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XXIV Ostern

Ja – wäre man bloß nicht der eklige Finger des Gesetzes gewesen ...! Aber er war da. – Wenn die dicke Therese ihre Suppe umrührte, rührte er mit, wenn sie sich ins Bett gelegt hatte, tippte er auf den Daunenkissen herum und ließ sie nicht schlafen, wenn sie ihr Gebetbuch vorhatte und inbrünstig die Lippen bewegte, raschelte er in den abgenutzten Müttern, machte pudelnärrische Geschichten und Sprünge und zeigte dann nach der Türe ... Und dann ging die Türe auf und ächzte und piepste, und dann kam so ein schmächtiges, engbrüstiges Ding ins Zimmer geschlichen, langbeinig wie 'ne Kankerspinne und von erbärmlichem Aussehn.

Das war die Stricknadel – die entsetzliche Stricknadel!

Sie hatte ein fast menschliches Aussehn, und sie schwitzte Angsttropfen, machte ein wehmütiges Gesicht, knickste etliche Male vor der dicken Therese und sagte dann mit einer weinerlichen und bekümmerten Stimme: »Therese, zwei Monat' Gefängnis.«

Und dann ging das unheimliche Ding wieder zur Türe, aber langsam, ganz langsam wie 'ne verschnupfte Prinzessin, knickste noch einmal und ließ Spuren zurück, ganz deutliche Spuren.

»Der Angstschweiß kommt über mich und meine Kinder!« sagte die dicke Therese, und das Grauen schüttelte sie. »Aber ich habe ja keine,« fügte sie ergänzend hinzu, »Jesus, mein Heiland ...!«

Und dann ging sie in ihrer Not hinaus, um, wie sie es gewohnt war, Trost bei ihren Mitmenschen zu suchen. Bei Miekske sprach sie nicht mehr vor. Miekske Pollmann war selber mehr tot als lebendig. Auf Frau Hartjes verzichtete sie überhaupt. Die Frau Präsidentin hatte schon längst das ultramontane Fähnlein gestrichen und war ihr gegenüber so kühl und frostig wie ein Hundeschnäuzchen geworden. Herr Butterweck jedoch, mit dem sie sich in letzter Zeit angefreundet hatte, sprach ihr einigermaßen Mut zu und versuchte, die unheilvolle Stricknadelgeschichte unter eine mildere Beleuchtung zu rücken. Als Mann des Gesetzes ließ er es bei einer Geldstrafe bewenden. »Drei Taler höchstens,« meinte er mit aller Zuversicht und strich dabei seinen martialischen Schnurrbart. Ja – Frau Pitt Hoffmann ging sogar noch weiter in Anrechnung der mildernden Umstände, und wenn Therese bei ihr vorsprach, hatte das pummelige Weibchen immer die nämlichen Fragen auf Lager.

»Sind Sie nicht immer ein selbstverleugnerisches und edles Faktotum von morrens bis abends gewesen?«

»Ja,« sagte die Dicke, »das bin ich immer gewesen.«

»Und sind Sie nicht als Haushälterin bei einem geistlichen Herrn bedienstet?«

»Auch das,« meinte Therese.

»Na, denn,« sagte Frau Hoffmann. »Mein Pitt hat jetzt die Meinung bekommen, daß kein Gericht der Welt 'ne geistliche Jungfrau einstechen dürfe. Drum sollen Sie nicht solche fitalen Akkuschemangs in Ihren Gedanken besitzen, sondern den Kopf oben behalten und sich freuen, Ihre Stricknadel zur höheren Ehre Gottes dem gotteslästerlichen Menschen in seine Sitzgelegenheit gedrechselt zu haben.«

»Und das glauben Sie wirklich?«

»Wie sich das gehört,« sagte Frau Hoffmann, »Sie werden nicht eingestochen und brauchen auch keine Talers zu zahlen. – Das leidet niemals unser himmlischer Vater im Himmel, und dabei legte sie ihre Hände glaubenskräftig auf ihren stattlichen Busen.

