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XII Intermezzo

Schlußball ...!

Die kleine Stadt war nicht wieder zu kennen. Alle Leute machten lange Gesichter; die niederrheinischen Menschen machen immer lange Gesichter, wenn sie heiter gestimmt sind. Das liegt so im Blut, das liegt in der Eigentümlichkeit ihrer eckigen Züge, das ist ein Vermächtnis von alters her und gehört zu den Menschen, wie bunte Kühe und phlegmatische Windmühlen, die an verschlafenen Kolken träumen, zur niederrheinischen Gegend gehören. Selbst die lustigste Stimmung hat am Niederrhein immer etwas Trauriges an sich. Wenn die Merle flötet ... Sie flötet hier ganz anders wie unter einem anderen Himmel. Sie flötet mit einem melancholischen Zauber, mit einer schluchzenden Wehmut, mit einer geheimnisvollen Melodik, die getragen über die Wiesen dahinzieht und glücklich ist, an den silberlichten Zweigen der Weidenbäume haften zu bleiben. Und wenn dann der Wind ganz leise hineingreift, und die Weidenruten in ein sanftes Schwingen geraten, dann fallen Tränen herunter(.?) Und das ist traurig – sehr traurig! – Aber dann kommt wieder das Steif-Putzige und Perückenartige der Menschen und der anderen Lebewesen dazwischen, daß man die herabgefallenen Tränen vergißt und immer und immer wieder die bunten Kühe betrachten muß, die im Grase liegen, wiederkäuend ihre Kaumuskeln bewegen und glotzäugig über die monotone, weite Ebene muhuen. Und wie die Merle auch flötet – alles bekommt einen nüchternen Anstrich. – Nur ab und zu ein einsames Landhaus! – Und die Wege des abgezirkelten Gartens sind mit Schmaltebläue und roten Ziegelstückchen bestreut, und langweilige Tulpen grüßen von regelrechten Beeten herunter, und Myfrauen und leckere Meischen gähnen in die Tulpenwelt hinein und trinken Tee aus chinesischen Tassen. Und es duftet nach Speculatius und Nymweger Moppen. Und ein dicker Heerohme kommt, um Visite zu machen, wischt sich aber vorher beim blankgeputzten Torgitter noch den Schweiß von der Stirne ... Und je länger man in die niederrheinische Landschaft hineinsieht – sie verdichtet sich, sie schrumpft zusammen und wird schließlich zu einem vierschrötigen Menschen, der mit glattrasiertem Kabeljaugesicht, einer seidenen Schirmmütze auf den verschnittenen Polkahaaren und in aller Gemütsruhe vor seiner behäbigen Kate sitzt, und hemdsärmelig ist und eine Velvethose trägt und die Lammfellsocken in blankgescheuerte Holzschuhe gesteckt hat und mit steifleinenem Gesicht blaue Rauchwölkchen aus seiner langen Tonpfeife in die weite Landschaft hinausbläst. – Und dann beginnt wieder die Merle zu flöten: tief, wunderseltsam und traurig. Und der alte Zauber streckt von neuem die Hand aus – und heiße Tränen fallen wieder von den schwanken Weidenruten herunter. Und die Merle singt immer weiter und weiter und immer voller und voller, und über die Züge des eckigen Mannes mit den Polkahaaren geht nunmehr ein Lächeln, ein kantiges Lächeln – zwar nicht besonders fröhlich und heiter, aber er lacht doch, er lacht wie die übrigen Menschen, die in der Niederung sitzen ... und die Mühlen stakeln durch die ruhige Luft ... und es ist alles so seltsam, denn die vom Niederrhein können gleichzeitig lachen und weinen, wenn die Merle singt. Ich hab's auch so gemacht, wie ich noch ein kleiner Junge war und mit großen, sehnsüchtigen Augen in das Land meiner Jugend hineinsah ...

Noch sang nicht die Merle; es war noch nicht Frühlingszeit, allein die Tanzmamsell hatte heute zum Schlußball geladen, und da wurden die Leute heiter und machten lange Gesichter. Komische Menschen ...! – aber es war so, und Bettje Theißen lief mit bunten Papierrosetten in der Turnhalle umher, um dem Lokal für den heutigen Abend ein möglichst festliches Aussehn zu geben.

