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V Joseph von Arimathia schüttelt sein Bäumchen

Etliche Tage später, und zwar in der Nacht vom Freitag zum Samstag, war der erste Frühfrost gekommen. Der nahm auch die letzten Blätter von dem alten Nußbaum herunter, der in sommerlichen Tagen den Zimmerplatz und die Werkstätte von Johannes Wesselink weithin beschattete – und da merkten erst die Heruntergeholten, wie frei sie waren, wie ungebunden sie sich im Tode geben mochten viel ungebundener als da, wo sie noch an den Stielen hingen und nicht weiter hinaus konnten, als die beengende Fessel es wollte. Und wie das mit den Blättern ist, so ist das auch vielfach im menschlichen Leben. So mancher möchte gern anders; er möchte gern hinaus in die Freiheit, in das erlösende Licht. Aber er kann nicht; er muß den Verhältnissen Rechnung tragen – und erst dann, wenn da ein Großer, Stiller, Gewaltiger kommt, der mit sanfter Hand nach oben deutet und dann mit seinem Hauch die matten Kerzen zum Verlöschen bringt – dann erst merkt der Heimgegangene, wie frei er geworden, wie erbärmlich das verfehlte Leben gewesen, wie er nur die Flügel zu spannen braucht, um dem erträumten Glücke zu folgen. –

Mit dem letzten Blätterfall war so ein schöner Samstagmorgen hereingebrochen, der mit liebevoller Hand seine Strahlen über den Zimmerplatz legte, wo Johannes Wesselink unter seinen Gesellen hantierte und Anordnungen traf, die für den neuen Schulbau in Elten zurecht gezimmerten Hölzer aufzustapeln und für die Verfrachtung geeignet zu machen.

Heute hatte wieder etwas Dumpfes, Grüblerisches in seine Seele gegriffen. Warum? – das wußte er selbst nicht; er wollte es nicht wissen und suchte Heilung, Trost in der Arbeit.

Neben dem stattlichen Nußbaum duckte sich das engbrüstige Häuschen von Bettje Theißen. Mit blanken Scheiben und blanken Gardinen sah es über Gesellen und Bauhölzer fort und konnte die breite Grabenstraße verfolgen, die unmittelbar an der Arbeitsstelle vorbeiführte.

Johannes Wesselink streckte sich plötzlich, wischte sich den Schweiß von der Stirn und trieb mit einem heimlichen Lachen die Axt in den Baumstamm, als er bemerkte, wie ein untersetzter Mann mit Schurzfell, verrußtem Gesicht und Quäkerbart von der Grabenstraße auf den Zimmerplatz einbog, ihm die Hand entgegenstreckte und sagte: »Tag, Johannes, wo geht's dich?«

»Danke.«

»Das seh' ich; bist ja frisch bei die Arbeit. Wohl für die neue Schule in Elten?«

«Richtig – und ich fahre noch vor Abend hinaus, um spätestens Montag nachmittag die ersten Balken zu stellen.«

»Das nenne ich Arbeit« sagte der Alte, »aber das ist nicht mein Pangschang, man muß auch mal ›blau‹ machen können,« und damit zog er eine zusammengedrückte Flasche aus der Hosentasche heraus und goß sich eine wasserhelle Flüssigkeit hinter das Schurzfell.

»Aber, Derksen, Ihr solltet endlich mit dem Schnapsen aufhören; das bringt Euch herunter.«

»Ganz meine Ansicht. Aber meine innerlichen und auswärtigen Umstände, Johannes...! die muß man in Rechenschaft ziehen, denn du weißt aus eigener Beaugenscheinigung: ich habe nu mal als höchstseliger Witwer so'n ganz ungemeines Stück von Frauenzimmer im Hause. Desgleichen weißt du aus eben und demselbigten Umstand, daß ich anno 48 bei die Preußen gedient hab' und mir gründlich auf militärische Dinge verstehe; denn das ist von jeher mein Pangschang und meine höchste Nummer gewesen.«

»Das weiß ich.«

»Und nu frage ich dir: wie soll ich mir als alter Preuße und beförderter Obergefreiter benehmen?«

Wiederum gluckste er ein Schlückchen herunter.

»Das mußt du mir nicht übel nehmen, Johannes; ich muß Besänftigung haben, weil ich immer mit meinem militärischen Gewissen konträr steh' und nicht kapieren kann, warum ich so'n dämlicher Schafskopp von Esel geworden bin, obgleich ich die preußischen Obergefreitenknöppe besitze. Ich habe auf Posten gestanden, aber das sage ich dir: lieber 'nen Korb mit Flöhen bewachen, als Schildwache halten vor so'nem auserwählten Stück von 'nem lieblichen Fraumensch. – Mit Arimathia hat's angefangen; der hat abgeschnappt. Dann ist Jans Prußt gekommen; der hat nicht abgeschnappt – und dann ist Frau Pitt Hoffmann gekommen, hat Kamillentee gekocht, noch so'n bißchen gewartet und mir dann so'nen niedlichen Kerl von Bengel unter die Nase gehalten. Und dann knickste sie und sagte: Ich gratuliere, Herr Derksen. – Na, ich hätte sie lieber ... und nu frage ich dir: soll ich ein Bandeisen nehmen und meine eigene Tochter ...«

Mit einem unartikulierten Laut hob der Alte die Schnapsflasche in die Höhe, als wenn er zuschlagen wollte. Unheimlich blitzte es auf in den wütigen Augen.

