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XXI Ich war es ...

Die beiden saßen noch immer zusammen: Bettje und die Tanzmamsell, und ihre Gedanken folgten dem Sturm und gingen der Sünde nach, die sich still und geheimnisvoll unter das Dach des armen Menschen geschlichen hatte. Es war ein wehmütiges und trauriges Denken. Es war wie ein armes Geschöpf mit einer großen Not und einem tiefen Weh in der Brust, das hinging, sich ein Kränzlein aus Dornen flocht, und, da es geflochten war, es sich selbstquälerisch in die Stirne hineindrückte. Die Tanzmamsell zuckte unwillkürlich unter diesem Erinnern, unter diesem Dornenkränzlein zusammen. Warum war sie damals auch zu den barmherzigen Frauen gegangen? Vielleicht wäre alles anders gekommen – ja, vielleicht, vielleicht ...! – und aus diesem trostlosen Festhalten an verschwundene Bilder wuchs eine bange Zukunft heraus mit all ihrem Kummer.

Ach, wenn sie ihn früher gesehn hätte, früher wie Luise es konnte! – Dann wäre sie mit ihm durch die Felder gegangen, hätte seine Hände genommen und dann ruhig zu ihm gesprochen, so ruhig wie die großen Weizenschläge, wenn sie im Abendwind Zwiesprache halten: »Sieh hier meine Liebe, Johannes! – die ist so stark wie der Tod und so schön wie deine niederrheinische Erde.« Und dann wären sie der Sonne entgegengegangen, dem ewigen Licht und einem glücklichen Leben. – Sie sah über die Gegenwart hinweg bis an das Ziel ihrer Tage. Es lag weit drüben in einer unwirtlichen Öde. Sie ging diesem Ziel zu, einsam, verwaist, und als sie zurückblickte, da stand das Glück weit dahinten in verschwommener Ferne und rang in stummer Verzweiflung die Hände. Sie gehörte nicht sich mehr. Ihre Seele war mit einer anderen Seele verbunden. Wenn die andere weinte, weinte auch ihre Seele, wenn die andere gekreuzigt wurde, wurde auch ihre Seele gekreuzigt – und die andere wurde gekreuzigt und ihr ein Speer durch die Seite getrieben. Sie war wie ein Vogel, der nach dem Süden drängte, sich aber verirrte und elend umkommen mußte. Sie war haltlos in ihrem traurigen Sinnen geworden, denn sie verhehlte sich nicht: in diesem traurigen Sinnen war Sünde, aber eine Sünde, die ihr selber das Herz abstoßen würde – und darin lag wieder eine stille und große Vergebung, ein sanftes Verzeihen, das jedes Verschulden hinwegnahm.

Daran dachte sie jetzt.

Bettje Theißen hatte sie still beobachtet, war aufgestanden und machte wieder ihre heiligen Augen von ehemals. Zärtlich nahm sie das liebe Gesicht der Ärmsten zwischen ihre schmalen Hände.

»Ich weiß, was Sie haben,« sagte sie leise, »und an so was kann ein armes Menschenherz elend verbluten.«

Die Tanzmamsell schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Ja, so ist es,« bestätigte Bettje, »und das kann einem auch weh tun. Sie denken an ihn. Früher ist er ganz anders gewesen. Da war noch Leben in ihm und eine glückliche Freude; jetzt geht er gebeugt. Er hat vieles zu tragen und ist krank und mühselig geworden.«

»Das ist er,« kam es traurig zurück.

»Und wissen Sie woher das kommt?« fragte Bettje.

»Ja,« sagte die Tanzmamsell, »weil er seine Heimat so lieb hat und sehn muß, wie sich die Menschen in kindischem Hader zerreiben. Es ist ein schönes und herrliches Land hier, allein die Zwietracht bestellt seine Äcker, wo sonst friedlich Halm neben Halm stand. Und die böse Saat ist aufgegangen und will die kräftige Erde veröden. Und trotzdem liebt sie Johannes. Aus dieser Liebe zur Heimat rang sich sein Stolz, und daher, weil es nun einmal so ist, kam er ins Elend und klopften ihm Niedertracht und Hohn auf die Schulter, denn die Menschen hier herum verstehen ihn nicht. Eine jedoch könnte ihn verstehen und müßte ihn verstehen ...«

Die letzten Worte waren kaum hörbar. Sie vergingen in einem verhaltenen Weinen.

Bettje Theißen war geräuschlos ans Fenster gegangen.