Girlanden von Buchsbaum schaukelten von der Decke herunter, Papierketten schwangen sich keck von Pfeiler zu Pfeiler, und an der einen Schmalseite des Saales war eine Art von Podium errichtet worden, wo neben dem Triangel eine Solotrompete, eine Klarinette und zwei erste Geigen arbeiten sollten. Als dann noch die alte Baronin in höchst sinniger Weise verschiedene Fähnchen am Kronleuchter befestigt hatte, die dem ganzen Arrangement erst den richtigen Dreh gaben, und hierauf, gewissermaßen zum Beschluß der Arbeit, Bettje Theißen mit einem Gläschen verzuckerten Sodawassers traktierte, da wischte sich diese über den Mund, legte die Hände zusammen und sagte: »Nein, Frau Baronin, das wird aber heute abend eine großartige Sache!«

»Das wird es,« konstatierte die Alte, »denn wir, die wir dem altadeligen Hause derer von Satzenhofen angehören, wir verstehen es schon, die richtigen Feste zu feiern und die hierzu erforderlichen Arrangements zu treffen. Aber, aber, aber ...« setzte sie kopfschüttelnd hinzu und ließ sich, in einer plötzlichen Anwandlung von Schwäche, auf das Trittbrett einer Stehleiter nieder.

»Was ist Ihnen?« fragte Bettje mit ängstlichen Augen.

»Ach, Fräulein Theißen, wenn ich so alles bedenke ...! – Früher hatten wir Satzenhofen nur mit wirklichen Parkettböden und echten venezianischen Glaslüsters zu schaffen – und jetzt ...«

Mit einer unendlichen Wehmut hob sie ihre feuchten Blicke zu dem Petroleumleuchter empor, dessen schwitzende Behälter große Öltränen absonderten, die zu Boden tropften und dort tellergroße Kringel bildeten.

»Ach, meine Tochter, meine unglückselige Tochter! – Das Kind war berufen, nur unter dem sanften Schein von duftenden Wachskerzen zu tanzen und muß sich jetzt mit einem ganz gewöhnlichen Petroleumleuchter behelfen. Das sind Schicksalsschläge, Fräulein Theißen, wirkliche Schicksalsschläge!«

»Je,« sagte Bettje, »das ist nun nicht anders. Ich habe auch entsagen müssen. Früher die große Liebe und das große Glück im Herzen, als die Johannisfeuer brannten, und wir an der Deichflanke lagen – und jetzt ... Was ist mir von damals geblieben? – Nur die heiligen Augen ...! – Aber die Erinnerung an das Gewesene ist doch auch schön, meine sehr verehrte Baronin.«

»Allerdings,« sagte die Alte, »man muß dem lieben Gott auch hierfür danken, denn man kann immer nicht wissen ... Fräulein Theißen, es gibt noch andere Dinge, schwerere Lebenslagen, die einem Menschen das Herz abstoßen können. Und nun wollen wir gehn und uns auf den heutigen Abend vertrösten.«

»Das wollen wir,« sagte Bettje – und die heitere Stimmung kam wieder, als sie die Turnhalle verließen und zur Überzeugung gelangten, daß sie alles sehr schön gemacht hatten.

Aus Freude darüber warf sich die alte Baronin ein feines Prischen in die aristokratische Nase – und da mußte sie niesen.

»Wohl bekomm's,« sagte Bettje.

»Ich danke.« – – –

Ja – fast alle Leute der kleinen Stadt waren trefflicher Laune. Allerdings – etliche versagten, und unter diesen waren es besonders drei, die absolut keine fröhlich-langen Gesichter bekamen, und das waren Fränkel Haas, Julius Hoffmann und die Rektorin Hartjes. Fränkel, weil er noch immer mit einer geschwollenen Backe umherlief, Julius, weil ihm strengstens untersagt worden war, beim Schlußball durch die Fensterscheiben zu sehen, und Frau Hartjes, weil sie seit der gestrigen Begegnung mit ihrem Manne jede, aber auch jede Fassung verloren hatte und sich für das unglücklichste Geschöpf hielt, das unter Gottes Himmel noch lebte. Sie war kopflos, hoffnungslos geworden und reinweg aus dem Häuschen geraten. In dieser Verfassungslosigkeit schickte sie ihr Hausmädchen zu Frau Hoffmann und Therese von Arimathia, um diese zu sich zu bitten und bei ihnen Rats zu holen. Die Damen sagten denn auch ohne weiteres ihre tatkräftige Hilfe zu, erschienen um die Schummerstunde, nahmen, ohne lange Präliminarien zu machen, auf dem Sofa Platz und saßen nun da wie zwei fette Staatsanwälte, die gekommen waren, um über Franz Hartjes, der ahnungslos in seinem Studierzimmer hockte, unnachsichtlich und in aller Form in die Gerichtsverhandlung einzutreten.