»Gott sei gedankt!«, sagte die dicke Therese, und dann ging sie getröstet fort, um anderen Tages wiederum von der entsetzlichen Stricknadel bekomplimentiert zu werden und den kitzeligen Finger des Gesetzes im Nacken zu spüren.

Gewiß – Frau Pitt Hoffmann war eine weise und sehr verständige Frau, aber sie war doch nicht verständig genug, sich in der Wirrnis des Strafgesetzbuches zurechtzufinden und den richtigen Paragraphen beim Wickel zu kriegen. Sie hatte daneben gewahrsagt, denn eines Tages stand die arme Therese mit etlichen Zeugen und Gegenzeugen vor einem grasgrünen Tisch in Kleve. Und hinter demselben saß ein Mann mit einer mächtigen Schmarre und einer goldenen Brille. Er trug ein Barett auf dem Kopfe und hatte einen schwarzen Talar an. Auch hatte er ein Gesetzbuch vor sich liegen, etliche weiße Kanzleibogen und Feder und Bleistift. Und der Mann redete in sehr ernstem Tone von vorsätzlicher Körperverletzung und von Widerstand gegen die Staatsgewalt. Hierauf nahm er so und so viele Bestimmungen und Paragraphen beim Kopfe und erläuterte jedes; sprach allerdings von mildernden Umständen, lächelte auch in behaglicher und lustiger Weise, verbiß sich aber schließlich derart in den Abschnitt VII des deutschen Reichsstrafgesetzbuches, daß er nicht anders konnte und der dicken Therese zwei Monate und acht Tage Gefängnis diktierte.

»Was ...?!« schrie die Dicke, und sie brachte in weinerlichem und stehendem Tone ihre Gegengründe ins Treffen.

Der Mann im Barett und mit der mächtigen Schmarre blieb kalt und gefühllos.

Sie redete davon, daß sie eine keusche und unbescholtene Person sei.

Der Mann im Barett lächelte zwar, bezweifelte auch gar nicht das Keusche ihres Lebenswandels, verharrte aber auf seinem Standpunkt und strich seinen hellblonden, wohlgepflegten Schnurrbart nach aufwärts.

Sie sprach davon, daß sie bei einem geistlichen Herrn im Dienst sei, daß dieser ohne sie nichts anfangen könne.

Der Mann im schwarzen Tatar bedauerte sehr die mißliche Lage, die er wohl einsähe und zu begreifen vermöge, der Spruch jedoch ließe keine Änderung zu, und es ginge nicht anders.

Endlich berief sie sich auf Frau Hoffmann und den allmächtigen Vater im Himmel, der es nicht zugeben würde, daß sie bestraft werden sollte.

Der Mann mit der goldenen Brille estimierte zwar den lieben Gott über alles, erhob sich aber und ließ es, ohne mit der Wimper zu zucken, bei zwei Monaten und acht Tagen Gefängnis bewenden.

»Jesus Christus – du, mein himmlischer Vater ...!«

Und der Herbstwind ging über die Stoppel, das Mariengarn häkelte sich quer, durch die Sträucher, und die Schwalben flogen gen Süden. Die Bäume warfen ihr Laub ab; wie von goldenen Dukaten flatterte es in den herbstlichen Lüften. Der Häher spektakelte durch die laubkahlen Äste, der Hamster zog mit gemästetem Wams zu Bau, und als der erste Flutterschnee sacht und leise die Erde berührte, aber von ihr noch aufgeschluckt wurde, als wäre er so gut wie gar nicht vom Himmel gekommen – rieb sich die dicke Therese die verweinten Augen, sagte dem Grauen Hause und den noch graueren Wänden ›adjüs‹ und ließ sich mit gebrochenem Herzen von Stäwe Rademaker wieder in die liebe Heimat kutschieren.