»Nein,« sagte Johannes Wesselink, »das sollt Ihr nicht tun.«

Die Schnapsflasche sank nieder.

»Ganz meine Ansicht,« fiel Derksen wieder in seinen florigen Zustand zurück, »obgleich es nicht mein Pangschang ist. Heiraten muß sie. Schön, dachte ich, und geh' zu Pitt Hoffmann, weil er immer so großartig und baronmäßig auftritt und mir einmal gesagt hat: Derksen, wenn du jemals in die Predullig hinein kommst, hier wartet der Mammon; du kennst mir – ich heiße Pitt Hoffmann. Dabei hatte er sich auf die Hosentasche gekloppt, daß man die Taler so sprangen. – Also ich zu ihm und sage: Pitt, meine Tochter muß heiraten. – Schön, meinte Pitt Hoffmann, was weiter? – Aber zu's Heiraten gehört Geld, sagte ich leise. – Stimmt, sagte Pitt Hoffmann, was sonst noch? – Und da möchte ich gefälligst, obgleich es nicht mein Geschmack ist, um fünfhundert Taler Vorschuß ersuchen. Übernächsten Martini ... Aber ich kam nicht weiter, denn was tut nun mein Kerl? – Lachen tut das infamige Rindvieh, kloppt mir auf die Schulter und meinte: Und da soll ich die fünfhundert Taler bezahlen? – Ja. – Weil seine Tochter sich mit Jans Prußt amüsiert hat? – Ja. – Und weil daraus so'n kleiner Bengel erfolgt ist? – Ja. – Und weil sie deshalb nu heiraten wollen? – Ja. – Hö! meinte Pitt Hoffmann, dann will ich Ihnen klaren Wein in die Bouteille hineintun – und rief dann wie so'ne stinkige Hitte, die gar nicht mein Pangschang ist und meine achtundvierziger Freiheitsehre beleidigt: Und da soll ich die Rechnung begleichen, Herr Derksen?! – Wenn Sie weiter nichts haben, dann kommen Sie wieder, wenn Sie mal tot sind, dann werde ich Sie gratis begraben.«

Wütend griff sich Derksen zwischen Hemdekragen und Quäkerbart, als wolle er sich selbst strangulieren.

»Äh!« – kam es ihm gepreßt aus der Kehle, »und das muß ich mir als achtundvierziger Freiheitsheld und königlich preußischer Obergefreiter von so einem Leichenhuhn gefallen lassen?! Miserabel, ganz miserabel!«

Der Kopf sank ihm auf das Schurzfell herunter. Er suchte nach Worten. Jetzt fand er sie, aber seine Stimme war friedfertiger, ruhiger geworden.

»Und nu bin ich zu dir gegangen, lieber Johannes,« sagte er leise.

»Und warum seid Ihr nicht eher gekommen?«

»Weil ich mir scharnierte,« sagte der Alte und schien die Bauhölzer zu zählen, die auf den Wagen gebracht wurden.

»Gut,« meinte Johannes Wesselink, »Ihr sollt die fünfhundert Taler erhalten.«

»Was ...?!« schrie der Alte, »wirklich erhalten ...?!«

Dann riß er die Mütze von seinen grauen Haaren herunter und versuchte die Hand des jungen Zimmermeisters zu fassen.

Und Tränen standen ihm in den Augen, die so klar waren wie das gebrannte Wasser in seiner Schnapsflasche; aber sie waren edler und reiner, und sie gingen auch dem Manne ans Herz, der versprochen hatte, die erbetenen fünfhundert Taler zu geben.

»Aber nicht mehr trinken,« sagte Johannes.

»Auf Leben und Sterben ...!«

Wie zum Schwur hielt Leopold Derksen die rechte Hand in die Höhe.

»Dann kommt,« meinte Johannes. »Ich gebe Euch Vollmacht; mit der geht Ihr auf die Sparkasse ins Rathaus ... und was die Rückzahlung betrifft: Ihr könnt Ausstand haben bis Johanni übers Jahr, und langt's nicht, auch länger.«

Langsamen Schrittes gingen die beiden über den Zimmerplatz und von hier in den rückwärtsgelegenen Hausflur – Derksen mit schwimmenden Augen, aber als rehabilitierter königlich preußischer Obergefreiter, und Johannes mit dem Bewußtsein im Herzen, einem braven, alten, wenn auch in den letzten Monaten heruntergekommenen Burschen einen Stein aus dem Wege geräumt und ihm die Hand geboten zu haben, sich, seine Tochter und seine häuslichen Verhältnisse wieder reputierlich zu machen – und sie hatten dabei nicht gemerkt, wie sich in einem Fensterrahmen des Häuschens, wo Bettje Theißen wohnte, ein allerliebstes Persönchen gezeigt hatte, das mit großen Augen in die Welt sah und mit einer stillen und bescheidenen Art von Mitgefühl der ganzen Auseinandersetzung gefolgt war.