Das Mädchen brachte Licht und ging dann wieder.

Unter atemloser Stille und beiläufigem Kopfnicken der beiden Staatsanwälte referierte Frau Hartjes, was sich alles begeben hatte, beobachtete dabei auch die kleinsten Details, ließ ihre eigenen Erfahrungen und die von Therese Vogels mit einfließen und brach, nachdem sie alle gravierenden Punkte aufs Tapet gebracht hatte, in die tragischen Schlußworte aus: »Nein – diese Männer ...! – Ich bitte Sie, meine Damen, wie soll ich mich nur im vorliegenden Falle verhalten – und zwar unter Berücksichtigung des Umstandes, daß hier das Seelenheil eines christlichen Mannes auf dem Spiel steht?!«

Unter heißem Schluchzen drückte sie nach dieser Auslassung ihr Taschentuch gegen die zuckenden Lippen.

»Hier muß eingeschritten werden, aber kräftig,« meinte die dicke Therese, indem sie ihren Daumen so energisch auf das vor ihr liegende Modeblatt setzte, daß ein länglicher Fettflecken zurückblieb.

»Wie sich das gehört,« sagte Frau Hoffmann. »Sie müssen ihn attrappieren, Sie müssen ihn, wie mein Pitt sagt, in flagellanti erwischen, denn nur so kann ihm und der Tanzmamsell das liebevolle Handwerk gelegt werden. Es wird zwar ein schweres Akkuschemang ...«

»Ach, was!« fiel die Dicke dazwischen, »schwer oder nicht schwer – das ist ganz partie egal! – Hier muß eingegriffen werden, und zwar je eher je besser, um so mehr, da ich die Ansicht vertrete, daß sich auch das Frauenzimmer mit die heiligen Augen dazwischen gesteckt hat. So 'ne Person lebt ja nur von Skandalen und dergleichen Schosen.«

Frau Hartjes sah sich erschrocken um.

»Aber wie soll ich das machen, meine Damen?« fragte sie ängstlich.

»Ganz einfach,« dekretierte die Haushälterin. »Sie müssen sich mannbar verkleiden; Sie müssen Rock, Hose und Weste von ihrem Ungetreuen antun und ihn in dieser Maskierung eigenhändig belauschen.«

»Meine Damen, das glauben Sie wirklich?!« sagte Frau Hartjes. Der Vorschlag war ihr ordentlich in die Glieder gefahren. Unruhig rutschte sie auf ihrem Rohrsitz herum. »Soll ich wirklich, meine Damen ...?«

»Unbedingt,« redete ihr die Dicke zu. »Sie müssen ein übriges tun und für Ihre weibliche Ehre ein bißchen riskieren, Frau Präsidentin. Heute ist der letzte Termin. – Und nun gehen Sie man hin und holen die Bekleidungsstücke von Ihrem Herrn Gemahl, damit wir sie beaugenscheinigen können, ob sie für Ihren weiblichen Körper auch passen. Die Sache hat Eile, denn Schlag Klock acht haben die evangelischen Edelmänners zu 's Tanzen gebeten, und so 'ne evangelischen Rackers sind immer prompt mit die Arbeit.«

»Also – Sie meinen ...?«

»Aber entschieden,« sagte Therese von Arimathia und begann ungeduldig mit ihren Augen im Zimmer herumzuwuschern. »Indessen jedoch,« fuhr sie dringlicher fort, »wenn Ihnen die männliche Kleidung konträr steht – ich kann nicht mehr tun, wie einen guten Rat erteilen. Den wollten Sie haben, und was ich gesagt hab', das ist meine offene und ehrliche Meinung gewesen.«

»Wie sich das gehört,« sagte Frau Hoffmann – und da konnte die Ärmste nicht anders: sie verließ schweren Herzens das Zimmer, um bald darauf mit etlichen Garderobenstücken ihres Mannes wiederzukommen.

