurz nach dessen erstem Erscheinen in Berlin kennengelernt und war in allen Dingen dessen Vertrauter und Ratgeber geworden.

Die Forellen waren soeben abgeräumt, um der pièce de résistance, einem garnierten englischen Hammelrücken, Platz zu machen, als Dubski sich erhob und, das Glas mit 1868er Johannisberger Cabinet in der Hand, sich mit folgenden Worten an die Korona wandte:

»Als ich unseren gemeinschaftlichen Freund Franz Wahrendorff heute morgen zum Rennen abholen wollte, wurde mir die freudige Überraschung zuteil, ihn noch fest schlafend vorzufinden. Wer, wie Sie, meine Herren, Zeugen der Vorgänge im Klub in der verflossenen Nacht gewesen, wird mir zugeben, daß dieser stoische Gleichmut geradezu bewunderungswürdig und in der Geschichte des Kartenspiels ohnegleichen ist. Denn Morpheus ist bekanntlich ein abgesagter Gegner des Hasardspiels und pflegt bei den Leuten, die sich stets mit Karten beschäftigen, die seinige nur selten abzugeben. Ich stand also vor einem Rätsel, dessen Lösung ich nur dadurch erzwingen konnte, daß ich unseren verehrten Sieger im »Großen Hürden-Rennen« durch Anwendung körperlicher Gewalt in die Wirklichkeit dieses schönen Daseins zurückversetzte. Und da gestand mir denn Franz nach langem Sträuben, daß er heute früh etwa um die Stunde des sechsten Hahnenschreies, also bedeutend nach Sonnenaufgang, zu Berlin W. eine Mascotte gefunden habe. Ich bin in der angenehmen Lage, Ihnen mitzuteilen, daß besagter Talisman, welcher heute bereits auf dem grünen Rasen Westends seine Feuerprobe glänzend bestanden hat, in 23 wenigen Minuten hier erscheinen und sich dem hohen Adel, dem p. t. Publikum und den erlauchten Antivestalinnen vorstellen wird. Unsere Mascotte, sie lebe hoch!«

Die Gläser klangen hell und rein aneinander, und Dubski benutzte die durch seine Worte entstandene und sich in zahllosen Fragen an Wahrendorff äußernde Neugier, um seinen Hut zu ergreifen und zu verschwinden.

Auf der Straße spähte er suchend umher. Die Gegend war wie immer still und menschenleer; vor dem Hotel Royal stand, die Hände in den Hosentaschen, ein gähnender Kellner, und der wachthabende Schutzmann hätte, selbst wenn es heller gewesen wäre, nichts Straffälliges in sein Notizbuch eintragen können. Dubski ging über den Damm nach der Mitte der Linden zu, und nachdem er einige Male an der Selterbude, einer der architektonischen Vogelscheuchen unserer Hauptstraße, vorbeipromeniert war, fand er endlich, was er suchte. Den Kasten mit Streichhölzern krampfhaft in den Händen, stand die kleine Anna an eine Linde gelehnt, und heiß und verlangend blickten die wundersamen Augen nach den hellerleuchteten Fenstern des Restaurants hinüber. Erschreckt fuhr sie zusammen, als der Arm Dubskis sie berührte.

»Habe ich die Ehre, die junge Dame vor mir zu sehen, welche heute früh so liebenswürdig war, den großen, blonden Herrn vom Brandenburger Tor bis zur Voßstraße zu begleiten?«

»Stimmt, det bin ick!«

»Dann haben Sie wohl die Freundlichkeit, mit mir da hinüber in jenes Lokal zu kommen?!«

»Wenn mir man der Schutzmann nich sieht!! In so 'ne feine Destille derf ick nich 'rinjeh'n.«

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Kommen Sie ruhig mit, mein Kind!« erwiderte Dubski, legte mit freier 24 Nonchalance seinen Arm um die Taille des Kindes und führte die immer noch Zögernde an den Augen des erstaunten Portiers vorüber in den Festsaal.

Wahrendorff hatte inzwischen sein Erlebnis geschildert, und als Anna am Arme ihres getreuen Eckart hereintrat, wurden sie mit lauten Hallos, Bravos und Hurras empfangen.

Von dem niegesehenen Glanze geblendet, hielt sich das Kind die Hand vor die Augen. Ein leiser Schauer durchlief die Glieder, und ihr verdorbenes Gemüt mochte wohl ahnen, daß sie dereinst in dem Tempel der Sünde, den sie soeben zum ersten Male betrat, eine eifrige und ergebene Priesterin werden würde.

Asta hatte sich erhoben und reichte ihr ein bis an den Rand mit Sekt gefülltes Glas. Mit der unbezwinglichen Sehnsucht nach aufrichtigem Herzensgefühl, welche den Frauen eigen ist, die gezwungen sind, in steter Heuchelei zu vegetieren, legte sie schützend ihren Arm um den Hals der Kleinen, reichte ihr das Glas zum Munde und flüsterte: »Trinke Dir für das ganze Leben den Mut, zu verachten, verachtet zu werden.«

Anna sah die Sprecherin so unbefangen an, daß letztere keinen Zweifel hegen konnte, absolut nicht verstanden worden zu sein, und sie las aus dem Antlitz des Kindes nur den einen glühenden Ausdruck der Bewunderung, des Begehrens und des – Neides.