Hierauf hatte sich das Fenster wieder lautlos geschlossen – und der ehrwürdige Nußbaum summelte leise im Wind, und die liebe Sonne blitzte hindurch und legte die seinen Schatten der blattlosen Zweige quer über das Gespärre der Balken und Hölzer, die immer weniger wurden und sich allmählich auf Karren verfrachtet sahen, die ihren Weg über die Grabenstraße und dann zum Tor hinausnahmen, um im Laufe des Tages nach Elten zu fahren.

Es war ein reger Betrieb auf dem Zimmerplatz. Alle Gesellen und Arbeiter hatten vollauf zu tun. Immer neue Wagen kamen und gingen, holperten von der Arbeitsstelle herunter, bis so des Nachmittags gegen fünf Uhr herum das letzte Fuhrwerk besorgt war und die Gesellen Schicht machen konnten. –

Es war schon schummrig geworden; der Nachmittag wollte verdämmern, und die alte Linde, die auf dem Markt stand, hatte sich bereits in graue Tücher gehüllt, als Luise am Fenster saß und in das ersterbende Licht des Tages hineinsah. Sie hatte noch auf Monate hinaus die Gerechtsame, in der Posthalterei wohnen zu dürfen. Den Kopf in die Hand gestützt, träumte sie leise vor sich hin, und sie merkte es kaum, wie sich das Dunkel auch durch die Gardinen drängelte und sich's in den Zimmerecken bequem machte.

Fast eine Viertelstunde verrann so – und sie saß da noch immer, und ihre Gedanken gingen zurück und rafften eine Begebenheit auf, wie da vor Jahren einer gekommen, der ihren Lebenspfad zu kreuzen gedachte. Und dieser Mensch hatte sie geküßt mit verzehrender Inbrunst ... aber es war seltsam dabei: wie sie auch denken und nachgrübeln mochte, und trotz des schmerzlichen Sehnsuchtsgefühls, das sie noch immer beherrschte – ein anderer Mund beugte sich über sie, und ehrliche Arme suchten sie an sich zu reißen ... und da war leise die Türe gegangen.

Sie merkte es kaum. Wie in Verwirrung strich sie sich über die Haare.

Trotz der Dunkelheit fanden sich ihre gegenseitigen Blicke.

»Johannes, bist du es?«

»Ja.«

Einen Augenblick zögerte sie noch, als wenn sie in Überlegung stände, als wenn sie etwas suchen müsse; dann aber warf sie sich ihm stumm in die Arme.

»Du gehst heute nach Elten?« fragte sie schließlich.

»Und wann kommst du zurück?«

»Ende der nächsten Woche.«

»So lange bleibst du?« meinte sie zögernd.

»Du weißt doch selber, Luise ...«

»Ja, das weiß ich,« sagte sie flüsternd, »aber mir wäre es lieber gewesen, wenn du jetzt immer hierbleiben könntest,« und da drängte sie sich fester an ihn, als wenn sie bei ihm Schutz suchen müßte.

Er verzog die Stirn und schüttelte matt den Kopf: »Das geht nicht, Luise.«

Kein Laut regte sich mehr in dem umdüsterten Zimmer. Nur eins regte sich und war näher getreten. Und das legte ihm die zwingende Hand auf die Schulter und sah ihn an bis tief in die Seele.

Sie war da.

Die Zweifelsucht von früher war wieder gekommen, und da war es ihm, als senke die Decke sich tiefer, als müsse sie sich auf ihn legen und seine Liebe erdrücken.

Er fuhr sich wie verweht über die Stirne.

»Was ist dir, Johannes?«

»Du, Luise,« sagte er krampfhaft, umklammerte sie und drückte sie an sich, »du mußt mir das nicht übel nehmen. Es war ja alles vorüber – ich war ja zufrieden – ich dachte an nichts mehr ... Ich war ja damals so glücklich zwischen den Wiesen – und jetzt ist der Mensch doch wieder gekommen.«

Der Leib des jungen Weibes zuckte plötzlich zusammen, als wenn er eine schmerzliche Berührung empfände.

»Ich will es nicht wissen, lieber Johannes ...!«

Er fühlte, wie sie in seinen Armen erstarrte.

»Weißt du – nicht wissen ... das ist gut so, Luise. – Aber ich kann's nicht verwinden, Luise. – Du hast ihn doch auch schon gesehen?«

Ruckartig riß sie sich los und versuchte in seine Augen zu starren; aber die Antwort kam nicht von ihrem Munde herunter.

»Du hast ihn doch auch schon gesehen?«

»Ja – ich habe ihn auch schon gesehen.«

Es klang wie von zusammengebissenen Lippen.

»Und da ist mir ...« sagte er tonlos. »Weißt du – mir ist so ... Es will mir nicht aus dem Kopf ... Früher ist das anders gewesen, jetzt aber hat es sich wieder an mich geschlichen.«

Er griff sich an die Schläfen und begann schmerzlich zu lächeln: »Wenn sich das nur wieder kurierte! – Es wird wohl ein Irrtum sein – es ist ja ein Irrtum ...! – Es war ja alles vorüber; ich hatte mir das alles so herrlich ausgedacht; vor Advent wäre unser Glück in Schicht und Richte gekommen ... Und jetzt ist mir so was Schweres in die Arme gefahren, so was wie Eisen in die Arme gefahren, und zieht mir die Hand immer nach der nämlichen Stelle herunter.«

Sie hätte aufschreien mögen.

