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XIX Im Namen des Königs

Es mochte gegen fünf Uhr sein, als das Zylinderbüreau aus poliertem Kirschbaumholz unter fanatischem Protest herausgebracht wurde, um draußen öffentlich versteigert zu werden.

Die Menge war sprachlos geworden. Dafür aber rumorte der Septemberwind, grapste in die jungen Lindenbäumchen hinein, die vor dem südlichen Kirchenportal standen, und wirbelte gelbe Blätter über den Platz hin. Etliche Hüte nahm er mit und kapriolte sie über den Boden, als wenn überlustige Jungen ihre Bandreifen schlügen.

Hoch oben ging es noch toller zu. Während unten die Auktion stattfinden sollte, war Grades Gertzen mit seinen Gesellen dabei, die noch lockeren Hölzer und Verschalungen auf dem Plattformkranz zu stapeln und die letzten Vorkehrungen für die Schieferbekleidung in Angriff zu nehmen. Die Dachdecker hatten bereits Order für die andere Woche erhalten.

Aber der Wind, der Septemberwind ...!

Er blies mit vollen Backen und orgelte zwischen den neuen Sparren wie ein Dudelsackbläser. Mausfahle Nebel unterflogen die Wasserspeier.

Donnerwetter, das war ja ein heidenmäßiger Spektakel!

Jetzt glaubte Grades Gertzen auch das infame Knicken und Knacken zu hören, das niederträchtige Geräusch, mit dem ihm Dores schon während der verflossenen Tage in den Ohren gelegen hatte.

Vornehmlich in den Einzelverbindungen der Hängestreben mit den Hängebalken saßen die unheimlichen Stimmen.

»Wenn der's heute aushält,« orakelte Dores mit bedenklichem Gesicht, »so spreche ich ihn für ewig an, aber ich glaube ...«

»Was denn?« fragte Gertzen und vermeinte wieder das niederträchtige Knacken in den Balkenschlössern zu hören.

»Er tut's nicht,« entgegnete Dores, »er tut's ums Verrecken nicht.«

»Ich frage: warum denn?«

Grades sah ihm erwartungsvoll in die Augen und suchte Trost aus der Kümmelflasche zu holen.

»Meister, der verbummfiedelte Kaiserstil ...!«

»Ich habe aber immer die Meinung vertreten ...«

»Tut nichts; ich kann mir nicht helfen – Mauerpfetten und Eckpfosten passen nicht mehr, und die Zapfenverbindungen sind schon um zwei Daumens gewichen.«

Ein neuer Windstoß setzte über den Turm fort. Der Helm knackte in allen Gelenken und Fugen. Die Gesellen hielten mit der Arbeit inne. Sie waren ängstlich geworden.

»Also sollte doch der Mensch mit der kolosalen Reputatschon ...«

»Ja!« brüllte Dores, »schickt zu ihm und holt ihn.«

»Gottverdomie noch mal!«

Wiederum hielt Grades die Kümmelflasche gen Himmel. Seine Leinewandschürze voltigierte über die Plattform. Er mußte sich an einem Ecksparren halten, um nicht heruntergerissen zu werden. Jetzt bemerkte er auch das Weichen der Balkenschlösser. Seine umfuselten Sinne klarten sich auf. Die Angst packte ihn mit brutalen Fäusten.

»Also glaubst du . ..?«

»Ja woll.«

»Na, denn in Gottes Namen,« sagte Grades kleinlaut und stolperte die dunklen Turmstiegen talwärts.

Die Gesellen nahmen wieder die Arbeit auf; auch Dores blieb oben.

Vereinzelte Dohlenvögel revierten ab und zu und legten sich quer vor den Wind, wagten es aber nicht, in die Schallöcher zu fliegen. Wie Unglücksboten schaukelten sie dort auf und nieder. Das unheimliche Gesause dauerte weiter. –

Joseph von Arimathia stand noch immer mit untergeschlagenen Armen, mit Barett und Soutane vor seiner Türe, als das Zylinderbüreau inmitten des Platzes von Sankt Nikolai niedergestellt wurde.