Ein seiner Regen sprühte gegen die Scheiben. Der Zimmerplatz lag völlig im Dunkeln. Das gegenüberliegende Licht war gelöscht, dafür aber stand ein schmaler Schein über der Werkstatt.

»Seltsam!« meinte Bettje. Sie hatte dabei ihre eigenen Gedanken und war verstört zurückgetreten.

»Was haben Sie?« fragte Pauline.

»Das Fenster drüben ist dunkel,« sagte Bettje. »Das Haus liegt tot da, aber in der Werkstätte ist Licht.«

»Dann ist die Gefahr wohl vorüber. Brennen die Feuer noch?«

»Nein.«

»Wie ich sagte,« meinte die Tanzmamsell. »Die Gefahr ist vorüber; er wird in der Werkstätte sein.«

»Wer denn?«

»Johannes Wesselink.«

»Was soll der jetzt in der Werkstätte machen?« entgegnete Bettje. »Den Rosenkranz beten? Über seine Arbeit nachdenken? Sorgen für den folgenden Tag? – Ich habe eine andere Ansicht darüber.«

Die Tanzmamsell sah sie mit großen Augen an.

»Was denken Sie denn, Fräulein Theißen?« fragte sie ängstlich.

»Ich?« sagte Bettje mit einem erzwungenen Lächeln. »Was ich davon halte und denke ...?«

Sie horchte plötzlich auf.

Ein fernes, dumpfes Getöse machte die Scheiben erklirren. Es drang wie eine verräterische Stimme aus dem Hinterhalt, einem furchtbaren Wehschrei nicht unähnlich, vor dessen Schrecknis man sich die Ohren zuhalten mußte. Es war wie ein Malmen und Mahlen. Gleichzeitig setzte der Sturm mit erneuter Wucht über das Haus fort. Es war wie ein Krachen von Balken und ein Sprengen von zähen Gelenken. Dann klang es wie ein weltfernes Murren, als käme es von den Wolken herunter.

Eine brütende Stille folgte.

»Himmel und Seligkeit!« schrie Bettje auf, »da ist Donner dazwischen.«

»Nein, Fräulein Theißen – das kommt von dort her, das kommt vom Turmhelm; da ist ein Unglück geschehen.«

Totenbleich war die Tanzmamsell in die Höhe gefahren.

»Ich sage Ihnen, da ist Donner dazwischen,« entgegnete Bettje, scheinbar in völliger Ruhe, war aber kaum noch imstande, ihre eigene Angst zu verbergen. »Und wenn es so wäre,« setzte sie mit hastigem Atem hinzu, »auch egal – aber von dorther kommt ein größeres Unglück.«

Mit zitteriger Hand deutete sie auf den vereinsamten Hofraum.

»Aus dem Zimmermannshause ...?« fragte Pauline.

»Nein – aber aus dem Torweg daneben. Ich höre es kommen – es geht über den Hof – es will hier über die Schwelle – es tut so, als wollte es hier seine Fingernägel verkrallen.«

»Fräulein Theißen, Sie glauben ...«

»Ja,« sagte Bettje mit fatalistischer Ruhe. »Ich kenne die Schritte. Ich habe sie schon früher gehört – damals – vor Jahren ... Es war auch ein Unglück, aber ein anderes Unglück wie heute. Es trug nicht das häßliche Zeichen an der Stirn und war nicht wegen des sechsten Gebotes gekommen. Es kam, weil eine große Liebe mich über alles hinwegtrug. Ich hörte es kommen – damals – vor Jahren, als die Feuer in der Niederung brannten – dann später, als sie mich für unwürdig hielten und mir das Amt als Lehrerin nahmen – und zuletzt, wie er in die Luft griff und die Kugel von Königgrätz ihn in den blutigen Sand warf.«

Bettje stand kalt und versteint, als sie das sagte.

»Ja, das war anders wie heute. Ich habe nichts zu bereuen. Ich kann ruhig vor meinem ewigen Richter bestehen. Es war kein häßliches Unglück.«

Die Tanzmamsell sah ihr starr und entsetzt in die Augen.

»Sie glauben mir doch, Fräulein Pauline?« fragte Bettje so gemessen und feierlich, als habe sie in der Kirche gesprochen. »Das müssen Sie tun, denn ich bin trotz meiner Sünde in der richtigen Liebe geblieben, und so was wird immer vergeben. Aber das da ... und dann: damals die Feuer waren selige, heilige Feuer, und jetzt ist alles nur ein dumpfes und häßliches Leuchten. Und das ist die richtige Sünde mit den beiden hierneben. Die greift durch die Wolken. Sie verstehen also, Fräulein Pauline?«

»Ja,« sagte diese. Hilfesuchend hatte sie sich an die Brust des erregten Mädchens geflüchtet.

