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XXII Und dann?

Ein trübseliger Morgen, grau wie Aschensäcke, sah triefenden Auges auf das Werk der Zerstörung. Noch einige sperrige Balken ragten vom Turmkranz gen Himmel. Splitter und auseinandergerissene Hängewerke bedeckten den Platz um die Kirche. Das Mittelschiff hatte ernstlich gelitten, und drei mächtige Langhölzer hatten sich kopfüber in das Dach des Küsterhauses gestürzt und steckten nun da, als müßten sie ›Zeter und Mordio‹ schreien, taten's aber nicht; das hatte der Küster selber besorgt, als der Sturm sie herunterfiedelte und gerade den stärksten in das weitbauchige, zweispännige Küsterbett hineinpraktizierte. Der Kirchplatz sah aus wie ein Hopfenfeld, durch welches der Sturmwind gegangen. Wie ein besoffener Bauernlümmel mit Nägelschuhen und eckigen Ellbogen hatte er sich durch die Gassen geflegelt, hatte die Stangen gerüttelt und die Stangen gebrochen und war dann mit hellem Gejohle nach Hause gestolpert. Sperrige Splitter und Balken! – und ängstliche Dohlenschwärme fuhren ab und zu, lärmten und lamentierten, um dann in die nahegelegenen Wälder von Moyland zu rudern.

Sie beschrieen das Unglück.

Grades Gertzen lag auf den Tod bei den barmherzigen Schwestern. Joseph von Arimathia war ratlos – eine Ratlosigkeit, die noch verwehter und fahriger wurde, als er später vernahm, daß ehrlichdenkende Männer mit dem Vorhaben umgingen, bei der bischöflichen und staatlichen Behörde, der von ihm geschaffenen Zustände halber, vorstellig zu werden und die Dinge mit dem richtigen Namen zu nennen. Diese Frechheit! – Wo blieb da das Ansehn und die Autorität der Kapläne? – Und die dicke Therese ...?! – Sie blies Trübsal wie'n alter Wasserkessel auf seiner kupfernen Tülle, aber nicht wegen des heruntergekommenen Turmhelms, noch weniger ihres verunglückten Schwagers Gertzen wegen. Sie hatte andere Schmerzen. Die verhängnisvolle Stricknadel erschien ihr im Traum; sie war bei ihr, als sie erwachte und die armseligen Sterne im Morgengrauen verblinzelten. Immer hatte sie den mißhandelten Gerichtsvollzieher vor Augen, aber immer nur die Kehrseite von ihm – die Kehrseite mit der stählernen Nadel. Sie hörte das klägliche Indianergeheul, sie sah seine Sprünge, seine grotesken, wütigen Sprünge ... und wie sie um die Mittagszeit einen Kalbsrücken spickte: an Stelle der Spicknadel wähnte sie das Ding in Händen zu haben, das sie glaubensfreudig in den mächtigen Sitzteil von Herrn Frasselt gebohrt hatte. Es war zum Verzweifeln – und diese Verzweiflung reifte bei ihr zur fixen Idee aus. Sie betete, und zwar so innig und herzerhebend, wie sie es niemals getan hatte. Aber während des Gebetes saß ihr ein kitzeliger Finger im Nacken. Es war der Finger des Gerichtes. Sie vernahm eine Stimme – und die Stimme gehörte einem Mann, der ein schwarzes Barett und einen schwarzen Tatar trug. Und der Mann war von einer erschrecklichen Ruhe, hatte ein Gesetzbuch unterm Arm und eine goldene Brille auf der kritischen Nase und sagte kalt und ohne Erbarmen: »Fräulein Therese – zwei Monat' Gefängnis!« Das war ja zum Wahnsinnigwerden! – Sie ging zu Pitt Hoffmann. Pitt Hoffmann verwies sie auf das Martyrium gottwohlgefälliger Frauen. Selbst Julius sprach von weiblichen Blutzeugen, von denen er in der Christenlehre gehört hatte. Aber dieser Trost verfing nicht bei der dicken Therese. Kämpfen – ja, aber nicht leiden wollte sie für die bedrängte und gemaßregelte Kirche. Sie glaubte Heil und Erlösung bei Miekske Pollmann zu finden. Also zu Miekske! – Allein Miekske hatte kein Empfinden mehr für fremdes Elend. Sie hatte genug zu tun mit ihrer eigenen Betrübnis. Ihr Bruder Karlo Antonio war ein Verderbter, ein rückfälliger Mensch, ein niedriger Sünder; er war tot in ihrem Herzen geworden. Miekske fing Fliegen, zehn Fliegen, hundert Fliegen – und wenigstens zwanzig dicke Brummer waren darunter ... aber sie hatte kein empfängliches Herz mehr für die verhängnisvolle Stricknadel und ihre frühere Freundin. Bei der Frau Rektor wagte sie gar nicht mehr vorzusprechen, um deren Ansicht zu hören. Mit der war es nichts mehr. Die hatte schon längst weltliche Anwandlungen bekommen, hielt es mit der lutherschen Tanzmamsell und ließ Gras wachsen über alte Bekanntschaft. Da ging die dicke Therese nach Hause, schlug sich ihre gallertartigen Finger vors Gesicht und weinte, als hätte sie zehn dicke Zwiebeln gesäubert.