Bei Joseph von Arimathia pochte sie an – aber sie Pochte vergebens. Fremde Gesichter und fremde Gardinen ...! – und das Wachtelhündchen, das im blankgescheuerten Hausflur kläffte und bellte, war nicht mehr das Wachtelhündchen von früher. Selbst die Kanarienrolle, die ihr aus dem Studierzimmer entgegentönte, wies eine gänzlich andere Klangfarbe auf. Da ging Therese betrübt ihres Weges, nahm die Mildtätigkeit der Armenverwaltung in Anspruch und tat sich ein bei den bedürftigen Frauen und Jungfrauen, die gemeinschaftlich ein stilles Haus auf der Grabenstraße bewohnten. – Die gesammelten Unterschriften und die beiden gewichtigen Briefe, die Herr Severin Piepmann seinerzeit und in Kraft übertragener Vollmacht an die königliche Regierung und an das bischöfliche Generalvikariat zu Münster abgeschickt hatte, waren nicht ohne die erhoffte Wirkung geblieben. Auch war Doktor Steinberger nicht der Mann gewesen, pater peccavi zu sagen und sich ins Bockshorn jagen zu lassen. Er hatte den Willen gestrafft und mit seiner Ansicht nicht hinter dem Berge gehalten. Klar wie Brunnenwasser und lauter wie die Luft, die auf den Höhen weht, waren seine Worte gewesen, und dabei hatte er sein Herz aufgetan, daß man hineinsehn konnte bis in den verborgensten Winkel. Es war anzuschauen wie ein wohlgepflegter Garten mit schönen Früchten und duftigen Blumen; kein Unkraut war darin und kein böses Gesäme. Und alle Rabatten trugen eine wohlgeschnittene Buchsbaumumrahmung. Das hatte dem Bischof gefallen, denn ein Mann, der es verstand, derart seinen Herzensgarten in Pflege und Ordnung zu halten, mochte auch ein guter Hüter sein im Lebensgarten der Menschheit. Und da hatte der Bischof gesprochen, und die königliche Regierung war nicht müßig geblieben. Joseph von Arimathia aber hatte Order erhalten, von nun an mehr auf den Balken in seinem eigenen Auge und weniger auf die Splitter in den Augen anderer Leute zu achten – und da war aus Morgen und Abend ein Tag geworden; und der Morgen und Abende waren viele gekommen. Und da eines Tages zog Joseph Sauerbier verbittert über die Grenze nach Holland. Es war eine dünne Gemeinde, die ihn als Seelsorger aufnahm. Sie lag in der Utrechter Heide – und über die Heide lief allmorgens und abends ein miserables Glöckchen mit einem dünnen, hungrigen und kränklichen Sümmchen – und war alles öde und einsam. In dieser Öde konnte er nachdenken über seine bisherige Sendung. Sie war nicht gott- und menschenwohlgefällig gewesen. Und das hungrige Glöckchen klang so hundsmiserabel über Ginster und Buchweizenstoppel, daß selbst die dicke Therese es vorzog, zu bleiben, wo sie war, und nicht dem zweifelhaften Lockruf des mageren Geläutes zu folgen, – Armer Joseph von Arimathia! – Doktor Steinberger hingegen ...

Er amtierte wieder in seinen liebgewordenen Räumen, in seinem alten Kirchspiel, und die Menschen erkannten, daß er ein guter Hirte war und seine Herde weidete nach bestem Gewissen und Wissen. Sie erkannten, daß er mit seinem Stabe die Quelle der wahren Herzerquickung anschlug, wie Moses sie angeschlagen hatte, da er mit seinem Volke durch die öde Wüste gezogen. –-

Alsdann war ein klingender Frost über die niederrheinische Erde gegangen. Spatzen und Ammern gingen hausieren. Auf den Tennen wurde gedroschen. Auch aus den Scheunen des Barons von Steengracht hallten die taktmäßigen Schläge der Dreschflegel über die stillen Felder und verschwiegenen Wälder von Moyland. Aber der frühere Gutsverwalter hörte nicht mehr das taktmäßige Rufen und Klingen. Er war zu weit fort, um das hören zu können. Seine Wohnung stand leer und verödet. Nur ein Ding, das mit einem päpstlichen Zuavenkäppi Ähnlichkeit hatte, lag auf einer Bodenkammer in einem Winkel – vergessen und einsam. Zwei allerliebste Zwitschermäuschen hatten dort mit ihrer Familie Winterherberge genommen und sich ein warmes Nestchen errichtet.