Ein brütendes Schweigen war allerwärts ausgetan. Mit verhaltenem Ingrimm verfolgten die Menschen den gerichtlichen Vorgang, als Leopold Derksen erschien und sich mit schadenfrohem Gesicht unter die Gaffenden mischte. Herr Frasselt machte sich fertig, die Zwangsvollstreckung vorzunehmen. Mit weithin vernehmbarer Stimme begann er: »In Sachen des Vikars Joseph Sauerbier, ohne Zutun des Staates Pfarrverweser im benachbarten Kirchspiel, ist heute Termin angesetzt, zwangsweise die verweigerte Zahlung einzutreiben. Von Rechts wegen. Ich stelle daher, kraft meines Amtes als Gerichtsvollzieher, ein noch gut erhaltenes Schreibpult öffentlich gegen Barzahlung zum Verkauf aus. Im Namen des Königs.«

Bei der Schlußformel salutierte Herr Butterweck mit seinem waschledernen Handschuh.

»Wer bietet?« rief Herr Frasselt über den Platz fort.

Ein hundertfältiges Gejohle erfolgte.

»Im Namen der christlichen Nächstenliebe – ich bitte um Ruhe!« rief Joseph von Arimathia. »Laßt dem Manne nicht entgelten, was ihm eine nichtswürdige Gesetzgebung vorschreibt! Gott sieht alles und wird mir, seinem unwürdigen Diener, schon helfen.«

Die Weiber griffen nach ihren Taschentüchern, die Männer stierten grimmigen Blickes ins Wetter. Pitt aber fand die erlösende Formel.

»Singen!« kommandierte er – und das

›Großer Gott, wir loben dich,
Herr, wir preisen deine Werke ...‹

zog wiederum von Gruppe zu Gruppe und über die Menge, aber so fest und gesinnungstüchtig, daß die Fensterscheiben der umliegenden Häuser zu klirren begannen.

In diesem Augenblick torkelte Grades Gertzen in seiner Todesnot auf Joseph von Arimathia los, brachte aber nur die Worte heraus: »Hochwürden, der Turmhelm ...!«

»Das sind irdische Dinge.«

»Ja – aber, Hochwürden, er kann jeden Momang ...«

»Wenden Sie sich an einen Fachmann; ich kann zur Zeit nicht raten und helfen. Größere Dinge stehen jetzt auf dem Spiel. Sie müssen sich an einen anderen wenden.«

»Warum denn? – Ich frage: warum denn?!«

»Nur ein Fachmann kann helfen.«

»Hochwürden ...!«

Grades Gertzen torkelte vorwärts und lief dem Schmiedemeister Derksen direkt in die Arme.

»Leopold ...!«

Er streckte ihm hilfesuchend beide Hände entgegen.

»Höhö!« machte Derksen, »das kommt von wegen dem Turmhelm. Der ist niemals mein Pangschang und meine große Nummer gewesen.«

»Komm mit 'rauf!« jammerte Gertzen.

»Ich?!« zeterte Derksen. »Königlich preußischer Obergefreiter mit die honorigen Knöppe – das bin ich, aber so 'ne wackelige Geschichte ... Da muß ein Kerl mit 'nem großen Verständnis dahinter.«

»Wer denn?«

»Schafskopp!«

»Leopold, wer denn?!«

»Johannes ...!«

»Vorwärts!« rief Gertzen und versuchte sich Mut aus der Kümmelflasche zu holen. Mit Leopold Derksen, den er krampfhaft am Schurzfell gefaßt hielt, war er alsbald im Gedränge verschwunden.

»Wer bietet?!« rief der Gerichtsvollzieher aufs neue. – »Ein noch gut erhaltenes Zylinderbüreau – wer bietet?! – Die Sache muß ihren Anfang bekommen.«

Er hob seinen Stock in die Höhe.

»Fünfzehn Taler – zum ersten!« schrie er selbst über die Hegung, wurde aber übertönt durch ein wildes Gekreisch, das in Richtung des Marktplatzes herkam. Als wäre ein Stößer unter die Spatzen gefahren, so ein lautes Gezeter ging los.

Kinderstimmen, Weiberstimmen ...!