»Aber was hast du, was ist dir, Johannes?!«

Er lächelte mit herben Lippen.

»Das weiß ich ja selber nicht,« sagte er düster, »aber ich kann nicht dagegen an: es zieht mir immer die Hand nach der nämlichen Stelle herunter, als wenn sie da etwas aufheben müßte, als wenn da ...«

»Johannes ...!«

»Als wenn da unter einem schwarzen Tuch etwas läge – sich etwas befände – als wenn da von früher ... Du ...!« sagte er plötzlich, und seine Stimme nahm einen heiseren Klang an, »ich muß das schwarze Tuch aufheben ... Es ist ja nichts, das weiß ich ja alles; es ist purer Widersinn, was ich fühle und denke – aber nun ist der Mensch doch wieder gekommen, und da will ich doch wissen: was ist zwischen euch beiden geschehen?«

Das Wort war heraus, und dabei preßte er ihre Hand, als wenn sie sich in einem Schraubstock befände.

»Was zwischen uns geschehen ist ...?!« rief sie entsetzt.

Er sah ihre Augen nicht, aber er fühlte, daß sich dort ein verzehrendes Feuer ausgetan hatte.

»Ja – das will ich wissen.«

Er hatte mit einer fast brutalen Stimme gesprochen.

»Nichts!« rief sie gellend, »als das, was ich dir früher gesagt hab'. Er ist frech gewesen – und hat mich in seine Arme genommen ...«

»Und sonst ist nichts zwischen euch geschehen?«

»Nichts – so wahr mir Gott helfe!«

Ein Beben ging durch ihren gemarterten Körper. Sie war dem Umsinken nahe.

»Luise, Luise ...!«

Was ihn angetastet hatte, war wieder von ihm gegangen. Die Stunde von damals, die heilige Stunde, als er mit ihr in den stillen, dämmerigen Wiesen gestanden, glaubte er wiedergefunden zu haben.

Mit einem dumpfen Laut riß er die Schluchzende an sich. »Das hab ich ja alles gewußt ...!« rief er mit zerrissener Seele. »Vergieb mir, Luise!«

Und sie warf ihre Arme um seinen Nacken herum, und sie umklammerten sich, als wenn sie gegenseitig beieinander Schutz suchen müßten. Sie fühlte sich glücklich, und unter schmerzhaftem Kusse gewahrte sie, wie seine Tränen ihr Antlitz benetzten.

So standen sie lange – und dann hatte sich die Türe nach vergeblichem Klopfen leise geöffnet.

»Mynheer Wesselink,« sagte eine ruhige Stimme, »es ist nu wohl Zeit, daß wir abfahren müssen. Sie warten schon alle.«

Und dann hatten sie Abschied genommen, aber es war kein fröhlicher Abschied gewesen. Etwas Dumpfes, Brütendes war dazwischen getreten.

Sie begleitete ihn bis zur Haustür.

Dann ging er.

»Henndrinecke, bringen Sie Licht,« rief sie in die Küche hinein.

Und da brachte Henndrinecke Licht in die vordere Stube. – – –

Fast genau um dieselbe Stunde ertönte in der Kaplanei ein feines Klingelzeichen. Gleich darauf erschien denn auch die Haushälterin des Herrn Vikars im Studierzimmer und stellte mit weichen, feuchten Händen, die wie Gallerte aussahen, eine Öllampe mit mattgrüner Glasglocke auf den Tisch.

Joseph von Arimathia war soeben von einem längeren Spaziergange zurückgekehrt. An seinen Schnallenschuhen haftete noch der Staub der Landstraße. Er war in Moyland gewesen, wo er seinen Schützling dem Herrn Baron präsentiert hatte. Keine Mißhelligkeiten, keine ›Wenn‹ und ›Aber‹ – die ganze Einführung war im beiderseitigen Sinne verlaufen.

Halb in seinen Korbsessel zurückgelehnt, den er bis dicht an den Kamin gerückt hatte, dachte er jetzt über die Vorstellung nach, blinzelte ins Licht und rieb sich die Hände gegeneinander, wobei die Knöchel ab und zu in ein gelindes Knacken gerieten, eine Manipulation, die er immer zur Ausführung brachte, wenn er seine Gemütsruhe gefunden hatte und äußerst vergnügt war.

»Therese, das wäre nun mal wieder richtig gefingert,« sagte Joseph von Arimathia mit behaglichem Schmunzeln und streckte die Beine von sich, daß die silbernen Schnallen auf seinen Füßen im Kaminfeuer zu blitzen begannen.

»Was der Herr Vikar anfassen,« sagte die schlampige Person mit klebrigem Lächeln, »das wird immer richtig gefingert. Auch das mit dem Testament...«

»Das glaubst du, Therese?«

»Und ob!« versetzte die Dicke. »Die Frau Präsidentin hat's mir gesagt, Miekske Pollmann ebenfalls; von Bettje Theißen will ich gar nicht mal sprechen.«

Die ersten Namen betonte sie mit einer überzeugungstreuen Verehrung, beim letzten hatte sie nur ein verächtliches Zucken, das dem Herrn Vikarius auffallen mußte.