»Fräulein Therese – zwei Monat' Gefängnis!«

Entsetzlich! – – –

Johannes Wesselink hatte seine Sachen geordnet. Während der ganzen Nacht hatte er gesucht, gesorgt und geschrieben. Es war eine mühselige und traurige Arbeit gewesen. Den geschriebenen Brief tat er in ein Kuvert, schloß ihn aber nicht. Ums Morgengrauen wollte er das Letzte besorgen. Es kam ihm hart an, als er in das Schlafzimmer mußte, wo sie früher geruht hatte. Da stand die alte Kirschholzkommode und daneben das große Himmelbett mit den blütenweißen Gardinen. Er konnte beides nicht mehr ansehn. Mit geschlossenen Augen betrat er die sonst so trauliche Kammer; mit geschlossenen Augen verließ er sie wieder, nachdem er einem Eckspind ein Päckchen mit Wertpapieren entnommen hatte. Sie stellten das Heiratsgut seiner Frau dar: Obligationen, Schuldverschreibungen und sonstige Effekten, rund dreißigtausend Taler zusammen. Seit dem ersten Tag seiner Ehe hatte er sie nicht mehr berührt; sie hatten ruhig gelegen und Zinsen getragen. Heute fühlte er sie wieder zwischen den Händen, trug sie ins Wohnzimmer und prüfte den Inhalt. Alles stimmte auf Heller und Pfennig. Mit einer Kordel schnürte er die Wertpapiere zusammen, tat den offenen Brief hinzu und steckte sie zu sich.

»Das ist nun fertig,« sagte er leise. »Aber was jetzt – was nun weiter beginnen ...?«

Er war still und gefaßt, und still und gefaßt ließ er sich am Fenster nieder, stützte den Kopf in die Hand und sah zu, wie der Morgen langsam jenseit der verschwommenen Ziegeldächer heraufstieg. Es war ein trüber und vergrämelter Morgen. Kein offenes Licht war in ihm, kein Willkommgruß, keine herzerquickende Freude. Er war dumpf und gedrückt wie Karfreitagsfrühe, wenn sie traurig hinter dem Kalvarienberg anhebt zu steigen. Kein Leben, kein sonniger Ausblick! Nur etliche Krähenvögel schwebten wie florige Gedanken über die Stadt hin. Sie hatten Richtung auf Moyland.

Stunde um Stunde verging. Es war Tag geworden, aber diesem Tag fehlte das schöpferische Werde und die Lust am Leben. Er sah über die Erde mit wirrem Auge und wehem Denken. Sie gefiel ihm nicht die trostlose Erde mit all ihrer Verkehrtheit.

Noch immer saß Johannes am Fenster. Die Wunde schmerzte, und mit dieser Schmerzempfindung kehrte alles noch einmal zurück, was er lieber aus seinem Geiste getilgt hätte. Langsam fuhr er sich mit der Hand über die Stirne. Es mochte auf zehn gehn.

Jetzt wußten die Leute, was ihm alles passiert war. Gut – sie mochten es wissen. Er hatte sich damit abgefunden. Es war eben sein Schicksal, und es kam bloß darauf an, dieses Schicksal zu tragen – männlich und würdig zu tragen ... nur das Schlimmste nicht: irrsinnig werden, das durfte nicht kommen.

Johannes erhob sich. Er mußte sein Tagewerk beginnen. Mechanisch zählte er daher an den Fingern herunter: »Erst zum Notar, dann zu Grades Gertzen bei den barmherzigen Schwestern, dann zu Leopold Derksen – und dann ...«

Er verlor den Faden, griff ihn aber wieder auf, als er sich des offenen Briefes erinnerte, den er mit den Wertpapieren eingesteckt hatte.