»Sie kommen, sie kommen!«

»Wer denn?«

»Die ›Penning-Kasse‹! – Miekske, mit die ›Malör-Penning-Kasse‹!«

Und richtig – sie rückte in Schlachtordnung an und in drei Treffen gegliedert.

»Heiliges Zylinderbüreau!« – riefen die Mädchen,

Bedrohlich schwenkten sie ihre Haselzweige, die sie auf der Heimkehr wieder von den Büschen abgerupft hatten. Der Wald von Dunsinan schien in Bewegung gekommen. Das junge Volk war rein aus dem Häuschen.

»Heiliger Vikarius ...!«

Die dicke Therese hatte gerufen. Im ersten Treffen und wie eine Furie kam sie ihres Weges gegangen. Mit schiefem Hut, den Pompadour mit den herausstehenden Stricknadeln im Arm, den Regenschirm energisch in der Rechten führend und von Frau Pitt Hoffmann begleitet, die sich ihr im letzten Augenblick angeschlossen hatte, rückte sie vorwärts. Ihr stattlicher Busen schwappte unter dem Grenadierschritt. Vor der Majestät des Auftrittes machten die Leute ihr Platz. Ein dumpfes Murren – und fester packte sie ihren Regenschirm. Sie knurrte und lauerte in unheimlicher Tücke. Nur so und nicht anders schreitet das Schicksal.

»Heiliger Vikarius, heiliges Zylinderbüreau ...!«

Im zweiten Treffen kam Herr Karlo Antonio Pollmann mit etlichen Gesinnungsgenossen. Den lieben, langen Tag hatte er um die Wohnung Wesselinks scharwenzt, gewillt, Luise heimlich zu sprechen. Allein die Pirsche war vergebens gewesen; er hatte sich daher mißmutig in eine Destille eingelegt und war dann dem Tumulte gefolgt, um gegebenen Falles seine Persönlichkeit in die Schale zu werfen. Hinter ihm folgte das eigentliche Gros: die ›Penning-Kassen-Gesellschaft‹. Miekske im bekränzten Wagen voran, die immerzu schrie: »Kinder, singt! – wir müssen den Herrn Vikarius retten.«

Und da die Mädchen noch immer unter dem zwingenden Einfluß des verunglückten Festes standen, auch eine anderweitige Anregung fehlte, so wußten sie keinen anderen Ausweg, als ihr Leib- und Magenlied vom Stapel zu lassen.

Die Dicke wandte sich um.

»Kinder, ihr seid wohl verrückt! – Haltet die Mäuler! – Haltet um Gottes willen die Mäuler ...!«

Damit marschierte sie weiter, schimpfte und skandalierte über die preußische Justiz, nannte Bismarck einen Erzhalunken und Säufer, lamentierte das Blaue vom Himmel herunter und erzählte der verstörten Frau Hoffmann, daß sie alles aufbieten würde, um das Schreibpult und ihren Herrn Vikarius zu retten, »ganz Partie egal,« setzte sie dabei erläuternd hinzu, »ob ich dafür hundert Meilen hinter Amerika deportioniert werden sollte,« und dabei war sie bis in die Nähe des zum Verkauf ausgestellten Objektes gekommen. Und dann ...

In ihrer ganzen Gewichtigkeit stemmte sie die Arme in die stattlichen Hüften, räusperte sich und machte zwei Augen, als wenn sie sagen wollte: »Nu mal los, Herr Frasselt; wollen mal sehen, wer den kürzeren Halm zieht.«

»Fünfzehn Taler – zum ersten!«

Herr Frasselt hatte wieder sein Amt und seine Ruhe gefunden. Aber er behielt sie nicht lange. Die stechenden Blicke der dicken Haushälterin genierten ihn und ferner ...

Herr Karlo Antonio rief mit Stentorstimme über den Platz hin: » Signori! – Signore ...!«

Das packte. »Hurra!« ging das bunt durcheinander.

»Ich habe die italische Sonne, den italischen Himmel gesehen ... Azure

»Bravo!«

»Ich habe unter dem großen Sankt Peter geschildert und seine heiligen Tore gesehen ... I portici sono di marmo

»Bravo!«

»Ich habe den heiligen Vater gesehen ... Superbo

»Hurra!«

»Aber, signori, signore! – so etwas wie das, was mir heute vor Augen gekommen, habe ich noch niemals gesehen.«

»Pfui!« riefen die Menschen, aber der Gerichtsvollzieher hatte wieder Überwasser bekommen.