»Aber Therese,« fragte er mit gerunzelten Brauen, »was veranlaßt dich nur, so despektierlich von Bettje Theißen zu reden?«

»Weil ich sie für ein Paket schmutziger Wäsche verschleiße.«

»Aber, Therese, ich muß dich wirklich ersuchen...!«

»Ersuchen oder nicht ersuchen,« meinte die Dicke, indem sie asthmatisch nach Luft schnappte, »ich kann mir nu einmal nicht helfen: sie hat's doch mit dem jungen Lehrer gehalten. Das haben doch Zeugen gesehen, das ist unterfertigt und steht in ihren Papieren geschrieben.«

»Und trotzdem,« entgegnete Joseph von Arimathia, »soll niemand den Stein gegen sie aufheben. Gras ist über die ganze Geschichte gewachsen; sie ist in sich gegangen; sie hat ihr Amt als Lehrerin aufgeben müssen und muß sich nun kümmerlich in ihrem erbärmlichen Häuschen ernähren. Wahre Buße nimmt alle Sünden hinweg.«

»Wenn auch,« trumpfte die dicke Person auf und bekam ihren umfangreichen Busen zu fassen, »ich kann solche Frauenzimmers nu einmal nicht leiden, denn ein altes Sprichwort besagt: Was so 'n richtiger Fuchs ist, der verliert wohl seine alten Kulören, aber nicht seinen alten Gusto – und ich kann mir nicht helfen: sie hat noch immer so liebliche Augen.«

»Das sind heilige Augen.«

»Was für welche?«

»Heilige Augen, weltfremde, entsagende Augen! Aber das verstehst du nicht. – Das sind Blicke, wie eine geläuterte Seele, wie die Askese sie eingibt.«

»Je – denn!« meinte Therese, steckte die Hände unter ihre Schürze und wollte sich langsam entfernen, drehte sich aber nochmals um und meinte: »Wenn Sie das denn sagen, Herr Vikarius, dann kann ich mich ja wieder mit ihr freundlich benehmen.«

»Tu das,« sagte Joseph von Arimathia. »Die Nächstenliebe ist die höchste Tugend auf Erden, abgesehen davon, daß ihr beide, du und Bettje Theißen, geistig verwandt seid.«

»Aber, Herr Vikarius...!«

»Gehörst du nicht der Bruderschaft zur ewigen Anbetung an?«

»Das tu' ich.«

»Und sie?«

»Auch.«

»Also ...!« lächelte Joseph von Arimathia.

»Ach, nein,« meinte die behäbige Person und wollte sich schütteln vor klebrigem Lachen, »nu versteh' ich die Sache. Nein – was der Herr Vikarius doch ein gelehrter und witziger Herr sind! – Ach, was – das will ja gar nichts besagen. Nein – der Herr Vikarius sind ein Ausbund von Witzigkeit, ein richtiger Witzbold.«

»Schon gut,« sagte Joseph von Arimathia, »und da wir soeben noch von christlicher Nächstenliebe gesprochen haben, so möchte ich mein Abendessen so gegen neun Uhr gerichtet wissen.«

»I – wo denn! – Wollen der Herr Vikarius noch ausgehn?«

»Ich denke. – Und dann, Therese: wann geht hier die letzte Post nach Kleve?«

»So um sieben 'rum.«

Der Vikarius sah nach der Uhr und nickte befriedigt.

»Da weißt du vielleicht,« fragte er weiter, »ob sich unter den Passagieren auch der Zimmermeister Wesselink befindet?«

»Gewiß, der ist mit 'rausgerappelt.«

»So? – das ist ja erfreulich.«

»Ja. – Herr Severin Piepmann hat es Pitt Hoffmann erzählt, und Frau Hoffmann ist soeben bei mir in der Küche gewesen. – Nein, Herr Vikarius, was der Mensch nicht alles zu tun hat! – Nu baut er sogar noch die luthersche Schule in Elten. Es ist zwar man 'ne luthersche Schule, aber er baut sie doch, während mein Schwager Gertzen, der doch auch ein gelernter Zimmermann ist... Ach, du mein Heiland! – der hat höchstens was zu tun, wenn wir ihm 'ne Hühnerleiter bestellen, oder die gnädige Frau Präsidentin ihren Mann aus der Stube 'rausklingt und ihm die Bettstellage ...«

Joseph von Arimathia warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

»Ach, so ...!« meinte Therese und hielt sich mit ihren fettigen Händen den Mund zu. »Aber Punkt neun wird gerichtet. Piekfein, Herr Vikarius! – Gebratene Leberwurst und gestowte Kartoffeln.«

Dann ging sie.

An der Tür blieb sie wiederum stehen und versuchte nochmals zu schäkern.

»Aber, Herr Vikarius – das mit Bettje Theißen ... Heilige Augen ...?!«

Mit unterdrücktem Kichern hatte sie hierauf die Klinke ergriffen.

»Herr Vikarius, heilige Augen ...?!«

»Ja,« sagte Joseph von Arimathia, »wirklich heilige, asketische Augen, Therese.«

Er hatte sich niedergebeugt und sah in die glimmenden Scheite; als er bald darauf wieder aufblickte, war er allein in der Stube.