»Fräulein Theißen, ich weiß nicht ... mir ist so ...«

Sie sprach nicht weiter. In der Wirrnis ihrer Gedanken konnte sie keine Worte mehr finden. Und beide horchten in die Nacht hinaus und harrten auf Botschaft, ob der Turmhelm wirklich geschrieen habe, oder ob ein anderes Unglück ...

Wiederum war eine bange Viertelstunde vergangen – da wandte Bettje plötzlich den Kopf. »Herein!« sagte sie.

Hart schlug die geöffnete Tür gegen die Wand an.

Der Wind saß dahinter.

»Bettje! – Fräulein Pauline ...!«

»Frau Hartjes ...?!«

»Sie ...?!«

Es ging wie die Hand des Todes über die beiden, als Frau Petronella so ganz unerwartet und ohne Hut und Mantille hereintrat.

»Aber – Frau Hartjes ...!«

Ängstlich war Bettje näher getreten.

»Um Gottes willen – was ist denn?! – Sie haben etwas Schlimmes zu sagen!«

»Schon möglich – und nicht möglich,« sagte Frau Hartjes, indem sie sich an einer Stuhllehne festhielt. »Das Unglück ist ja nun einmal geschehen. Zu Hause konnte ich's auch nicht mehr aushalten, seit ich allein war und mein Mann vom Posthalter abgeholt wurde. Die müssen ja bei allem dabei sein, besonders Herr Piepmann. Dann kam das entsetzliche Krachen und Brechen – und dann sagten die Menschen ...«

»Was sagten die Menschen?!« rief Bettje dazwischen.

Die Tanzmamsell hatte sich starr und steil in die Höhe gerichtet.

»Bettje, man weiß nichts Bestimmtes. So'n dunkles Gerücht geht um. Es kann ja alles nicht wahr sein. Aber man muß doch ein übriges tun, denn so'ne plötzliche Nachricht ... Ich habe schon Fälle gekannt ... Da bin ich hier neben gegangen, zu ihr – fand aber den Riegel vorgelegt und alle Fenster tot und düster ... Sie selber muß es doch vor allen Dingen erfahren, und da wollt' ich bei Ihnen mal hören ...«

»Aber, um Gott nicht!« rief Bettje, »was muß sie denn alles erfahren?«

»Das entsetzliche Krachen und Brechen.«

»Ja – und dann?«

»Was dabei alles passiert ist,« ergänzte Frau Hartjes in atemloser Verfassung. Dann wollte sie einen Namen nennen, brachte ihn jedoch nicht von den Lippen herunter.

Die Tanzmamsell aber nahm ihr das Wort vom Munde.

»Johannes ...!« schrie sie gellend auf, dann schlug sie sich die Hände vors Gesicht und begann leise zu schluchzen.

»Fräulein Pauline ...!« rief Frau Hartjes ganz in Verwirrung, »Fräulein Bettje, was heißt das?«

»Je,« sagte Bettje, »das heißt: daß ihr der Jammer um den unglückseligen Menschen das Herz abstößt.«

Sie war an die Seite des verstörten Mädchens getreten und hatte es ganz sanft an sich gezogen.

»Es ist vielleicht gut so,« sagte sie hierauf mit entsetzlicher Ruhe, »daß das Unglück passiert ist.«

Ihre Blicke standen in einem überirdischen Leuchten.

»Aber Bettje ...!« meinte Frau Hartjes.

»Ja,« sagte Bettje, »Gott ist barmherzig. Er wollte ihn vor dem Schlimmsten bewahren. Er wollte ihn ruhig in die Ewigkeit holen. Gott kennt schon die Menschen, die seine Liebe verdienen. Er hat seine Ohren tot gemacht, daß sie seine eigene Schande nicht hören; er hat ihm die Augen geschlossen, daß sie seine eigene Schande nicht sehen, sonst müßte er ja mit dem Kopf gegen die Wand an ... ja – gegen die Wand an vor Elend.«

Enger schlug sie den Arm um Pauline. Sie wollte sie halten, aber eine höhere Macht drückte die Verzweifelte nieder. Langsam war die Tanzmamsell zu Boden gesunken.