»Fünfzehn Taler – zum ersten! – Wer bietet mehr?«

»Fünfzehn Talers fünf Groschens!«

»Was los?! – Wer hat gerufen?!«

Alle sahen sich an, als hätte ein Kirchenschänder das Tabernakel zerschlagen.

Das war ja eine jüdische Stimme gewesen – und richtig: der Vater des krölligen Fränkel Haas hatte geboten.

Ein Wutgeheul erklang.

»So'n Jüd! – Gottverdomie, so'n infamiger Kuhschwanzmarkör! – So'n Matzenfresser! – Haut ihm die Judennase herunter ...!«

» Te absolvo!« rief Joseph von Arimathia herüber. »Der Mann weiß nicht, was er tut. Er ist anderen Glaubens; er weiß nichts von den Mühseligkeiten unserer heiligen Kirche, und daher: ich vergebe dem Manne.«

Haas wurde patzig.

»Bezahl' ich doch meine ehrlichen Talers,« meinte er bissig, »kann ich mir auch erfreuen an einem geistlichen Pulte. Herr Gerichtspräsident, ich habe fünfzehn Talers fünf Groschens geboten.«

»Sechzehn Taler!« überbot ihn Herr Frasselt.

»Sechzehn Talers fünf Groschens!« ließ Haas sich vernehmen.

»Achtzehn Taler!«

»Neunzehn! – Ich habe neunzehn Talers geboten.«

»So 'ne Judenvisage!« drohte Pitt Hoffmann.

»Herr Pitt, es sind meine Talers un Groschens,« hielt ihm der Jude entgegen, »un wird mein Sohn Fränkel ein gelernter Mann – nu, kann er auch schreiben an 'nem geistlichen Pulte. Herr Gerichtspräsident – neunzehn Talers mit's Aufgeld!«

»Und fünf!« sagte Frasselt. »Also neunzehn Taler fünf Groschen. – Wer bietet mehr?!«

Haas hatte Blut geleckt; der Mut seines Volkes war in ihn gefahren.

»Nu denn – zwanzig Talers in Summa!«

Energisch rückte er bei diesem Angebot die fettige Schirmmütze bis tief in den Nacken.

Die Höhe des zu zahlenden Strafmandats war erreicht.

Herr Frasselt nickte.

»Zwanzig Taler zum ersten!«

»Zwanzig Taler zum zweiten!«

»Zwanzig Taler zum dritten und ...«

Er kam nicht weiter. Seine Zunge stand für einen Augenblick so still wie vorzeiten die Sonne auf Josuas Gebot, wie ein verrosteter Nagel im Sargdeckel – dann aber ging mit einem Male ein entsetzlicher Schrei über den Platz hin.

«Zu Hilfe ...!«

Die Menge verfärbte sich. Das war ja eine verfluchte Geschichte!

Und die dicke Therese ...

Blitzartig hatte sie beim Ausruf ›zum dritten und ...‹ in ihren Pompadour gegriffen, ihm blitzartig etwas Blitzeblankes entnommen – und dann eine ihrer stählernen Nadeln ...

Da saß sie. – Auf zweidrittel Länge hatte sie sich in die linke Sitzgelegenheit des in rechtlicher Sache amtierenden Mannes gefressen – grimmig und bissig.

»Das für das Zylinderbüreau ...! – Sie Heide, Sie lutherscher Schmierfink ...!«

Eine zweite Judith, aber eine christkatholische, war die dicke Therese für ihren Glauben und das Heil ihres Vikarius in die Bresche gesprungen. Sie zuckte mit keiner Wimper. Wie aus Stein gemeißelt stand sie auf dem Feld der geretteten Ehre. Eben so starr und weltvergessen hatte auch das bethulische Weib nach Gott wohlgefälliger Tat vor dem Hohen Rat ihres Volkes gestanden.

Dafür aber war Herr Frasselt lebendig.