Karlo Antonio aber und Luise waren über das große Wasser gezogen, zwei weltfremde und verlorene Menschen, um drüben stumpf und dumpf weiter zu leben. Und der mächtige Ozean wälzte seine grauen Wasserberge zwischen sie und die frühere Heimat, und eine Stimme donnerte aus ihm heraus und gegen das Land an, eine gewaltige Stimme, und die Stimme war unbarmherzig und hart und gebot mit kalter Betonung: »Nie mehr hinüber!« Alles verschleiert und grau und unendlich – und immer das Wogen des unendlichen Meeres und die ewige Stimme: »Nie mehr hinüber!«

Und da vergaßen auch die Menschen in der kleinen Stadt, was sich alles begeben hatte. Nur Miekske Pollmann vergaß nicht. In ihrem grenzenlosen Elend hatte sie die Leitung der Nähschule aufgeben müssen. Barmherzige Leute sorgten für ihren täglichen Unterhalt. Die ›Malör-Penning-Kasse‹ stand zwar noch immer auf dem nämlichen Tisch, an dem die kleinen Mädchen genäht und gelacht und sonstige Kurzweil getrieben hatten, aber sie war ein Ding ohne Geist und Inhalt geworden. Auch nicht der lumpigste Pfennig kümmerte sich mehr um sie. Nichts mehr, nichts mehr! – und Miekske hatte nur einen Gedanken, und das war ihr verlorener Bruder, von dem sie täglich und stündlich erhoffte, daß er als reuiger Sünder zurückkehren würde. Aber sie harrte und hoffte vergebens. Sie fing nur Fliegen und dicke Brummer, sie konnte nichts anderes und kam sich vor wie ein armes Menschenkind, das allabends auf den Kirchhof mit dem Laternchen hinausmußte, um ein verlorenes Leben auf der Stätte des Todes zu suchen. Pitt Hoffmann, der öfters vorbeikam, machte jedesmal ein langes Gesicht, wenn er die traurige Verfassung von Miekske Pollmann bemerkte.

»Mama, die wird nicht wieder – die kann nicht mehr werden ...«

»Wie sich das gehört,« sagte alsdann die brave Frau Hoffmann, »denn was hat Miekske auf Erden? Keine Aufmunterung, kein gar nichts. Aber da oben ...«

Und dann zeigte sie bedeutungsvoll mit ihrem patschigen Zeigefinger gen Himmel.

»Schon möglich,« replizierte hierauf Pitt mit bedenklicher Pose, »aber das bringt mir kein Dittchen, denn sie wird man dritter Klasse beerdigt.«

Und dann ging er hin und entnahm dem Wandschrank einen gebrannten Wacholder. –

Und jenseit des Binnenlandes, jenseit der Heimat: alles verschleiert und grau und unendlich. Und immer das Wogen des allmächtigen Meeres und die ewige Stimme: »Nie mehr hinüber!«

»Nie mehr hinüber!«

*

Ja – ein klingender, fröhlicher Frost war über die niederrheinische Erde gegangen.

Ab und zu schrie eine Weide im Tief auf, wenn die Kälte ihr unter Bast und Splint und bis ins Mark des Herzens gefahren. Wildgänse zogen gen Süden.