»Ja – und dann muß Leopold Derksen nach Moyland,« sagte er ruhig, »muß ihn finden, wo er auch sein mag, muß ihm den Brief übergeben, muß ihn hierher bestellen; denn Zahn um Zahn und Auge um Auge ...«

Etwas wie eine dämonische Freude war in ihm, als er das ›Zahn um Zahn und Auge um Auge‹ herausgebracht hatte.

Unwillkürlich fuhr er sich mit der geballten Faust gegen die Stirne. Aber er war dabei ruhig geblieben, ruhig wie die brütende Stille da draußen.

Der matte Tag blenkerte in den gegenüberhängenden Spiegel. Auch das Gesicht des verlassenen Mannes stand darin, und als er hineinsah ...

»Das nenne ich rechtschaffene Arbeit,« sagte er bitter. »So was muß man sich gründlich besehn und gründlich studieren, denn es wird nicht alle Tage geboten.«

Und er sah nochmals hinein – stier und lange und mit einem heiseren Lachen.

Scharfumgrenzt, von der linken Schläfe bis zum Hinterkopf hatte sich ein weißer Streifen gezogen.

»So durchlebte Stunden bringen das fertig,« sagte Johannes, dann wandte er sich und verließ das Haus, wo ihn jedes Ding daran erinnerte, wie er nicht alleiniger Besitzer ihrer Seele und ihres Leibes gewesen. Eine ruchlose Gewalt hatte in seine Rechte gegriffen und den Tempel seiner Ehre geschändet. Alles vernichtet! – so geht Wassersnot über befruchtete Erde.

»Also erst zum Notar,« sagte Johannes, machte aber doch einen Umweg, um seine Gedanken in die richtige Ordnung zu bringen.

Obgleich eine Last auf seinen Schultern ruhte, die jeden anderen niedergedrückt hätte – er ging ungebeugt, wenn auch schweren Fußes, in Richtung der Sankt Nikolaikirche, wo das Unglück passiert war. Die Menschen sahen ihm nach, aber mit anderen Augen wie früher, nicht mehr mit starrem Hohn und hämischer Freude. Das Mitleid gibt Erkenntnis, und aus der Erkenntnis ringen sich Tränen. Sie sahen in ihm nicht mehr den Abtrünnigen, nicht mehr den Hohnsprecher aller kirchlichen Ordnung. Sie sahen ihn jetzt, wie er hoch oben in Not und Wetter gestanden, wie er gekämpft und gerungen, um das Werk seines Gegners vor dem Verderben zu schützen; sie sahen in ihm den Mann, dessen Herdfeuer entweiht war. Vor solchen Dingen streicht selbst die Bosheit ihre erbärmliche Flagge. Als Johannes Wesselink ging er vorüber, aber verklärt, wenn auch vom Elend gebrochen und bitter heimgesucht und geschlagen. Und das bringt Erkenntnis.

Die früher widerwilligen Hände fuhren aus den Hosentaschen und griffen nach oben ...

Die Menschen grüßten ihn wieder.

Er sah über die Trümmer fort, und dann richteten sich seine Blicke still in die Höhe. Alles menschliche Können war dort oben eitel Stückwerk gewesen.

Auf dem Kirchplatz trat ihm Franz Hartjes entgegen. Er wußte alles und legte den Arm in den seinen. Eine Weile ging der Rektor stumm neben ihm, dann sagte er leise: »Wesselink, wenn Sie es noch nicht gehört haben sollten ...«

»Ich kann alles wissen,« sagte Johannes. »Sprechen Sie ruhig; ich habe sie aus meinem Herzen getan. Sie wohnt nicht mehr da; sie ist gestorben für mich, und was gestorben ist, wird nie mehr lebendig.«

Er wischte sich still über die Augen.

»Das ist gut so,« meinte der Rektor, »denn wenn man alles weiß, kann man das Lebenskonto besser beschließen und das übersinnen, was nun kommen soll. Man muß herzhaft in die Nesseln greifen; so gefaßte Nesseln verlieren an Erbärmlichkeit und vergessen ihr Brennen.«

»Und das bedeutet?« fragte Johannes.

»Sie ist in Moyland – hat sich dort eingetan und gedenkt demnächst mit ihm über das große Wasser ...«

»Wer sagt das?«

»Alle sagen es.«

»Also demnächst ...?« fragte Johannes.

Er kehrte sich um und sah über die umherliegenden Trümmer und Balken.

»Ja,« versetzte der Rektor.