In dem geräumigen Zimmer war ein gedämpftes Licht ausgetan. Der merkwürdige Schein der Lampe hatte alles wie mit grünlichen Gazeschleiern umhängen. Bücherregale und Stahlstiche waren nicht mehr deutlich erkennbar. Alles flimmerte resedenfarben unter dem Schimmer der mattdurchleuchteten Lampenglocke. Nur vom Kamin aus streckte sich ein scharfumgrenzter Lichtschein ins Zimmer; in diesem Lichtschein standen die silbernen Schnallen des jungen Cölibatärs wie zwei blitzende Sterne.

Joseph von Arimathia erhob sich.

»Gut – also nach Elten gefahren,« sagte er tonlos. Eine innere Befriedigung spielte um seine Mundwinkel.

Er stand regungslos und wie in Gedanken. Sein mächtiger Körper mit dem tonsurierten Kopf auf dem Stiernacken schien bis zur Decke zu wachsen. Er war wie eine Säule der Kirche. Er kannte nichts Höheres als ihr zu gehorchen, für sie zu arbeiten und in ihrem Dienst dereinstens gottselig zu sterben. Alles übrige war ihm nichts weiter wie ein klingendes Erz und eine tönende Schelle. Warum auch anders?! Er war ja Priester, er war prädestiniert für diese Mission, er wäre in seinem Amt ein Märtyrer geworden, wenn man es von ihm verlangt hätte. Und seine Gestalt wurde immer größer und größer.

Der grünliche Schein, der von der transparenten Lampenglocke ausging, berührte ihn wohlig. Der resedenartige Farbenschmelz wurde immer intensiver und reiner. Und Joseph von Arimathia sah in diesen grünen Gazeschleier hinein; es war ihm so, als wenn sich da etwas zu regen begänne, Wurzeln schlüge, aufstrebe und wüchse – als wenn da ein Bäumchen ...

Und er sah alles mit leiblichen Augen – und seine Blicke dehnten sich in freudiger Erregung maßlos ins Weite, denn er konnte nicht irren: es strebte nach oben – es hatte Zweige und Laubwerk – und die Äpfel waren eßreif geworden.

»Heilige Jungfrau!« rief Joseph von Arimathia, »da steht ja mein Bäumchen!«

Er streckte die Hände und griff in die Luft.

»Ich will dich schütteln – schütteln – schütteln!« sagte er mit triumphierendem Lächeln. »Die Früchte müssen herunter – herunter – herunter...!«

Und er schüttelte weiter aus Leibeskräften; er vermeinte, das Gepurzel der Äpfel zu hören – und dann hatte er mit großen Schritten das Zimmer verlassen.

Die Sterne standen mit fröstelndem Schein am Himmel, als er hinaustrat. Er achtete nicht darauf; nur mit Hut und leichter Soutane bekleidet ging er durch die kalte, friedliche Stille des Abends.

Etliche Menschen begegneten ihm.

Er sah sie kaum, er erwiderte den Gruß nicht, den sie ihm boten. Er hatte etwas anderes zu tun, als an so was zu denken.

Ab und zu tastete er in die Luft und begann wieder zu schütteln. Es schien ihm ordentlich Freude zu machen, seinen Traum weiter zu spinnen und das Erträumte in die Wirklichkeit zu übersetzen. Er sah das Bäumchen, das er schütteln mußte, lebhaft vor Augen. Er fühlte es, er hatte den Stamm zwischen den Händen... Er brauchte nur die gefallenen Äpfel aufzulesen und in ein Körbchen zu bringen...

»Ein gutes Werk soll es werden,« murmelte Joseph von Arimathia zwischen den Lippen, »ein Werk der christlichen Nächstenliebe, ein Werk der Erkenntnis.«

Jetzt stand er vor der Posthalterei.

Hastig zog er die Klingel.

Henndrinecke kam.

»Ist das Fräulein zu Hause?«

»Ja, Herr Vikarius; ich werde dem Fräulein ...«

Sie wollte vorausgehn, allein eine kurze Handbewegung des jungen Geistlichen belehrte sie anders.

Da blieb sie zurück und deutete links auf die Türe.

»Ich danke Ihnen.«

Joseph von Arimathia ergriff die Klinke und trat lautlos ins Zimmer.

Luise saß still bei der Lampe.

Sie wandte ihm den Rücken zu.

Jetzt hörte sie Schritte, ein leises Geräusch; sie kehrte sich um – und ein Mann in schwarzer Soutane stand vor ihr.

Schreckhaft fuhr sie auf.

»Sie, Herr Kaplan ...?!«

»Ja – ich bin es, Luise.«

Fast unmerklich hob er die Hand, als wenn er sie zu segnen gedächte.

»Und Sie kommen ...?«

»Zu Ihrem Besten – im Namen Gottes – im Namen der Kirche.«

»Was heißt das ...?!« fragte sie, nahezu sprachlos geworden.

»Weil ich in dir eine Apostatin der Liebe vermute,« sagte er ruhig.