Um Weihnachten standen zwei Frauengestalten am Grabe der alten Baronin. Die Herbstastern waren über die gefrorene Erde geworfen; dafür aber lag ein frischer Buchsbaumkranz mit künstlichen Blumen zwischen den erstarrten Blüten und Blättern. Bis spät in die Nacht hinein flämmerte ein Unschlittlämpchen auf der vereinsamten und doch so sehr umtrauerten Stätte. Die Sterne standen darüber und leuchteten mit seltsamem Glänze. Sie brachten einen Gruß aus dem Himmel herunter. Und die Kälte, wuchs und mehrte sich ständig. Sie ging im Fuchspelz über die Erde; sie gebot den Wassern, stille zu stehn und den Kolken, ihr tiefgründiges Gurgeln zu lassen. Und da blinkten sie auf, als wäre eine kristallene Decke darüber geworfen. Aber ein noch schöneres Blinken war über den Wesselinkschen Werkplatz gekommen. Die Sonne lachte in die scharfen Äxte und Beile hinein, die jetzt wieder in altgewohnter Freude und Fröhlichkeit hantierten und schafften. Balken wurden behauen und Spreng- und Hängewerke gerichtet. Fast täglich kam Doktor Steinberger herüber, der ein reges Interesse für den Fortgang der Arbeit bekundete und die Vollendung des neu zu errichtenden Turmhelms von Sankt Nikolai um Sexagesimae in Aussicht genommen hatte. Sein Kommen war stets mit einem heiteren Lächeln begleitet, obgleich Staat und Kirche, trotz der klingenden Kälte, immer mehr in Siedehitze gerieten. Mit Johannes Wesselink sprach er große und heilige Worte, und wenn er den Werkplatz verließ, dann atmete der junge Meister still und ruhig auf, und seine Gedanken wanderten nicht und zogen nicht übers Meer, um ein verlorenes Dasein zu suchen. Sie konnten es nicht und durften es nicht; denn bleiern rollte der Ozean seine grauen und unendlichen Wogen jenseit der Heimat, und wie aus weiter Ferne hallte ihm eine mächtige und zwingende Stimme zu Ohren: »Nie mehr hinüber!«

Zeitweilig sah er sich bei der Arbeit um und um und ging seinem Denken nach. Und in sein Denken wehte ein frischer Wind, so daß er auf die richtige Fährte gelangte, wo am Straßenrain die stillen Blumen der Erkenntnis gediehen. Er Pflückte sie ab und vereinte sie zu einem duftigen Strauße. Und da dachte Johannes: »Was nicht zusammengehört und auseinandergegangen ist, das soll der Mensch nicht mehr zu binden versuchen. Es ist ein Unding und ein eitel Beginnen, Unseliges heilig machen zu wollen; versucht er es dennoch, so schafft er nur Äußerliches und Inhaltloses. Alles bleibt Stückwerk, schafft nicht Frieden und Freude, bringt Zweifel unter die Sparren und wird nicht gewertet bei dem, der Herzen und Nieren kennt und geboren wurde in heiliger Weihnacht.« – Entschlossen ging er daher an die Gerichte in Kleve und legte alles nieder, um den Zwang und die Last des quälenden Bündnisses von sich nehmen zu lassen. Es waren traurige Stunden, sein früheres Unglück noch einmal durchleben zu müssen. Er trank den Leidenskelch bis auf die bittere Hefe. Eines Tages aber wurde die schwere Bürde von ihm genommen. Und da solches geschah, war der Tag Sexagesimae nicht mehr fern.

Mächtig ragte das Gerüst des Helmes in die stahlblauen Lüfte hinein, der Schieferdecker tat seine Arbeit in schwindelnder Höhe, und zum Zeichen des guten Gelingens ragte eine junge Tanne vom goldenen Turmknauf; und Stechpalmkränze steckten daran und farbige Bänder.

Am Tage Sexagesimae selber wurde die Weihe vollzogen. Leopold Derksen war in seinem neuen Schurzfell eitel Freude und Seligkeit. Er warf sich so stolz und siegesgewiß in die Brust, als habe er selber den Turmhelm errichtet. In seiner Beseligung war er nicht mehr von der Seite seines Freundes zu schlagen. Auch der Notar war anwesend und Doktor Horré und Herr Severin Piepmann. Pitt Hoffmann jedoch stand mit seiner Frau vor der Haustür, hatte seinen Trauerbibi aufgesetzt und ließ mit bittersüßem Gesicht seine Pleureuse über den Marktplatz flottieren. Er wollte sich nun einmal nicht freuen. »Mama,« sagte er niedergeschlagen, »die Welt geht zugrunde.«

Als die Feier vorbei war, reichte Doktor Steinberger dem jungen Meister die Hand und sah ihm lange und tief in die Augen. Er sprach kein Wort dabei, aber Johannes verstand ihn. –

Und Tage vergingen und Wochen. Die lustige Fastnacht kam, die Weidengerten schmückten sich mit silberlichten Kätzchen; Wässerchen und Rinnsale begannen wieder zu stießen ... und dann war das Frühjahr gekommen.