»Schmeckt Dir das Zeug?« fragte lachend Wahrendorff, nachdem Anna einen kräftigen Zug getan hatte.

»Na ob!« erwiderte die Kleine. »Janz anders wie zu Hause det Wasser aus de Leitung. Det is hier so scheen, wie Weihnachten in de Bücher.«

»Habt Ihr denn zu Hause keine Weihnachten?« fragte Dubski, den die Kleine zu interessieren anfing.

25 »Jewiß doch,« lachte Anna auf, »am vorigten Heiligen Abend haben se mir in die Friedrichstraße beim Handeln uffjejriffen un uff de Wache jebracht. Da hatten se ooch en scheenen Boom, den hab' ick mir fein angekiekt, een Schutzmann hat mir een Stick Fefferkuchen jejeben, denn hab ick bis morjens um achte fein jepennt, un an annern Morjen hat mir der Leitnant loofen lassen.«

»Armes Ding,« sagte Dubski, bei dem sich sein freundschaftliches Menschlichkeitsgefühl wieder regte. »Was möchtest Du denn eigentlich werden?«

»Mächtig reich un noblicht.«

»Dann ist Dir nicht zu helfen!« brummte der Pole vor sich hin. »Siehst Du, Asta, schönes Kind,« wendete er sich an die elegante Blondine, »das wird einmal eine böse Konkurrenz. Das ist das Holz, aus dem man Hetären schnitzt, das ist der Stoff, aus dem brave Leute ein edles Reis, wir rohen Gesellen nur Unkraut züchten können.«

»Ich glaube gar, lieber Dubski, Sie werden sentimental!« Mit diesen Worten schlug sie ihn leicht mit dem Fächer auf die Schulter. »Mit der Konkurrenz mögen Sie recht haben. Aber alles andere stimmt nicht. Die Kleine wird ihren krummen Weg in aller Sicherheit gehen. Auf den geraden kommt die nie mehr zurück. Und darum machen Sie kein so melancholisches Gesicht und lachen Sie heute noch in unserer Gesellschaft, bis – die Fortsetzung folgt. Nun, meine Herren« – und damit wandte sie sich an die übrige Gesellschaft –, »Sie können hier ein gutes Werk tun. Wir Damen, die hier anwesend sind, wissen alle aus Erfahrung, daß das Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren die weitaus schwierigste Zeit für unsere Ausbildung ist, und gerade in jene Zeit die Entscheidung darüber fällt, ob wir dereinst zur Derby- oder zur Verkaufsklasse gehören werden. Die Kleine hat Ihnen, lieber Wahrendorff, heute Glück gebracht. Ihr 26 gebührt ein Anteil an Ihrem Gewinn. Hier, meine Herrschaften, auf diesem Teller mögen die milden Gaben Platz finden, welche ich hiermit im Namen meiner zukünftigen Kollegin von Ihnen erbitte.«

Der Vorschlag wurde mit lautem Jubel begrüßt und alles beeilte sich, zu der Sammlung beizutragen. Endlich verkündete Dubski das Ergebnis und überreichte der Kleinen etwa achthundert Mark.

Sprachlos starrte sie den Haufen Goldes an, dann ließ sie hastig, als wenn der Mammon ihr wieder entrissen werden würde, die Summe in ihre Tasche gleiten.

»Nun trinke noch ein Glas Sekt,« sagte Wahrendorff, »und dann viel Glück!«

Anna antwortete ihm mit einem Blick, in welchem der Dank für das kolossale Geschenk ihre Enttäuschung darüber, daß sie hier in dieser Gesellschaft nur kurze Zeit geduldet war, nicht ganz verwischen konnte. Mit einem Zuge leerte sie den Becher, setzte das Glas mit fester Hand auf den Tisch und sagte beim Fortgehen: »Ick danke Ihnen, Herr Baron! Et jibt een Wiedersehen!«

Wenige Augenblicke später stand sie wieder auf der Straße und krampfhaft wühlte ihre Hand in dem Golde. In dem einen Augenblick hatte sich in ihr eine Wandlung vollzogen. Die Summe, welche ihr so plötzlich und mühelos zugeflossen war und in so grellem Widerspruche zu den lumpigen Pfennigen stand, für die sie sich bisher Tag und Nacht gemüht hatte, warf mit einem Schlage alle ihre bisherigen Anschauungen zusammen. Das Gift des Lasters, der Unehrlichkeit, des Neides, welches schon lange latent in ihrer Seele ruhte, begann unter dem magnetischen Kontakte des Goldes langsam durch ihre Adern zu rinnen, Körper und Geist zu ergreifen und sich mit voller Gewalt ihres gesamten Seins zu bemächtigen. 27

 


 


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