»Zu Hilfe ...!«

»Bravo!«

»Zu Hilfe ...!«

»Hurra!«

Er voltigierte mit der entsetzlichen Stricknadel im Sitzfleisch um das Schreibpult herum, ähnlich wie ein kaninchenfressender Indianer auf einem niederrheinischen Jahrmarkt um den Stall seiner Opfer herumspringt. Der schwerfällige Mann mit dem Eidamer Käsegesicht war zu einem Parterreakrobaten geworden. Er exekutierte die zierlichsten Pas und die gewagtesten Sprünge. Krampfhaft griff er nach den unmöglichsten Dingen. Funken, Sterne, Flammen, Sprühteufelchen huschten durch sein irres Gesichtsfeld.

»Zu Hilfe ...!«

Die Dicke stand unbeweglich. Sie war ehern, gefühllos. Frau Hoffmann bekreuzte sich dreimal.

»Zu Hilfe ...!«

»Kommen Sie, Frasselt.«

Herr Butterweck hatte das richtige Einsehn, nahm den Geschändeten beim Arm, gewillt mit ihm zu Doktor Horré zu gehen, wandte sich aber nochmals um und sagte zu dem starren Weibsbild, indem er den rechten Handschuh vielsagend emporhob: »Fräulein Therese, zwei Monat' Gefängnis.«

Dann gingen die beiden.

»Fräulein Therese, zwei Monat' Gefängnis ...«

Das wirkte. Die edle Judith entblätterte sich.

Stückweise fielen die Flitter ihres trotzigen Heldentums zu Boden. Die ganz ordinäre, die ganz veritable Therese Vogels kam wieder zum Vorschein. Hilfesuchend flüchtete sie sich in die Arme der guten Frau Hoffmann.

Aber die Menge jauchzte ihr zu, und es wäre noch zu Ovationen gekommen, hätte der Sturmwind nicht ärger geblasen, wären aus der Höhe nicht so grelle und kläffende Laute gekommen. Das belferte und johlte, als sei der leibhaftige Satan in den Turmhelm gefahren.

Florige Schatten setzten über die Kirche von Sankt Nikolai. Pitt Hoffmann sah in Richtung des Turmtors.

»Was gibt's da?!«

Etliche Arbeiter stürzten heraus und zeigten mit ängstlichen Gesichtern nach oben.

»Der Helm kommt herunter!«

Joseph von Arimathia reckte sich auf.

»Kleinmütige Geister!« sagte er mit gekniffenen Lippen.

»Hochwürden, der Helm kommt herunter!«

Die Menschen schreckten zusammen und vergaßen, was soeben passiert war. Sie hatten ein drohendes Unglück vor Augen. Die ›Malör-Penning-Kasse‹ rückte unter Führung Miekskes nach Hause, während die übrigen Leute sich scheu wie 'ne Hammelherde zusammendrängten. Aller Blicke waren nach oben gerichtet. Eine allgemeine Panik setzte ein, und diese benutzte Herr Haas, das ersteigerte Schreibpult durch die beiden lutherschen Dickköpfe nach Hause transportieren zu lassen.

Die frevelhafte Auktion war zu Ende, aber nicht die Schrecknis des Tages.

»Das ist die Strafe des Himmels!« rief Joseph von Arimathia, »er will Gerechte und Ungerechte verderben.«

Karlo Antonio war an seine Seite getreten.

»Kopf oben behalten, Hochwürden,« sagte er finster.

»Das will ich.«

Joseph von Arimathia hatte das Barett vom Kopfe genommen. Er betete.

Immer neue Schatten zogen über die Stadt hin. Gellende Posaunenstöße, mit einem häßlichen Lachen dazwischen, drangen zur Erde.

Der Vikarius verstand kaum seine eigene Stimme. Der Wind stopfte ihm gleichsam den Mund zu.

»Das gibt ein Malör!« riefen die Leute.

»Wo ist Grades?!«

»Grades soll her!«

»Grades soll helfen!«

»Gottverdomie, wo ist das infamige Rindvieh?!«

Grades war nicht da; er war verzweifelt mit Leopold Derksen und seiner Kümmelflasche zu Johannes gegangen. –

Und Johannes stand aufrecht im Zimmer. Luise war bei ihm. Er hatte mit der Rechten ihre Linke umklammert. Sturm rüttelte ihn, und der Sturm war entstanden aus Zweifel und Liebe.