Frühjahr und Frühlingsfreude in niederrheinischen Landen ...!

Und wie das Frühjahr kam, da wurde die arme Tanzmamsell immer stiller und stiller. Sie bangte für sich und für ihn und für die kommenden Tage, die sie hinwegführen sollten von der einsamen Stätte, wo sie vieles Irren gesehn und Sorgen durchlebt hatte, wo aber auch der Geist einer tiefen Sehnsucht umherging und sie ansah mit glücklichen und doch so unsäglich traurigen Blicken. Und dann wieder schwellte ihr Herz auf, dehnte sich wie die Knospen da draußen, die nach Luft und Erlösung rangen und einer glücklichen Zukunft, um plötzlich wieder zurückgeworfen zu werden in eine verkümmerte Leere und öde, die weit um sie her lag, ununterbrochen und unbegrenzt bis dort, wo der dunkle Horizont den Himmel berührte. Es war ein stetes Sorgen und Bangen und ein verzweifeltes Ringen. Aber kein Licht stand über der trostlosen Öde, nur ein fahles Scheinen und Dämmern, das nicht stark genug war, das sanfte Kommen des befreienden Morgengrauens verheißen zu können. Ach, wenn der Morgen doch käme! – und wäre nicht Bettje Theißen gewesen ...

Weh und weidwund war Pauline seit dem Tode ihrer Mutter geblieben, und selbst die stille Heiterkeit, die rings die Natur belebte, vermochte nicht, ihr Tröstung zu bringen. Während der Spätsommertage und der langen Winterabende hatte sie sich durch stetige Arbeit ehrlich über Wasser gehalten, hatte buntfarbige Georginen und Rosen aus Wachs bossiert und sie an den Mann gebracht – und schimmerten Tautropfen und Perlen in den künstlichen Blumenkelchen, so waren es Tränen, die die arme Tanzmamsell hineingeweint hatte.

»Du weißt ja nicht, was du aus mir gemacht hast, lieber Johannes ...!«

Sie sah ihn nur selten; sie vermied, ihn zu sehen – und wenn sie ihn sah, dann glaubte sie, daß ihr grenzenloser Jammer wie ein Schrei aus ihrer Brust herausbrechen müßte. Bald ging sie fort, und dann begegnete sie ihm wohl nie mehr auf Erden. Bei diesem Gedanken fühlte sie jedesmal das Nahen einer starren Gewalt, die ihr das arme Herz abstoßen wollte. Aber ein Hauch sehnsüchtiger Liebe verschönte ihr Antlitz, machte es weich und sinnig und so still verklärt, wie der Lenz die Natur und das Leben verklärt, wenn sein linder Odem zuerst über die erwachende Erde dahinweht und die Veilchen erweckt zu einem wonnigen Dasein. –

Ostern fiel spät in diesem Jahre.

Längst schwebten die Lerchen ob den grünenden Wiesen. Die Himmelsschlüsselchen hoben die Köpfchen und wunderten sich und sahen zu, wie die jubilierenden Pünktchen immer höher in das tiefe Blau hineinflogen, um endlich ganz zu verschwinden. Etwas Sonntägiges ging durch die schöne Gotteswelt und legte über die dunklen Schlehdornhecken schneeweiße Spitzen und über die Pfirsichbäume zartrosige Tücher und weckte ein Treiben und Dehnen in der geworfenen Scholle, und es war so, als wenn sich die Erde Wie ein junges Weib bräutlich schmückte, um ihren Leib reizvoll zu machen. Und dann fiel ein lauwarmer und weicher Regen vom Himmel. Nur vereinzelte Sterne blinzelten in den Frühlingsnächten herunter und redeten ihre eigene Sprache. Ein Schauern war unter ihnen, ein stimmberedtes Fordern und eine treibende Sehnsucht.

Es war Ende der Karwoche. Einer alten Gewohnheit gemäß waren die Glocken nach Rom geflogen. Während der Leidensgeschichte des Herrn wurde keine Glocke geläutet. Die Narzissen taten ihre Kelche auf – und am Spätnachmittage vor Ostern stand Bettje Theißen vor der Haustür und sah, wie Wesselink über den Hof kam.