»Gott, was ist das für ein trostloser Jammer!« meinte die Rektorin. Sie hatte alle Mühe, ihr aufgeregtes Kreuzchen niederzuhalten. »Aber man kann ja immer nicht wissen ... Vielleicht ist es man ein bloßes Gerede. Hören Sie, Fräulein, vielleicht nur ein bloßes Gerede ...«

Liebevoll bemühte sie sich um die Ärmste, als draußen aufgeregte Menschen vorüberhasteten – und Bettje hinausging, gleich aber zurückkehrte und in die Worte ausbrach: »Jesus Christus! – was Sie da sagten ... Purer Irrtum, Frau Hartjes ...! Sie bringen ja Grades Gertzen ins Kloster.«

Die drei sahen sich entsetzt an – und dann wurde die Hoftür geschlagen.

»Was nun?« fragte Bettje.

Eine kurze Spanne von drei Herzschlägen mochte vergangen sein, als im Hausflur, dicht vor der Schwelle ...

Alle hörten die Stimme, alle kannten die Stimme.

Die Tanzmamsell hielt den Schrei zurück, der in ihr aufstieg. Langsam erhob sie sich. Sie war wiederum Herrin über ihre Sinne geworden.

Bettje Theißen aber war nicht wieder zu kennen.

Gespenstisch stand sie inmitten des Zimmers. Sie sprach dieselben Worte wie eben, aber sie sprach sie ganz anders, sie sprach sie mit einer vernichtenden Ruhe, als müsse sie das Grauen beschwören.

»Es geht über den Hof fort,« sagte sie ohne Leben, ohne Bewegung, »es will hier über die Schwelle – es tut so, als wollte es hier seine Fingernägel verkrallen ...«

Und dann: wieder schlug die Zimmertür gegen die Wand an.

Gerade wie eben. Der Wind saß dahinter.

»Das sah ich kommen,« sagte Bettje, ohne den Ton ihrer Stimme zu ändern. Dann schwieg sie.

Es war so, als sei das Unglück in die Stube getreten.

Auf der Schwelle stand – sie ... Sie vermochte sich kaum auf den Füßen zu halten. Wie ein gehetztes Wild war sie eingedrungen – aber ihre Kraft schien, zu Ende. Starres Entsetzen war in sie gefahren. Ihr Kleid war geöffnet. Ein Stück ihrer weißen Brust drängte sich aus der gesprengten Hülle. Mit fröstelnden Händen hatte sie ihre losen Haare darüber gezogen. Die Augen lagen in einem eigentümlichen Feuer. Aber sie sahen nicht mehr. Der Tod saß darin und Angst und Verzweiflung. Das hinderte sie an einem deutlichen Sehen.

Mechanisch zog sie die Tür zu.

»Irgendwohin!« stöhnte sie plötzlich und war vorwärts getaumelt. »Mein Mann ...! – Ich bin verloren ...! – Zu Hilfe ...!«

»Sie ...!« sagte Bettje.

Bitternis lag in dem einzigen Worte. Sie rührte sich nicht.

»Nur irgendwohin!« keuchte Luise. Wie ein scheues, verfolgtes Tier war sie an die Brust der Tanzmamsell geflüchtet und hatte deren Arme umklammert. »Helfen Sie mir ...! – Retten Sie mich, bevor es zu spät ist ...! – Haben Sie Erbarmen mit mir ...!«

»Kommen Sie,« sagte Pauline mit todestraurigen Blicken.

»Hier neben ... da sucht Sie niemand – und wagt Sie niemand zu suchen,«

Ein schmerzlicher Laut rang sich aus der Brust der Gequälten; krampfhaft versuchte sie Paulinens Hände an die Lippen zu ziehen.

Bettje hatte ein hartes Wort auf der Zunge.

»Fräulein Theißen, gehen Sie mit ihr,« sagte die, Tanzmamsell. »Sie bedarf des Trostes.«

Sie hatte mit einer herrischen Stimme gesprochen; da beugte sich Bettje und tat, was ihr geheißen war. Hinter der Tür aber brach Luise zusammen. Ein entweihter Frauenkörper war dort niedergefallen – und lag da, als sei der Tod gekommen und wäre barmherzig gewesen.

»Das vergesse ich nie mehr – diese entsetzliche Stunde!« sagte Frau Hartjes, und wie gelähmt horchte sie auf, als müßte noch Schlimmeres kommen.

Der Sturmwind stieß gegen Türen und Fenster. Das Lampenlicht nahm einen matten und unsteten Schein an.