»Hier sind sie,« sagte sie mit niedergeschlagenen Blicken und deponierte die Gegenstände ganz verschämt in die äußerste Ecke der Stube.

»Man her damit,« meinte die Dicke, erhob sich und bekam den Rock mit beiden Ärmeln zu fassen. Hierauf stand sie in langer Betrachtung; endlich war sie schlüssig geworden.

»Nein,« sagte sie mit ihrem fettesten und klebrigsten Lachen, »wenn ich Ihnen bekucke, Frau Präsidentin – unmöglich. – Und hier die Weste – desgleichen unmöglich. Das ist aber sehr fital, denn für Ihre Portionen, Frau Präsidentin ...«

»Da könnte ich aushelfen,« meinte Frau Hoffmann. »Miekske hat augenblicklich den Zuavenmanto ihres Herrn Bruders in Aufmunterung. Man könnte mal anfragen. Miekske wird gewiß die Freundlichkeit haben. Und wenn Sie gestatten; Frau Pergamentpräsidentin ...«

»Natürlich,« nickte die dicke Therese. »So'n feiner Gedanke ist nicht alle Tage zu haben.«

»Meine Damen, das geht doch nicht!« entsetzte sich Frau Hartjes. »Was wird die Welt von mir sagen, was wird Miekske sagen?!«

»Gar nichts,« meinte Frau Hoffmann.

»Aber wird sie schweigen – und werden Sie selber dieses Geheimnis bewahren?«

»Auf Leben und Seligkeit!« beteuerten die beiden Staatsanwälte.

»Na, denn ...« gab sich endlich Frau Hartjes zufrieden, mußte sich aber setzen, um nicht durch die Fülle der auf sie einstürmenden Bedenken schwindelig zu werden. Und wie sie so saß, da hatte Frau Hoffmann ganz leise und auf Zehenspitzen das Zimmer verlassen und war dann zu Miekske gegangen.

Therese aber ...

Da stand sie, hielt die Buckskinhosen des Herrn Rektors in Händen, maß die Spannweite mit ausgebreiteten Armen und richtete ihre Blicke bald auf den Hosenboden, bald auf Frau Hartjes, scheinbar damit beschäftigt, das Fassungsvermögen des Bekleidungsstückes mit dem Gehwerk der vor ihr sitzenden Dame in Parallele zu bringen.

Der Vergleich schien ihr sichtlich große Schwierigkeiten zu machen. Verschiedentlich schnappte sie asthmatisch nach Atem.

»Stehn Sie einmal auf,« sagte sie endlich. »So! – und nu drehen Sie sich einmal herum, damit ich die andere Seite der Medaille vor Augen bekomme.«

Frau Hartjes gehorchte. Es geschah mit dem mechanischen Verhalten einer Gliederpuppe. Sie war ein gefügiges Werkzeug in den Händen der Dicken geworden, schreckte aber unwillkürlich zusammen, als diese mit einem negativen Resultat herausrückte.

»Abgelehnt,« sagte Therese von Arimathia und ließ dieser Auslassung wiederum eine klebrige Lachsalve folgen. »Für die Tanzmamsell – ja; aber Ihre Sitzgelegenheit, Frau Präsidentin, ist ein auserwähltes Stück von Komplettheit. Allen Respekt davor! – aber man kann nicht die Menschenunmöglichkeit wollen. Man muß mit die Tatsachen rechnen, denn man kann doch keinen ausgewachsenen Kürbis in 'nen Klingelbeutel hineinpraktizieren!«

»Das allerdings nicht,« sagte die Ärmste kleinlaut, »Aber, mein Gott,« setzte sie in weinerlichem Tone hinzu, »wie kann man da Abhilfe schaffen?«

»Ganz einfach,« bemerkte die Dicke. »Was Frau Hoffmann kann, das hab' ich immer gekonnt, denn in Erfindung von richtigen Gedanken bin ich ihr allzeit gleichermaßen gewesen. – Mein Herr Vikarius hat nämlich ein Paar völlige Hosen ...«

Frau Hartjes erstarrte.