»Aber, Herr Kaplan, wie soll ich das alles verstehn?«

»Du wirst es verstehn; denn sieh', meine Tochter: die Liebe hat eine weite Bedeutung. Sie umfaßt ebensowohl die eigennützige wie die uneigennützige, ebensowohl die natürliche wie die übernatürliche Liebe – und wenn ich meinen Leib im Interesse des Glaubens dem peinlichsten Martyrium preisgeben würde, trüge aber nicht die wahre Liebe im Herzen, ich wäre zwar ein Bekenner des Glaubens, aber ein unwürdiger, denn mir fehlt die Krone des Lebens: die reine, tugendhafte, allbefreiende Liebe. Und ich fürchte, Luise...«

»Was, Herr Kaplan?«

Sie war mit aufgerissenen Augen näher getreten.

Joseph von Arimathia machte eine sanfte Bewegung.

»Sei still, meine Tochter,« sagte er leise. »Die wahre Liebe ist wie ein erquickender Bronnen; sie ist duldsam und gütig, sie beneidet nicht und freut sich der Wahrheit; sie hofft und hängt nicht am Reichtum, sie erbittert nicht und denkt nicht an Arges, und sie will nicht, daß ich den sterben lasse in meinem Herzen und ihn tilge aus meinem Gedächtnis, aus meiner Seele, wo er doch wohnen sollte – leben sollte für ewig. Und ich glaube, Luise...«

»Herr Kaplan, hören Sie auf!« flehte sie krampfhaft. Eine düsterrote Glut war ihr über Hals und Wangen gerieselt. Sie wollte noch mehr sagen, aber ihre Zunge versagte.

»Ja, Luise,« versetzte Joseph von Arimathia, und seine Stimme, die bisher sanft wie das Girren der Taube gewesen, die wie das milde Geplätscher einer jungen Quelle erschienen, ging über sich fort, wurde mahnend und dringlich und nahm einen Ton an, der an die Auslassungen eines fanatischen Priesters erinnerte. »Ja – wisse, Luise: die Dogmatik redet mit überzeugenden Worten; sie kennt nichts Halbes und trifft mitten ins Schwarze, wenn sie also verkündet: Der Christ soll seinen Nächsten lieben wie Gott – und wer ist im vorliegenden Sinne dein wahrhafter Nächster gewesen?! – Ja, lieben wie Gott, meine Tochter, denn um den wirklichen Nächsten lieben zu können, ihm die Treue zu halten, muß man gefestet sein wie die Kirche des Herren, die auf den Felsen gebaut ist. Und dazu ist nötig: reiße dein Herz von den irdischen Gütern um seinetwillen, um Gottes willen, denn tust du es nicht, so bist du ein dreifacher Mörder geworden. Ein Würger deiner selbst, weil du deine eigene Seele getötet hast, ein Würger des anderen, weil du ihn sterben ließest in vergeblicher Hoffnung, ein Würger der ganzen menschlichen Gesellschaft, weil du, so viel an dir liegt, das Lebensprinzip der Menschheit vernichtest. Und du« – seine Worte wurden hart wie die Kiesel am Wege – »und du hast schon einmal geliebt, heißer geliebt, tiefer geliebt, mit ganzer Seele geliebt – und wagst es, diese frühere, reinere, heiligere Liebe mit Füßen zu treten ...?!«

Luise mußte sich an der Tischkante halten, um nicht niederzufallen; dann bäumte ihr Inneres auf.

»Ich bin mit Johannes versprochen!« rief sie mit stammenden Augen.

»Das weiß ich,« sagte der Vikar mit vernichtender Ruhe, »aber ich weiß auch, daß in deiner Brust ein anderer wohnte und früher gewohnt hat als dieser Eindringling, der nur Zutritt erhielt, weil es eine juristische Floskel erheischte, weil es der letzte Wille eines betörten Mannes verlangte, und es dir besser gefiel, mit liebeleeren Händen nach einem kostbaren Becher zu greifen, als liebebeseelt die schlichte Schale eines schönen, aber arbeitsamen Lebens an die Lippen zu führen. Das Allerheiligste hast du aus deinem Herzenstempel gerissen, nur um dem Gesetz zu genügen und deiner Selbstsucht zu frönen. – Mammon! – Mammon! – Mammon ...!«

Ekstatisch warf er beide Arme nach oben.

»Das ist nicht wahr!« schrie Luise.

Mit einem verhaltenen Laut war sie in sich und auf den Boden gesunken. Dann hob sie den Kopf und sah entsetzt in das Gesicht des vor ihr stehenden Mannes.

»Es ist so,« sagte Joseph von Arimathia und lächelte – und lächelte sanft, und seine Stimme sank wieder herab zu dem sanften Gurren einer Taube und dem milden Geflüster eines Bächleins. »Ja, es ist so, Luise – und du solltest doch wissen, daß eine reine und gottwohlgefällige Liebe nichts mit dem Mammon zu tun hat.«

Eine minutenlange Stille entstand.

Langsam wandte Luise den Blick ab. Um ihre Lippen spielte ein schmerzliches Zucken. Krampfhaft, mechanisch legten sich ihre Hände zusammen. Und ihre Sinne gingen zurück, weit zurück über Monde und Jahre. Und ihre Nasenflügel weiteten sich und sogen wieder den Duft ein, der damals über die Roggenfelder wehte, als der andere sie an sich gerissen und wütend geküßt hatte. Und die Luft war so lind, und der Duft der Roggenblüte kam so betäubend herüber, und die Wachtel lockte im Kornfeld – und dann waren die Sterne aufgegangen am Himmel ... Und sie vermeinte Glocken zu hören, ferne Abendglocken über den Wald fort, und in diese Glocken hinein tönten wieder die Worte des Priesters, sanft, belehrend, dann immer lauter werdend, bis sie anschwollen zu vollen Akkorden: mahnend, zürnend, gebietend – um dann wieder hinzu sterben zu einem sanften Geflüster, das allmählich verhallte.