»Glauben Sie denn, ich könnte das jemals vergessen?« fragte die Tanzmamsell. »Es ist ein langes und banges Leben auf Erden. – Und wenn er auch käme, jetzt käme, wenn er hier eindringen wollte – jene Schwelle wird er niemals betreten,«

Alles Wirre war aus ihrem Antlitz gewichen. Weder Glück noch Zuversicht lag darauf, aber ein fester Entschluß war in den Zügen verkörpert, und mit diesem festen Entschluß war sie vorwärts geschritten, um einen Augenblick Zeit zu gewinnen. Sie wollte ihm erst draußen begegnen.

Es war zu spät.

Johannes Wesselink war zwischen Tür und Angel getreten.

Er sprach nicht, er rührte sich nicht, er stand wie angeschmiedet; sein Kopf mit dem verwehten Haar war vornüber gesunken, aber starr war sein Auge auf Pauline gerichtet. Sie schauderte bis zu den Füßen herunter.

Ein dünner Blutstreifen rieselte, einem roten Faden ähnlich, über die Schläfe und von hier über den Mund fort.

Entsetzt sah sie auf die fließende Wunde.

»Erschrecken Sie nicht,« sagte er mit heiserer Stimme, »das machte der Balken, der Grades Gertzen niedergeschlagen.«

Langsam hob er den Kopf, als wenn er aus einem tiefen Traum erwachte.

»Meine Arbeit ist drüben getan; jetzt beginnt hier meine Arbeit. – Man hat's mir beigebracht: in meinem Hause ist inzwischen die Schande ...«

Er war näher getreten.

»Mein Weib muß hier sein.«

»Ja – bei Bettje Theißen,« sagte Pauline.

»Das müssen Sie mir noch einmal sagen, langsamer sagen, das müssen Sie mir alles deutlich erklären, sonst versteh' ich das nicht.«

Ein tiefes Grausen lag in der verhaltenen Stimme.

»Ja – sie ist bei Fräulein Theißen im Zimmer.«

»Und ist da schon lange gewesen?«

»Ja – sie ist da schon lange gewesen.«

»Und ist nicht da drüben bei dem Menschen, dem infamen Menschen gewesen, der meine Arbeitsstätte geschändet hat? – denn wenn sie es wäre ...«

Ein hartes und trockenes Lachen erschütterte den mächtigen Körper. Und dann – seine Stimme wuchs und klang wie eine geborstene Glocke: »Ich müßte sie hier mit meinen zwei Fäusten erwürgen!«

»Hören Sie auf!« schrie Frau Hartjes.

Matt sanken ihm die gestreckten Hände am Leibe herunter.

»Aufhören! – Warum denn?!« fragte er wirr und mit kraftlosem Willen. »Aber mein Herz ist auseinander' gerissen, meine Seele ist tot – und die wird erst wieder lebendig, wenn ich weiß, daß alles nicht wahr ist, daß ich im Fieber gewesen.«

Mit beiden Händen fuhr er sich wie geistesabwesend über die hämmernden Schläfen.

»Ich muß doch wissen, ob sie's mit dem niederträchtigen Menschen gehalten hat.« Seine Stimme nahm wieder an Heftigkeit zu. Es war wie das ferne Grollen eines Gewitters. »Ich muß doch wissen, ob sie ihren Leib, der mir gehörte, entweihte und von sich geworfen wie eine elende Nichtigkeit.«

Er tat einen Schritt nach der gegenüberliegenden Türe.

»Wohin wollen Sie?«

Entschlossen war die Tanzmamsell zwischen ihn und die Kammerschwelle getreten.

»Mein Weib suchen,« sagte Johannes. »Finden muß ich sie. Heraus soll sie kommen, bekennen soll sie, ob sie soeben von dort her, über den Hof fort, zu Ihnen und in diese Wohnung geflüchtet ist. Ich habe ihren Schatten gesehen. Und wenn sie es war, die bei meinem Kommen auf- und davonging, wenn sie es war, die in seinen Armen gelegen hat, während ich da oben in Sturm und Not wie ein Verzweifelter aushielt ...«

Der dünne Blutfaden begann stärker zu fließen.

»Himmel und Herrgott ...!«

Wiederum streckte er die geballten Fäuste, dann schrie er wie ein gepeinigtes Tier auf: »Heraus soll sie kommen ...!«

»Und wenn ich Ihnen sage ...« rief die Tanzmamsell mit gellendem Ton aus.

»Was?!« schrie Johannes.