»Und da glauben Sie,« fragte sie mit aufgerissenen Augen, »daß ich in die Beinkleider eines geistlichen Herrn hineinsoll? – in wirklich geistliche Hosen ...?!«

»Warum nicht?«

»Da muß ich verzichten,« erklärte Frau Hartjes, »denn Sie müssen bedenken ...«

»Powere Ausflüchte!« sagte Therese. Sie war ordentlich verärgert geworden.

»Nein – ich verzichte; ich kann es nicht über mich bringen ...«

»So?« fragte die Dicke und war energisch näher getreten.

»Ja.«

»Und da ist es Ihnen ganz partie egal, ob Ihr Ungetreuer nachher mit die evangelische Tanzmamsell herumkaressiert? – Wissen Sie, dem Festtempel nebenan liegt 'ne Kegelbahn; die ist fein zum Poussieren.«

Auf der Straße ließen sich Schritte vernehmen.

Therese war verschnupft ans Fenster getreten und sagte: »Da geht schon die erste Vigeline vorüber. Das bedeutet für Ihnen Malör, meine sehr verehrte Frau Präsidentin.«

Die Frau Rektor schlug die Hände zusammen.

»Mein Gott und mein Heiland!« rief sie in dumpfer Beklemmung. »Wer zeigt mir einen Ausweg in dieser fatalen Bedrängnis?!«

»Ich.« sagte die Dicke.

»Aber wenn es der Herr Vikarius erführe, wenn es die Kirche erführe – ich könnte ja meine eigene Schande nicht tragen!«

»Dafür ist gesorgt,« fiel ihr Therese ins Wort. »Ich bin weitsichtig, als wenn ich ein Perspektiv besäße. Alles ist vorgesehen. Ich habe den Herrn Vikarius bereits aus diesem Grunde Rapportierung erstattet, und da hat er gesagt: Der Zweck heiligt die Mittel – Amen. – Na, also – und ich will nicht Therese Vogels heißen, wenn die geistlichen Hosen nicht zu Ihrer Komplettigkeit passen tun täten.«

»Na, denn ...« sagte Frau Hartjes.

Sie sagte es mit derselben stillen Ergebung und Wehmut wie eben, als es sich um Sein oder Nichtsein des päpstlichen Zuavenmantels gehandelt hatte – und damit war auch schon die dicke Therese aus dem Zimmer verschwunden.

Die unglückliche Frau war nun allein in der Stube; ein Sinnen kam über sie, ein brütendes Sinnen. Ihr Geist hatte bereits die scharfen Spitzen und Fühler eingezogen, mit denen er noch vor wenigen Tagen aufwarten konnte. Sie war nicht mehr die selbstbewußte Erscheinung von ehedem. Allerlei Bedenken und Gedanken huschten ihr durch den Kopf, die sie befangen machten und ihre Willenskraft lähmten. Sie war unschlüssig, zaghaft und ängstlich in ihrem Verhalten geworden. – Über ihr gingen schlappende Schritte. Er war also immer noch oben. Sie horchte ängstlich und mit klopfendem Herzen auf die einzelnen Laute. Deutlich konnte sie die weichen Gänge verfolgen. Wenigstens achtmal war er so auf und nieder gegangen, und zwar ruhig und ohne jede Erregung. Und das konnte ein Mann, der sich mit einer so großen Gewissenslast befrachtet hatte?! Das war ja infam! – Aber wenn er unschuldig wäre ... ?! – Er konnte ihr doch immer so lammfromm begegnen. Ach, was! – sie kannte das. Männer, die sich auf Abwege begeben, haben immer so lammfromme Gesichter. Sie sind niederträchtige Täuscher. Sie sind gewissenlose Cölibatäre. Aber da draußen, hinter dem Rücken ... Er war fähig dazu, mit dem Ehering am Finger die tollsten Geschichten zu machen, denn dafür war er lange genug bei den heidnischen Poeten in die Lehre gegangen. Therese hatte schon recht. In flagranti mußte er ertappt werden – und dann: Trennung ohne Ansehn der Person, aber so, wie die katholische Kirche es vorschrieb.

Frau Hartjes atmete auf.