Bettje war heute merkwürdig niedergeschlagen. Weltverloren sah sie in den erwachenden Frühling; ihre Augen waren noch heiliger denn an sonstigen Tagen.

Sie rief Wesselink an.

»Nach den Feiertagen geht sie,« sagte sie mit weicher Betonung.

Er sah fassungslos auf, obgleich er längst wußte, daß sie nicht mehr bleiben konnte und wollte.

»Und geht – für immer?« fragte er leise.

Es kam ihm gepreßt von der Seele.

»Ja,« sagte Bettje. »Ich hielt sie gerne, aber wer weiß, was in ihrem Innern vorgeht.«

Da ging er mit zuckendem Munde seines Weges, um sein Leid und Weh im stillen zu tragen. Gewaltsam kämpfte er seine Unruhe nieder. –

Gegen Abend kamen die Glocken von Rom zurück. Feiertägig läuteten sie das Fest der Ostern ein, und feiertägig schwenkten die jungen Birken ihre zartgrünen Fahnen durchs Land hin.

»Ostern! – Ostern!« sangen die Kinder, und die Alten falteten die Hände und hörten still zu, wie das sanfte Geläut über die niederrheinische Erde dahinzog.

Bis spät in den Abend hinein hatte die arme Tanzmamsell ihre Sachen geordnet, hatte die Koffer gepackt und die Schachteln übereinander gestapelt und war dann müde auf die Kissen gesunken. Halb im Traum und halb im Wachen hörte sie auf die verlorenen Ostergrüße da draußen. Ein leidvoller Friede legte sich um ihre zierlichen Lippen. Wie in einem Dämmern der Seele durchlebte sie noch einmal die vergangenen Zeiten. Sie war allein in der Stube, und nur die Lampe warf einen milden Schein umher und spielte mit einem lichtweißen Kreis gegen die niedrige Decke.

Bettje Theißen schaffte noch oben für den morgigen Sonntag.

Es mochte auf neun gehn, als Johannes das Haus verließ, um noch einsam über Damm und Deiche zu irren. Er sah die erhellte Gardine. Wie einem stummen Gebote folgend, hielt er den Fuß an. Er vermochte es nicht mehr, sich aus dem Bannkreis des erleuchteten Fensters zu lösen.

»Nach den Feiertagen geht sie,« sagte ihm eine innere Stimme, »und du siehst sie nie wieder – niemals wieder im Leben ...«

Da reckte sich seine Gestalt höher und höher; ein fester Wille beherrschte ihn, und er streckte die Arme in verzehrender Lust aus, als müsse er etwas an sich reißen, was von ihm wollte, um nie mehr wieder zu kommen – und da schüttelte er alle Bedenken von sich, nahm das Gegenwärtige wahr und betrat leise die Stube, so wie man in eine Kirche hineingeht.

Und da sah er sie liegen mit weißen Schultern und halbwachen Augen. Aber sie schreckte nicht auf und fühlte kein Bangen; sie lag wie ein Kind, dem eine märchenhafte Stimme verkündet: »Nun tue die Seele auf, denn du sollst etwas Liebes empfangen.«

Und sie empfing etwas Liebes.

»Pauline ...!«

»Johannes ...!«

»Siehst du,« sagte er mit verhaltenen Worten, »nun bin ich zu dir gekommen.«

»Wie gut du bist,« sagte sie leise. Ihre halbwachen Augen erschlossen sich plötzlich. Wie in stiller Feier hob sie ihm ihre Arme selig entgegen.

Und da war er näher getreten und setzte sich zu ihr. Und sie ließ es geschehen, daß er mit ihrem Schläfenhaar spielte, ihre Schultern berührte und dann schüchtern bis zu ihren Händen herabglitt.

»Soll ich dir sagen, warum ich gekommen bin?« fragte er mit beklommener Stimme.

»Ja – du, du ...!«

»Das Leid sollst du von mir nehmen,« sagte er ruhig, »an das kalte, tote Herz sollst du klopfen, daß es wieder Leben gewinnt und wieder hoffen und lieben kann wie in früheren Tagen. Die düsteren Farben, die mir vor Augen stehn, sollst du scheuchen – und meine Seele sollst du auftun – auftun – auftun! – daß sie wieder gesundet.«

Er hatte beide Arme um ihre zarten Glieder geschlungen.