»Und mit – ihm ...?«

»Ja – mit ihm,« war die ruhige Antwort.

»Mag sie gehn,« sagte Johannes und wandte sich wieder.

»Aber er ...! – Aber er ...!«

Seine Stimme nahm einen flatterigen und drohenden Ton an.

»Um Gottes willen!« meinte der Rektor, »Sie wollten doch ruhig, gefaßt sein.«

»Das bin ich,« sagte Johannes, »ich bin es soweit, wie es in meinen Kräften steht. Aber jener Mensch ist mir in die Speichen gefahren, hat mein Leben aus dem Geleise geschmissen – hat es fertig gebracht ... Und deshalb ...«

Er hielt sich nicht länger.

»Und deshalb, Herr Rektor,« rief er mit heiserem Lachen, »das Rad, zu dem die Speichen gehören, geht über ihn fort – zerreibt ihn – zermalmt ihn, so wahr ich noch Leben besitze!«

Die Leute steckten tuschelnd die Köpfe zusammen.

»Kommen Sie, Wesselink,« meinte der Rektor, »das ist nichts für alle Welt, das wird unter vier Augen gesagt und unter vier Augen betrieben. Sie müssen Ruhe haben, Sie müssen alles zu Hause noch einmal und genau überlegen.«

»Zu Hause ...?!« lächelte Johannes, »wo das alles passiert ist? – Da brennen mir ja die Dielen unter den Füßen. Da sieht mich alles an, als wäre ich ehrlos geworden. Ich weiß, was ich tun muß. Das ist überlegt, ganz genau überlegt. Nein, Herr Rektor, ich muß jetzt zum Notar.«

Und dann zählte er wieder mechanisch an den Fingern herunter: »Ja – ich muß zuerst zum Notar – und dann zu Grades Gertzen – und dann zu Leopold Derksen – und dann ... Davon hören Sie später, Herr Rektor. Ich bin mir ganz klar über das, was geschehn muß. Meine Entschlüsse reihen sich aneinander wie die Perlen am Rosenkranz. Die Kette ist völlig geschlossen. Nichts fehlt daran.«

Noch einmal warf er einen Blick über die zerstreuten Balkengerüste; dann gingen sie: Johannes erleichterten Herzens, Hartjes mit schweren Gedanken und Sorgen.

Was sollte das alles? – Wohin zielte das alles?

Sie waren bis zur Wohnung des Notars gekommen. Hier hielt der Rektor den Fuß, an, nahm die Hand des gefaßt neben ihm stehenden Mannes und fragte: »Wesselink, was haben Sie vor?«

Seine Worte hatten einen ängstlichen Anflug.

»Ordnung schaffen,« sagte Johannes, »Kranke besuchen und trösten, eine aus dem Leim gegangene Ehre wieder aufs Frische verdiebeln und richten.«

»Wesselink!« Der Rektor sah ihm starr in die Augen.

»Nichts geschieht,« sagte Johannes, »was meinem Gewissen konträr geht. Leben Sie wohl, Hartjes,« und damit hatte er die Wohnung und die Amtsstube des Notars betreten.

Der amtierende Notar war allein im Bureau, als Wesselink eintrat, empfing ihn mit ausgestreckten Händen, war aber sichtlich betroffen, als er den weißen Scheitel seines Klienten bemerkte.

Johannes sah es und meinte: »Das ist sonst Sache des Alters; bei mir aber brachten es die verflossenen Stunden zuwege, und nun, Herr Notar« – und er legte das verschnürte Paket auf den Schreibtisch – »hier deponiere ich das Vermögen, das mir meine Frau seinerzeit mit in die Ehe gebracht hat: Schuldverschreibungen, Obligationen, hypothekarisch sichere Briefe ... und ich bitte darum, ihr diese Wertobjekte auf eine Art und Weise zustellen zu wollen, wie Sie es für richtig befinden. So wie sie mir das Kapital in einer glücklichen Stunde in die Hände gelegt hat, so und nicht anders, unter Belassung sämtlicher Zinsen, erhält sie es wieder.«

»Es soll geschehn, Wesselink,« sagte der Notar, nahm die Wertpapiere an sich und legte sie zu den übrigen Assignaten.

»Und nun, Herr Notar,« sagte Johannes, »ich möchte selber testieren. Man weiß nicht, was kommt. Ein gewissenhafter Mensch bestellt sein Haus, bevor es zu spät ist. Ich will Ihnen darüber Aufklärung geben.«

Er sprach die nun folgenden Worte in einem flüsternden Ton. Aber der Notar verstand sie und hatte beide Hände des Testierers ergriffen.