Er hatte schon lange gezweifelt, er war schon lange seltsam bewegt, und so war das Stürmen gekommen. Und Trauer bedrückte ihn, und eine Frage lag ihm auf den blutleeren Lippen. Er hörte nicht auf das Wetter da draußen, auf die Not, die darin lag, und auf die Verzweiflung der Menschen. Er hatte genug mit seinem eigenen Jammer zu tun, mit seinem eigenen Herzeleid zu schaffen und mit dem zehrenden Gedanken, der ihm sagte: Sie hat sich seit vielen Wochen geändert und hört wieder auf die Glocken von damals, auf die unseligen Glocken jenseit des Waldes ... Es war ein dumpfes Grübeln und Grämen, mit dem er sich abmühte, und das er nicht mehr los werden konnte. Es hatte sich an ihn geschlichen, wie der böse Feind die Saaten anschleicht, um den Kornbrand in die Ähren zu setzen. Er sah, wie all sein Mühen, sein Hoffen, sein aufgebautes Lebensglück dem Verderben anheimfiel. Das war es, was seine Seele bedrängte.

»Wo bist du mit deinen Gedanken?« fragte er schmerzlich.

Sie antwortete nicht, aber sie sah ihn an mit offenen Augen und zuckendem Munde. Endlich rührte sie sich, und dann sagte sie leise: »Wir sind entfremdet, Johannes.«

»Ja,« gab er bitter zurück, »und zwar seit dem Tage, wo die Kastanien blühten.«

Sie schreckte zusammen.

»Ich erinnere mich des Tages nicht mehr,« sagte sie mit fliegendem Atem, »und ich weiß nur, daß ich dir kaum noch folgen kann in deinem Sinnen und Denken. Es ist ein Wald voll krauser Ideen und Mißverständnissen, der uns umschließt, und je tiefer du hineingehst, um so mehr werden wir auseinander gerissen. Unsere Wege trennen sich immer weiter und weiter. Ich höre deine Stimme nicht mehr ...«

Er lachte plötzlich auf.

»Was hörst du nicht mehr?«

»Deine Stimme.«

»Weil du eine andere hörst,« sagte er heftig. »Der Mensch ist heute vorübergekommen. Hast du ihn gesehen und gesprochen?«

»Nein,« sagte sie ruhig.

»Auch gestern nicht?«

»Nein.«

»Und vorgestern?« Er sah ihr scharf in die Augen.

Da schwieg sie – und als sie schwieg, warf er ihre Hand aus der seinen. Ein Riß war durch ihre Seelen gegangen.

Er schritt langsam der Tür zu, und als er sie öffnete, trat ihm Leopold Derksen entgegen.

»Tag, Johannes. Du mußt mir exküsieren, aber draußen steht wer in großer Predullig.«

»Wer steht draußen?«

»Dein Konkurrenzmann von wegen dem Turmhelm. Er ist in schwerer Verfassung. Du mußt mitkommen, Johannes. Es wird dir konträr gehn, aber sie rufen nach dir, sie schreien nach dir ...«

»Was soll ich?«

»Mitkommen sollst du!«

Leopold Derksen legte ihm die schwielige Hand auf die Schulter. Auge brannte in Auge hinüber.

»Die Hunde verdienen's ja nicht – aber der Helm jammert und bangt sich nach dir. Du brauchst nicht; es ist freiwillige Tat. – Willst du, Johannes?«

»Ich will,« sagte Johannes und riß die Mütze vom Nagel.

Dann gingen sie, aber das Weib sah ihnen lange nach – lange und seltsam.

Grades Gertzen gesellte sich ihnen; sie gingen nach Sankt Nikolai. Unterwegs beorderte Wesselink Feuer und Bandeisen; auch Jans Prust sollte kommen.

Und die Menschen wichen scheu zur Seite, als Johannes vorbeikam. Sie beugten sich vor dem Manne, dessen Gesicht so bleich wie der Tod war.

Würde er helfen? Konnte er helfen?

Ruhig hatte er das Turmportal von Sankt Nikolai betreten.


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