»Willst du?« flüsterte er mit inniger Stimme.

»Ja – ich will,« hauchte sie zärtlich, »und du – du liebst mich, Johannes?!«

Er sah sie mit leuchtenden Augen an. Und da fühlte sie seine Hand auf ihrem Haar und auf ihrem Munde seine zuckenden Lippen.

Keiner sprach mehr und wagte zu sprechen. Sie wähnten, es sei etwas Heiliges durch die Stube gegangen.

Es war auch etwas Heiliges durch die Stube gegangen – und blieb in der Stube, denn Gottes Friede war da und breitete die Arme und segnete die beiden glücklichen Menschen. Alles Leid löste sich von ihnen, das sie umklammert gehalten mit tausend Masern und Fasern.

Sie wußten sich frei – und da hob sie sich plötzlich in den Kissen und zog ihn an sich mit seliger Inbrunst.

»Johannes, mein lieber Johannes ...!«

Und da fühlte er ihre junge Brust und das Leben, das in ihr war, und die Gewalt ihrer zierlichen Glieder.

»Weißt du,« sagte sie jubelnd, »ich bin so glücklich, Johannes, mein Herz ist so voll – und nur eins noch muß ich dir sagen.«

»Und was willst du mir sagen?«

»Du,« flüsterte sie, »daß ich dich liebe seit der Stunde, wo das Unglück deine Schwelle betrat, und daß ich dich noch viel früher geliebt habe. Aber das ist Sünde gewesen.«

»O – du, du ...!«

»Johannes ...!«

Und da konnte sie weinen. Es war ein erlösendes Schluchzen, denn jetzt erst hatte sie den wahren Frieden gefunden.

Und er ging hin und stieß die Fenster zurück, daß Gottes Frühlingsodem einziehen konnte.

Die Osterglocken waren verstummt, aber der alte Nußbaum rauschte noch immer, und zwei vereinte Herzen zogen in das österliche Land hinein, wo die Hoffnung grünte und von der kommenden Auferstehung des Herrn und einer besseren Zukunft erzählte.

*

Anderen Tages führte Johannes sie hinaus in Gottes heilige Osterfrühe, und Bettje Theißen sah ihnen nach mit feierlichen Augen, da sie hinausgingen. Und sie schritten über Wiesen und Deiche, sprachen aber kein Wort, denn ihre Liebe und ihr zukünftiges Leben waren bei ihnen und senkten in ihre Brust die köstlichen Tropfen süßen Genießens.

Auf der höchsten Stelle des Paternosterdeiches blieben sie stehen, sie an ihn gelehnt mit den Honiglöckchen und dem seinen Gesichtchen. Und da fühlte er ihr geheimes Sinnen und alles, was in ihr war.

Und da kam eine köstliche Weihe über ihn und eine wohlige Ruhe.

Verklärten Auges sah er in das Land seiner Jugend, in das Land, wo er zum Mann geworden.

Er hielt sich nicht länger.

»Ich möchte mein Herz in die Hände nehmen,« sagte er mit tränenerstickter und doch glücklicher Stimme, »und rufen: Niederrheinische Heimat, siehe mein Herz hier! Früher waren Blutstropfen daran – jetzt ist es fröhlich und heiter wie die Sonne geworden. Und ich hoffe zu Gott, daß er auch die schwarzen Flore nimmt, die noch auf deinen Schultern liegen, auf deinen Schollen und den armen Menschen, die sie bebauen und pflegen, damit Friede herrsche auf dir, niederrheinische Erde. Endlich müssen die Menschen doch Einsehn gewinnen – endlich, endlich!«

Er sprach nicht weiter.

Aber zwei Arme umschlossen ihn – immer enger und enger. Und zwei Hippen legten sich auf seinen Mund immer fester und fester, und es war ein stilles Glück unter dem Himmel.

»Gefunden, gefunden ...!«

Wer rief da?

Die erste Morgenglocke hatte gerufen.


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