»Also das ist Ihr Wille auf Leben und Sterben?« fragte er mit einer Stimme, der man anmerkte, daß ihm die Worte Wesselinks ans Herz gegangen waren.

»Ja,« sagte Johannes. »Wenn auch nicht heute und morgen – es können Jahre darüber vergehen – aber man kann immer nicht wissen ... Mein immobiler und mobiler Besitz ist nicht groß, dafür haben schon die kirchlich-politischen Wirren gesorgt, jedoch immer noch groß genug, Bedürftigen weiter zu helfen. Ihnen sei er vergönnt. Sie kennen ja Bettje Theißen und Fräulein von Satzenhofen. Die beiden haben mir hilfreich und opferfreudig zur Seite gestanden, als ich befürchten mußte, durch all mein Elend den Verstand zu verlieren. Durch ihr Eingreifen wurde das Schlimmste verhindert. Ich bin nicht zum Totschläger geworden – und daher ist es auch mein ernstlicher Wille ...«

Er sprach nicht weiter.

Die notarielle Verhandlung nahm ihren geregelten Fortgang. Nach einer Stunde war alles vollendet. Die Mittagsglocke hatte schon längst angeschlagen, als Johannes Wesselink am Kloster der barmherzigen Frauen die Klingel zog.

Ein Nönnchen erschien, Weltentsagung auf den stillen Zügen, Weltentsagung im Herzen.

»Wie geht es dem Meister?« fragte Johannes.

»Nicht gut,« sagte das Nönnchen. »Er hat nach Ihnen verlangt. Wir haben zu Ihnen gesandt, aber Sie sind nicht zu Hause gewesen.«

»Darf ich jetzt zu ihm?«

»Ja, Sie können jetzt zu ihm,« sagte das Nönnchen. »Er hat nicht mehr lange zu leben. Er weiß es zwar nicht, obgleich er bei klarem Verstand ist, aber der kalte Brand ist in die Wunde geschlagen.«

»Und ist keine Hoffnung vorhanden?«

»Nein,« sagte das Nönnchen.

Von der barmherzigen Schwester begleitet, die fast lautlos neben ihm schwebte, durchschritt er die weiten Gänge, die so ruhig und still waren, als müsse man die leisen Atemzüge der Barmherzigkeit spüren, die hier lebte und webte und mit friedlicher Hand die Werke der christlichen Nächstenliebe austat.

Am Ende des Hauptganges flimmerte unter dem Bildstock einer gipsenen Madonna das ewige Lämpchen. Sein mildes Licht wirkte wohltuend, erlösend. Es war wie ein sonniges Lächeln, das von einer anderen Welt erzählte.

»Hier,« sagte das Nönnchen, öffnete eine niedrige Tür und betrat mit Johannes das Zimmer, in welchem Grades die letzte Stätte gefunden hatte, von der er nur aufstehn sollte zu einem besseren Leben.

Die Schwester hatte sich an das Fußende des schlichten Bettes begeben.

»Herr Gertzen,« sagte sie leise, »hier kommt ein lieber Besuch.«

Grades versuchte die Hände zu strecken.

»Junge, Junge, Junge ...!« kam es mühsam von seinen trockenen Lippen herunter, »das bedeutet aber 'ne kolosale Reputatschon für meinen erbärmlichen Menschen.«

Mit seinem dicken Zimmermannsdaumen wischte er sich schwach über die Augen.

»Das freut mir aber, daß Sie mir hier noch beglücken.«

Johannes war näher getreten und hatte die Hand des Kranken genommen.

»Grades, das gehört sich so,« sagte er tröstend, »haben wir doch als Leidensgefährten gemeinsam dort oben gestanden.«

»Ja woll,« lächelte Gertzen, »aber wie! – und ich frage: warum denn? – Ich mit 'ner Schnapsbouteille und als ein veritabler Esel – und Sie ...? – Sie haben als Konkurrenzmann mit's Können auf Ihrem kolosalen Thronsitz gesessen. Geholfen hat's zwar nicht mehr, aber daran bin ich alleinig das unschuldsvolle Karnickel gewesen.«

Er lächelte traurig.