Sie wollte die zwingenden Gedanken abschütteln – nichts hören – nichts wissen ... und dennoch erschauerten ihre Lippen wie unter der zwingenden Gewalt verbotener Küsse. Atemlos horchte sie auf die Worte des Geistlichen, der sich niedergebeugt hatte und mit weißen Händen ihren Scheitel berührte.

»Denn wisse, Luise, du bist ruhig geworden, und aus deiner Ruhe heraus wird für mich die Hoffnung erwachsen, die mich befähigt, dein Denken anders zu lenken und dich zu begleiten auf den Weg der wahren Erkenntnis. Nur so wirst du glücklich. – Was liegt daran, wenn alles der Kirche verfällt, du aber keinen Schaden erduldest an deiner Liebe und deiner unsterblichen Seele. – Und wenn du es dennoch tätest, wenn du dem Mammon zuliebe deine wahre, heilige Neigung zertreten würdest und deine echten Gefühle zerstampftest ... Luise, ich frage dich als Priester, als dein Seelsorger, als Gesalbter des Herren – kannst du mit einem anderen Begehren im Herzen deinen Gatten umfangen in christlicher Einfalt, ihm dienen, ihm willfahren, bei ihm sein in stillen Stunden, wo die Lippen heißer werden und die Augen ihre eigene Sprache reden, ohne des andern zu gedenken, dich nach ihm zu sehnen, dich nach ihm zu bangen ...?!«

Er hielt inne. Der Atem versagte ihm; dann aber rang sich wie eine Befreiung die Antwort von seinen Lippen herunter.

»Nein! – Nein! – Nein! – das kannst du nicht, meine Tochter, das wirst du nicht können.«

Der Vikar reckte sich auf.

»Der Satan steht hinter dir!« rief er heiser und abgehackt. Die Stimme war wie die einer geborstenen Glocke geworden. »Die Sünde lebt – die Begierde ist nicht tot – das Fleisch ist lebendig ...! – Und wenn er dann käme ... Ich will dir anzeigen, welche die sind, über welche der Teufel Gewalt hat. Das will ich dir sagen, das muß ich dir sagen ...«

Er beugte sich nieder und raunte ihr mit geschlossenen Augen ein Wort ins Ohr.

Dann fuhr er zurück, als wäre dieses Wort ein Pesthauch gewesen.

»Was?!« rief die Ärmste. Sie sah ihm starr ins Gesicht. Mit zuckenden Lippen war sie vom Boden gefahren.

»Ehebrecherin ...!«

Luise griff in die Luft. »Herr Vikar, was wollen Sie eigentlich von mir?!« schrie sie bis in die tiefste Seele getroffen; dann stierte sie apathisch ins Leere.

»Nichts, meine Tochter, gar nichts, mein Kind,« sagte Joseph von Arimathia. Seine Stimme, die drohend und erschreckend geklungen, war sanft und flehend geworden. In dieser Stimme lagen Tränen, die niederfließen wollten. »Ich will nichts, meine Tochter; aber ich kenne Schwester Klarissa. Sie wohnt bei den barmherzigen Schwestern, sie wohnt an heiliger Stätte und ist mild und gut wie die weiße Taube, die den harrenden Menschen den Ölzweig brachte, nachdem sich die Wasser verlaufen. Wende dich an sie, wende dich an Schwester Klarissa. Verlassen Sie dieses Haus, nur einige Tage, nur einige Wochen. Prüfen Sie sich im stillen Gottesfrieden, gehen Sie in sich – und Sie werden finden, was Ihnen not tut. – Gehe zu ihr – bleibe bei ihr – und bedenke die Worte: Und wirkte ich Wunder, so daß ich Berge versetzte und Tote erweckte, trüge aber nicht die wahre Liebe im Herzen, so wären es entweder Wunder des Truges, oder wären es wirklich echte Wunder gewesen, so würde ich dennoch und trotz meiner Wundergabe vom Himmel verworfen. Und daher: suche die wahre Liebe zurückzugewinnen – denn glücklich der Mensch, der die Prüfung bestanden.«

Er wandte sich und ging langsamen Schrittes der Tür zu.

Luise konnte keine Worte mehr finden. Sie konnte nicht weinen, weil sie keine Tränen mehr hatte.

Mit weiten Augen sah sie noch, wie die große Gestalt in der schwarzen Soutane hinausging. Sie war tot für die Gegenwart. Aber sie hörte wieder die Glocken über dem Walde – gerade wie damals. Und die Luft war so lind, und der Duft des blühenden Getreides wehte von den Roggenfeldern herüber – und die Wachtel lockte im Korn – und die Sterne waren aufgegangen am Himmel – unzählige Sterne ...

Joseph von Arimathia hatte sein Bäumchen geschüttelt.


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