Unter diesen Betrachtungen waren gute zwanzig Minuten vergangen. Der Zeiger der kleinen, porzellanenen Stutzuhr rückte bereits auf sieben – als Frau Hoffmann zurückkam, sich den Schweiß von der Stirne wischte und sagte: »Hier ist er,« und dabei den Zuavenmantel über einen Stuhlrücken legte.

Fast gleichzeitig mit ihr war auch die dicke Therese ins Zimmer getreten, hielt etwas Schwarzes im Arm und behauptete gleichfalls: »Hier ist sie – und nu, Frau Präsidentin, gehen Sie man getrost hinter den Wandschirm und lassen sich da von Frau Hoffmann assistieren, denn die versteht sich extraordinär auf so' ne intimen Geschäfte. Ihre Korsettierung können Sie aber immerzu anbehalten; das schadet nicht weiter. Den Zuavenmanto lassen Sie aber man hier; der kommt zuletzt an die Reihe ...« und damit drängelte sie die arme Frau Rektor, die noch immer unschlüssig war, die Assistentin und das weitläuftige Hosenpaar des geistlichen Herrn hinter den buntgewürfelten Wandschirm, stellte sich mit dem Rücken davor und murmelte zwischen den Zähnen: »So ist's richtig; die Sache muß an den Tag kommen, ganz partie egal, ob dabei so'n kleiner Spektakel mit mang läuft. Wir müssen als weibliche Tugendwächter auf Posto stehen. Ich tu's schon.«

Die Maskierung begann.

Die ersten drei Minuten vergingen.

Therese wartete. Nichts ließ sich hören. Nur hin und wieder machte sich ein leises Wispern und Stöhnen hinter dem Wandschirm bemerkbar.

Wiederum waren drei Minuten vergangen.

Therese harrte geduldig. Jetzt aber ...

Frau Hartjes war vorgetreten, hielt sich aber die Hand schamhaft vor Augen.

»Herr Vikarius ...!« rief die dicke Therese und mußte sich die Seiten halten, um nicht vor Lachen ersticken zu müssen. »Nein, Frau Vikarius, ich wollte sagen Frau Präsidentin, wie Ihnen die geistlichen Hosen bekleiden!«

»Meinen Sie ...?«

»Pompös!« rief die Dicke und wischte sich die Tränen herunter. »So, nun warten Sie mal ...«

Sie war etliche Schritte rückwärts getreten, um ein besseres Urteil zu haben.

»Immer pompöser!« rief sie noch einmal, »aber ich bitte Ihnen, Ihre hintere Konstitution ein bißchen einziehn zu wollen, sonst kann es passieren, daß die Nähte entzwei gehn. Es kracht schon.«

»Ich gebe mir ja alle Mühe,« seufzte die Ärmste.

»So ist's richtig, Herr Vikarius – und nu, Frau Hoffmann, den Zuavenmanto ...«

Das tat auch Frau Hoffmann.

»Famos!« lachte die Dicke, »und wenn ich Ihnen also bekucke, kriegt man ordentlich Lust, Ihnen ein Küßchen zu geben. Was will Bettje Theißen mit ihren heiligen Augen?! – Sie haben mehr, Frau Vikarius – Sie haben heilige Beine ...! – Und nu noch den Hut auf den Kopp – und 'nen Regenschirm in die Hand – und wenn Sie dann noch 'nen mannbaren Schritt ausüben können, dann, so wahr ich Therese Vogels heiße, können Sie beruhigt auf Ihren Beobachtungsposten marschieren und Gerichtssitzung abhalten.«

»Das will ich,« sagte Frau Hartjes.

Mit den männlichen Bekleidungsstücken war auch ein männlicher Geist in sie gefahren. Sie reckte sich auf.

»Pompös!« sagte die Dicke.

In diesem Augenblick kamen langsame Schritte von der Treppe.

»Haha!« lachte Therese, »jetzt geht der Ungetreue auf Anstand.«

Frau Hartjes begab sich zur Türe, öffnete sie und rief durch die Spalte: »Du kannst nicht hereinkommen; die Probiermamsell ist da – und ich wollte nur fragen, wo du jetzt hingehst?«

»Zum Abendschoppen.«

»Bei wem denn?«

»Bei Marie Janssen im ›Ridder‹.«

Schnapp! – ging die Tür zu.