»Grades, lassen wir das,« meinte Johannes. »So'n richtiges Unglück bringt die Menschen wieder zusammen. Wir haben's an unserem eigenen Leibe erfahren, und das soll auch so bleiben für später.«

»Ja woll,« sagte der Kranke, »das ist auch ganz meine Erwartung. Pitt Hoffmann schmeiß' ich beiseite – und ich frage: warum denn? – Er ist 'ne Blamation für die katholische Kirche. Er hat mir aufgestochen, und wenn ich wieder mobil bin, dann tu' ich mir bei Ihnen als Lehrgeselle benehmen; denn ich bin man ein bloßer Zimmermannspinsel gewesen und halte meine Planens für dämlich und Ihre für richtig – und darum und deshalb ... Und nu komm mal her, Wesselink, und gib mir 'nen Versöhnungskuß – und wenn ich mal wieder wohlauf bin ...«

Johannes beugte sich nieder.

»Das freut mir aber kolosal,« sagte Grades, »daß du noch die majestätische Gnade besitzt, so 'nem alten Schnapskonkurrenzmann ...«

»Das ist ein gottwohlgefälliges Sterben,« hauchte die Schwester, als sie bemerkte, wie der Kopf des Sprechenden leise zurücksank. Mit liebevollen Händen rückte sie ihm die Kissen zurecht. Seine Worte gingen ins Weite, ins Irre. Sie zerflatterten wie lose Bänder, die der Wind über die Kirchhofmauer hinwegtreibt.

»Junge, Junge, Junge ...!« sagte er unstet, und dann warf er Schnapsbouteille, Sprengwerke und Balkensiele bunt durcheinander. Und dann wieder sprach er von Pitt Hoffmann und der dicken Therese, hielt Zwiesprache mit Joseph von Arimathia und dem Balken, der ihn niedergerissen, hielt seine Pläne für dämliche Pläne und wollte absolut nicht vom Turme herunter. »Junge, Junge, Junge ...!« sagte er schließlich, »du bist doch der Kerl mit's kolosale Handwerk gewesen.«

Dann schien er zu schlummern.

Noch immer hielt Johannes seine Rechte in Händen.

Die Schwester warf ihm einen beklommenen Blick zu.

»Es ist Zeit,« sagte sie leise.

Und da ging Johannes bewegt aus dem Zimmer, nahm von dem Nönnchen Abschied und begab sich ins Freie.

»Nun zu Leopold Derksen,« meinte er ruhig, atmete kräftig auf und schluckte seine Traurigkeit und seine Beklemmung hinunter. Seinem früheren Gegner hatte er Lebewohl gesagt. Ein Stein war ihm vom Herzen gefallen. Grades konnte in Frieden dahinziehn, und das sollte bald kommen. Aber er – er mußte noch leben, mußte noch die Rechnung begleichen, mußte noch das Letzte besorgen – und wenn das besorgt war ... Es war ja nicht so leicht von der heimischen Erde Abschied zu nehmen, denn es konnte doch immer passieren ... Aber die Ehre, die Ehre ...! – Die alten Linden vor dem Kloster schüttelten ihre würdigen Häupter, als er vorbeiging. Eine Ringeltaube flog ab und zu. Er hörte ihr feines und melancholisches Rucksen. Gemessenen Schrittes bog er in eine Seitengasse ein. Fünf Minuten später vernahm er das laute Zwiegespräch von Hammer und Amboß. Die beiden redeten eine deutliche Sprache und ließen sich nicht auf diplomatische Verschmitztheiten ein. Klar und bestimmt gaben sie ihre Meinung zum besten, und Funken waren dazwischen.

»Ricke – tacke ...!«

Mit Schurzfell und Quäkerbart, der wie ein abgeriffelter Taukranz aussah und sich von Ohrläppchen zu Ohrläppchen hinzog, stand Leopold Derksen am Amboß. Sein Hammer bearbeitete eine glühende Pflugschar.

Sein Schwiegersohn Jans ließ den Blasebalg fauchen und prusten.

»Halt!« sagte Leopold Derksen, als Johannes seine Schmiede betrat, »nobler Besuch will honorig begrüßt sein,« stellte den Hammer beiseite, trocknete seine schwieligen Hände am Schurzfell ab und ging ihm entgegen.

»Tag, Johannes, wo geht's dich? – Schlecht, das weiß ich, hundsmiserabel – und ich wäre schon vor Mittag als braver preußischer Obergefreiter zu dir gekommen, um dir mit meiner Kondolierung gehorsamst unter die Augen zu treten – aber wie das so ist: Unglück will allein sein. Das muß zuerst seine Abkühlung haben. In so was soll man sich nicht hineinmengeln. – Nu aber: du kommst von allein; also du willst was. Du willst mir gebrauchen. Gut – ich steh' zur Verfügung. Ganz mein Pangschang, »und wenn's mit dem Bandeisen sein müßte.«

»Ja, Derksen, ich will was,« sagte Johannes.