»Sie ist nicht drüben gewesen.«

»Aber wer denn, wer ist drüben gewesen?!«

»Es geht um Leben und Sterben,« sagte Pauline. »Sie wollen es wissen – gut denn, Sie sollen es wissen: »ich war es – ich bin drüben gewesen – ich, ich, ich ...!«

Ihr Kopf sank rückwärts. Die letzten Worte erstarrten in einem krampfhaften Lachen.

Er stieß keinen Schrei aus und vergoß kein Träne. Er rührte und regte sich nicht.

»Sie ...?« fragte er düster.

»Ja,« nickte Pauline.

Sie wußte nicht mehr, was sie gesagt und getan hatte

Ein Brausen war um sie.

Johannes sah sie mit leeren Augen an.

»Dann ist mein Gang vergebens gewesen« sagte er mit zerrissenen Lauten. »Aber vor meinem Weib will ich knien, und um Verzeihung betteln – das will ich, und ihr Fuß soll auf meinen Nacken sich stellen ...«

Eine vernichtende Stimme schlug ihm entgegen.

»Sie lügt ...! Sie lügt ...!«

Bettje Theißen war ins Zimmer gedrungen.

»Nicht sie – sondern die da ist sündig geworden und hat's mit dem Menschen gehalten!« Sie deutete erregt nach dem Zimmer, das sie soeben verlassen hatte, dann schluchzte sie auf: »Fräulein Pauline ...! – Fräulein Pauline ...!«

Wie schirmend hatte sie die Ärmste umschlungen.

»Diese Not ...! – Dieses erbärmliche Elend ...!«

Wiederum war das trockene und heisere Lachen aus ihm gefahren. Wie trunken wischte er sich das rinnende Blut aus der Stirne.

»Also doch eine ...! – Fort da! – Mit diesen zwei Fäusten ...!«

Er war seiner Sinne nicht mehr Herr. Verstört ging er der geschlossenen Tür zu.

»Keinen Schritt weiter!« rief die Tanzmamsell.

Mit ausgebreiteten Armen vertrat sie ihm die Schwelle, hinter der die Sünde im Staube lag und weinte. »Hier ist mein Heim und mein Reich,« sagte sie mit bleichen Lippen, »und keines Mannes Fuß soll das da betreten. – Niederwerfen müssen Sie mich – über mich fortgehn müssen Sie, bevor Sie in jenes Zimmer gelangen.«

Ihre Blicke flammten. Hoheit ging von ihr aus. Das bescheidene Wesen, die arme, kleine Tanzmamsell war übermächtig geworden.

»Später, wenn Ruhe und Einsicht gekommen – ist Ihnen diese Türe geöffnet. Früher nicht, so wahr ich hier stehe.«

Und er beugte sich, beugte den Nacken vor der zwingenden Macht der armen, kleinen Tanzmamsell – und als er ihre todestraurigen Augen gewahrte ...

Sie waren stärker denn alles, was ihm sonst schon im Leben begegnet war – und er fügte sich willig.

»Gut,« sagte er mit schmerzlichem Lächeln, »dann habe ich nur noch mit dem da zu sprechen.«

Und er wankte hinaus – er wankte über den Hof fort – er ging der Werkstätte zu ...

Das trübe Licht daselbst war erloschen. Er fand nicht mehr, was er suchte. Seine Arbeitsstätte war leer.

Da war er ruhig geworden, still und ruhig wie ein Mensch, dem das Schicksal gesagt hat: »Gehe nur, du hast alles verloren – und doch nichts verloren.«

Und er wandte sich und suchte wieder das Haus auf, das er soeben verlassen hatte. Es ging auf Mitternacht, als er eintrat.

Er fand die drei noch zusammen: die Tanzmamsell, Frau Hartjes und Bettje.

Er fragte nicht mehr nach seinem Weibe, nahm aber die Hand Paulinens und küßte sie lange. Tränen fielen darauf, da er sie küßte.

»Ich danke Ihnen,« sagte er leise, »ich danke Ihnen aus tiefster Seele. Sie haben mich vor dem Schlimmsten bewahrt, Sie haben mich vor meinem eigenen Selbst gerettet. Durch Sie habe ich mich wieder gefunden. Leben Sie wohl!«

Und dann ging er wieder hinaus, so still und ruhig und gefaßt wie er gekommen war.

Die Tanzmamsell sah ihm mit heißen Blicken nach.

»Der gute, liebe Mensch,« sagte sie schmerzlich.

Bettje Theißen fing sie auf mit liebenden Armen.


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