»Den ›Ridder‹ kennen wir,« meckerte die Dicke, »der ist oben zu kurz und unten zu lang in die Kleidung und macht Komödie mit seine weiblichen Beine.«

»So'n alter Sünder ...!« stöhnte Frau Hartjes. Im Überschwange ihrer Gefühle war sie der pummeligen Wehmutter in die Arme gefallen.

»Ach, meine liebe Frau Hoffmann ...!«

»Seien Sie mannbar!« entgegnete ihr Therese mit herzhaftem Nachdruck. »Sie müssen jetzt in Ihrem Zuavenmanto, der etwas Päpstliches bedeutet, und in Ihren schwarzwollenen Hosen, die etwas Geistliches an sich haben, vorwärts kucken und nur darauf bedacht sein, Ihren Ungetreuen wieder auf die richtige Ehebahn zu posamentieren, denn das mit dem ›Ridder‹ ist doch man bloß 'ne elende Ausflucht gewesen. Die Kegelbahn neben der Turnhalle ist jetzt Ihr Revier; die müssen Sie unter Beobachtung halten. Also tapfer vorwärts geschaut und sich nicht bange gemacht vor Ihrem äußeren Menschen. Der ist bald wieder abgelegt – und dann stehen Sie wieder da in Ihrem Kleide als Präsidentin und als Vorsteherin des Paramentenvereins und haben die Genugtuung in sich, 'ne männliche Seele vom Untergange gerettet zu haben, und dann noch die Freude, die langen Gesichter der evangelischen Edelmänners vor sich zu sehen.«

Die Sprecherin schnappte nach Atem.

»Das ist meine ehrliche Meinung, Frau Präsidentin,« meinte sie schließlich.

»Gott verleihe mir hierzu Kraft und Stärke,« sagte Frau Hartjes und löste sich dabei mit tränenerstickter Stimme aus der sanften Umarmung, »und er stehe mir bei in diesen Stunden der Prüfung, der Selbstaufopferung und der Entsagung!«

»Wie sich das gehört,« ergänzte Frau Hoffmann und zählte die einzelnen Muster, die sich im Teppich befanden. Sie war ordentlich in Rührung gekommen.

»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen, meine Damen!« ließ sich nun Frau Hartjes vernehmen, indem sie bald das behäbige Weibchen, bald die dicke Therese an ihren päpstlichen Zuavenmantel drückte.

»Nichts zu danken,« wehrte die Dicke ab, »aber ich bitte Ihnen: denken Sie an Ihre hintere Portion, damit Sie keine Schwierigkeiten mit dem Hosenboden bekommen. Alles ist schon mal passiert im menschlichen Leben – und Vorsicht ist die Mutter 'ner großen Porzellanassiette.«

»Das sagt mein Pitt auch,« konstatierte Frau Hoffmann. »Und nu muß ich gehen, damit mein Julius keine Sehnsuchtsgefühle bekommt und doch nach die Turnhalle ausrückt.«

»Desgleichen ich,« sagte Therese, »denn ich muß nu für meinen Herrn Vikarius noch die kalte Küche und ein Fläschchen Wein besorgen. Aber wenn es Ihnen recht ist, Frau Vikarius – ich wollte sagen Frau Präsidentin, dann komme ich auch so Schlag Klock neun in die Gegend von die Turnhalle, um Ihnen, wenn's nötig sein sollte, als unbewußte Zeugin assistieren zu können.«

»Ich bitte darum.«

»Denn adjüs!« sagten die beiden und ließen die arme Frau Hartjes mit ihrem Kummer, ihrer tiefen Not, mit ihrem Zuavenmantel und den geistlichen Hosen allein in der Stube.

Die kleine Stutzuhr schlug acht. Wie silberhelle Kinderstimmen zitterten die einzelnen Töne durch das sanfterleuchtete Zimmer, aber der Harrenden war es so, als habe die Not- und Feuerglocke geschlagen.

»Noch muß ich warten,« sagte Frau Hartjes und setzte sich ergebungsvoll auf die geistlichen Hosen.

So saß sie da. Und die Minuten vergingen.

Und dann ... So saß sie noch lange.

Jetzt war's Zeit. Der Hosenboden krachte.

»Vorwärts!« sagte Frau Hartjes.


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