»Dann bitte ich dir in meine Gute Stube hierneben, denn bevor du dich meiner bedienst, muß ich dir beweisen, daß ich jetzt ein ehrlicher, ordentlicher und fleißiger Kerl bin. Also – ich bitte hierneben.«

Er dienerte mit einer feierlichen Geste und ließ seinem Freunde den Vortritt.

Johannes ahnte nicht, wo der schnurrige Kauz hinauswollte, fügte sich aber und betrat mit ihm ein rechts von der Schmiede gelegenes Zimmer, wo sie allein waren, und Derksen mit einer gewissen Würde und Förmlichkeit eine Schublade aufschloß und auszog.

»Johannes, was siehst du?« fragte er hierauf.

»Fünf Geldsäcke.«

»Richtig – à hundert Taler, die ich dir abgepumpt habe. Sie haben mir aus der schwersten und miserabelsten Predullig geholfen, desgleichen dito meinem auserwählten Fraumensch von Tochter. Morgen gehen sie retour an deine Adresse.«

»Schön,« sagte Johannes.

»Bitte,« entgegnete Derksen, »das war ich mir als Obergefreiter und alter Achtundvierziger schuldig, und nu ...«

Er deutete mit seinem rußigen Zeigefinger auf ein wackeliges Glasspind, in welchem sich Porzellanassietten, Teller und Kaffeetassen befanden.

»Was siehst du da, lieber Johannes?«

»Je, was soll ich sehen? – Kaffeetassen und Teller.«

»Höher – auf die erste Etage!«

»'ne Schnapsflasche.«

»Richtig – 'ne Schnapsflasche, wie sie auch dein armer Konkurrenzmann gebraucht hat; denn ich war leider wie er mit demselben Übel befangen. Aber ich frage dir jetzt: ist die Bouteille voll oder ledig?«

»Leer,« sagte Johannes.

»Du mußt sie richtig unter Beaugenscheinigung nehmen, lieber Johannes.«

»Ich kann mir nicht helfen – aber ich finde sie leer,« sagte Wesselink.

»Dann irrst du dir,« lachte der Alte und bekam seinen haarigen Taukranz zu fassen. »Der leibhaftige Schnapsteufel ist drin. Ich habe ihn hineinpraktiziert, verstöpselt und desgleichen dito versiegelt. Und so wahr ich mir Leopold Derksen benenne« – und er schlug sich dabei auf das Schurzfell, daß es krachte und knallte – »so wahr habe ich, seitdem du mir die fünfhundert Taler geborgt hast, keinen Tropfen ›Ollen Klaren‹ mehr hinter die Binde gegossen. Auf Parole – das bin ich dir und meinen königlich preußischen Obergefreitenknöppen schuldig gewesen. Und die da« – und er zeigte dabei auf die verstöpselte Flasche – »zum ewigen Angedenken soll sie da stehen.«

»Das ist brav,« sagte Johannes.

»Und nu,« fiel der Alte dazwischen, »da ich mir dir gegenüber als ehrlich herausdividiert habe, kannst du dir meiner auch ehrlich bedienen. Hier steh' ich, Johannes – los dafür.«

»Das will ich,« sagte Wesselink und fuhr sich dabei wie grübelnd über die Stirne. »Derksen, Ihr kennt doch mein Unglück?«

»Ja,« sagte Derksen und tat so, als sei er gewillt, etliche Partikelchen Hammerschlag von seinem Schurzfell herunterzublasen, brachte es aber vor Schluchzen nicht fertig. »Das kenn' ich, Johannes. Ich habe schon darüber nachsimuliert und desgleichen dito gedacht: Eigentlich bist du schuldig an das niederträchtige Unglück, denn was sie ist – du hast sie selber mit der liebwerten Tanzmamsell aus dem Kloster getrommelt, und das ist von uns beiden 'ne riesige Dummheit gewesen. Nu aber, Johannes ...«

»Ihr sollt mir einen Gefallen erweisen.«

»Mach' ich.«

»Und nach Moyland hinüber.«

»Zu Pollmann, zu dem verfluchten Zuaven?«

»Ja.«

»Mach' ich desgleichen dito. Soll ich direkt ein Bandeisen mitnehmen, um dem imfamen Kerl mit der Zuavenmontierung ...?«

»Nein – aber diesen Brief sollt Ihr in seine Hände legen, Derksen, in seine eigenen Hände. Es ist ein Schriftstück auf Leben und Sterben.«

Mühsam brachte er das offene Schreiben zum Vorschein.

»Von seinem Inhalt sollt Ihr Kenntnis erhalten,« sagte er beklommenen Herzens, »damit Ihr Euch einrichten könnt, wenn's not tut.«

»Schön,« nickte Derksen.

Und Wesselink las, erst leise, bedächtig und mit weher Stimme, oft unterbrochen von seinem aufmerksamen Zuhörer, dann immer stärker, nachhaltiger und zuletzt mit bitterem Ingrimm.

»Und daher,« kam er zum Schluß, »ich erwarte Sie innerhalb fünf Tagen auf meinem Grund und Boden und auf der Stelle, wo Sie es gewagt haben, mein Glück zu erwürgen. Aussprache und Ausgleich sind nötig. Kommen Sie nicht – dann komme ich, und glauben Sie mir: ich weiß Sie zu finden. Nichts hilft Ihnen, vor nichts sind Sie sicher, bis wir Auge in Auge gestanden. Ich bin Ihr Schatten, Ihr Verhängnis – jeden Tag, jede Stunde, jede Minute ... Sie entgehen mir nicht. Ich stehe vor Ihnen, bevor Sie es wissen – totensicher. Also am besten: Sie kommen. Wesselink.«

Eine tiefe Stille folgte dem Vorlesen des Briefes.

Einen Augenblick glaubte der Alte, das Herz wolle ihm stille stehn unter dem Schurzfell. Dann bekriegte er sich.

Wortlos hatte er die Hand des jungen Zimmermeisters ergriffen.

»Ich verstehe dir, lieber Johannes,« meinte er schließlich.

»Die Sache ist somit abgetan,« sagte Wesselink.

»Abgetan,« versetzte der Alte, »noch heute geh' ich nach Moyland.«

»Lebt wohl denn!«

»Johannes, noch ein Wort; aber nicht von wegen die Sache – die wird gemacht – sondern von wegen des Kanzleibogens. Hast du dir auch unterschrieben?«

»Wo unterschrieben?«

»Unter die große Geschichte. Heute – soeben. Herr Piepmann geht mit Tinte und Feder herum. Er ist ganz Feuer und Fett für die Sache. Sie melden an die Regierung und das bischöfliche Hochamt. Ganz meine Meinung. Sie wollen Joseph von Arimathia und die heillosen Zustände ins Land transponieren, wo der Pfeffer wachst.«

»Ach, Gott, Derksen ...!« sagte Wesselink, »ich habe jetzt an andere Dinge zu denken. Später vielleicht ...«

»Schön – aber unterfertigen mußt du dir ernstlich. Es gilt dem Vaterland und dem Herrn Doktor Steinberger. Ich, der Herr Notar, der Rektor, der Doktor – kurzum alle Patriotischen haben sich bereits unterschrieben. – Also es bleibt dabei: ich gehe nach Moyland. Adjüs denn, Johannes.«

Noch einmal sah ihm Wesselink still und fest in die Augen.

»Aber bevor Ihr hingeht, müßt Ihr noch Grades Gertzen besuchen,« sagte er ruhig. »Der Mann lebt nicht mehr lange.«

»Weiß ich. Hab's schon gehört. Es ist doch 'ne fürchterliche Nacht da oben gewesen! – Ich mache noch zu ihm. Er ist ja in seinem Geschäft man 'ne bloße Zimmermannsnull, aber sonst ein gottwohlgefälliger Hammel unter uns Männern gewesen. Bettstellagen aufbauen und abreißen – das konnt' er, aber desgleichen dito keinen Turmhelm errichten. Da gehören denn doch andere Könners dahinter. Hat's ja auch da oben nicht nötig. – Gott habe ihn selig! – Johannes, die menschliche Dummheit kommt doch immer zu Fall. Ich meine ihn damit und seine Schwägerin, die dicke Therese. Lassen wir sie; aber dem Kerl mit der Zuavenmontierung ... Na, du wirst es schon machen.«

»Ja,« sagte Wesselink, »Zahn um Zahn ...«

Sein Auge blitzte.

»Das ist ganz mein Pangschang,« ergrimmte sich Derksen, »und Auge um Auge ... Du kannst dir auf meine königlich preußischen Obergefreitenknöppe verlassen.«

Er stierte zu Boden.

Als er aufblickte, hatte Johannes Wesselink das Zimmer verlassen.


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