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XV Arme Seelen

Noch an demselben Tage entwarf Joseph von Arimathia ein Schriftstück in Brouillon. Es war ein langatmiges Machwerk, gespickt mit Ausfällen, Anklagen, Sophistereien und epigrammatischen Spitzen. Es kam ihm hart an, es roch nach Schweiß und Mühe, denn Joseph Sauerbier führte eine schwergelenkige Feder. Während der Nacht ließ er sich alles nochmals durch den Kopf gehen. Am andern Morgen nahm er wieder das Brouillon vor, redigierte und korrigierte, setzte hier einen Druckser und dort ein kräftiges Licht auf, bis es Mittag geworden. Joseph von Arimathia schwitzte und grübelte weiter. Nach dem Essen nahm er einen extrafeinen Kanzleibogen zur Hand, kniffte ihn der Länge nach durch und begann dann zu schreiben – eifrigst zu schreiben: »Saubere Dinge das ... ganz abgesehen von Meinungsdifferenzen ... Irreführung gläubiger Seelen ... Anmaßung, Hoffart ... Bitternisse und Heimsuchungen habe ich herunterzuschlucken ... aber ich will keinen beleidigen, niemanden kränken ... und dennoch, es muß sein ... Preisgeben heiliger Güter ... nein, das will ich nicht schreiben und muß es doch schreiben ... Hirt und Herde verkommen . .. eine energische Hand ist vonnöten ... Ostern steht vor der Tür ... denken Sie an die Aufrechterhaltung, der kirchlichen Ordnung ... wir können keine Freigeister in hiesiger Kirchengemeinde gebrauchen ... Buße, Buße, Buße ...«

Joseph Sauerbier schrieb weiter, er schrieb bis zur Vesperstunde, er schrieb, bis die Sterne am Himmel aufgingen. Endlich legte er die Feder beiseite, straffte den Stiernacken und tat einen tiefen Seufzer. Er hatte drei gekniffte Kanzleibogen beschrieben.

Joseph von Arimathia war fertig geworden.

»Trachtet vor allem nach dem himmlischen Reich,« sagte er mit nicht geringer Selbstbefriedigung, »das andere wird euch dreingegeben werden.«

Vergnüglich rieb er sich die Hände zusammen und knackte mit seinen Fingergelenken. Hierauf bestellte er eine Flasche mit Rotspon. –

Ums Abendläuten kam Karlo Antonio Pollmann, lebhaft begrüßt vom Vikar, der ihm den Don Diego abnahm und ihm eine Zigarre präsentierte.

» Grazie!« winkte Herr Pollmann ab, »doch wenn Sie gestatten ...«

»Aber warum nicht ...?!«

» Merci

Mit unglaublicher Fixigkeit brachte der emeritierte Zuave ein Etui aus seiner Rocktasche zum Vorschein, griff hinein, klappte es zu, brachte es wieder an Ort und steckte sich fingerfertig einen Rattenschwanz in den Mund, den er ebenso fix an einem schnell entzündeten Streichholz in Brand setzte. Hierauf ließ er sich breitspurig in einen Korbsessel fallen, schlug die Beine übereinander, hielt die brennende Virginia mit spitzen Fingern von sich und meinte: »Nie ohne dieselbe, Kaplänchen! – Erinnert an die italische Sonne, an Rom, an den großen Sankt Peter ... Im übrigen: da wären wir ja – und nun eine Frage: Wie geht es, signore

»Mir?«

» Si

»Hm!« machte Joseph von Arimathia.

»Weiß schon, weiß schon! – Allerhand Widerwärtigkeiten gehabt. – So'n Revolutiönchen im kleinen. – Eklige Schose! – Aber durchbiegen, durchbiegen! – Wird sich schon machen. – Aber mir ...?! – Molto bene! – Ausgezeichnet! – Bin selber so zu sagen ›paff‹ über die Sache. – Die Landwirtschaft – 'ne großartige Erfindung! – Perchè? – Der Boden ist das Material, aus dem durch menschliche und tierische Arbeit organische Produkte erzielt werden. – Wache ich. – Ganz neue Ideen in die verluderte Wirtschaft getragen. – Großartig sage ich Ihnen!«

»Und das verstehen Sie alles?«

»Ich ...?!« fragte Karlo Antonio und knipste mit einer unnachahmlichen Handbewegung die Asche von seinem landfremden Stengel herunter, »na – und wie! – Wo ich nur hinsehe: 'ne glatte Sache. – Veramente, signore!! Roggen und Weizen überbieten sich, in Kraut und Ähren zu schießen; 'ne hundertfältige Ernte gesichert. Esparkett- und Kleereuter abgeschafft. Künstliche Trocknung vorgesehen. Mein Prinzip ... und wenn noch so zwei Jährchen herum sind, kann sich der Baron gratulieren. – Alles doppelt und dreifach. – Höhere Pferdezucht angebahnt – neue Systeme – Geld wie Heu ... Der Baron ist ein Glückskind, und, ohne mich persönlich beräuchern zu wollen, darf ich wohl sagen: ich.«

»So ...?«

» Si,« sagte Herr Karlo, »aber trotz meiner Arbeit, trotz meiner Erfolge – hier sitzt das: die Sehnsucht nach der italischen Sonne, nach der Zuavenmontur, nach dem großen Sankt Peter.«

Mit Kennermiene Prüfte er das Arom seiner dünnen Zigarre, zwirbelte das gewichste Schnurrbärtchen aufwärts und lehnte sich kavaliermäßig in seinem Korbsessel zurück.

Joseph von Arimathia sah ihn ungläubig an.

»Sie zweifeln, mein Herr? – Ich habe con amore, con fuoco, con molto sentimento gearbeitet! – Aber nun mal ernstlich gesprochen – wie geht's Ihnen denn eigentlich, mein lieber signore

»Seltsame Frage!« meinte Joseph Sauerbier mit umflorter Stimme. »Mir geht's, wie's eben einem gemaßregelten Seelenhirten gehen kann. Aber hier,« und seine Worte wurden fester, grobkörniger, seine Hand griff nach einem Lineal, mit dem er energisch auf die vor ihm liegenden Kanzleibogen klopfte, »hier liegen meine Bekenntnisse, meine Expektorationen, meine Anklagen gegen Gewalt und Anmaßung – und wenn Sie erlauben, wenn es Ihnen nicht langweilig ist ...«

»Aber wieso denn?! – Das Gegenteil ist meine Parole. – Immer man zu – meinetwegen da capo – ich höre – avanti ...!«

Und Joseph von Arimathia las vor. Er las in fachlicher Weise, mit strenger Gebärde, zeitweilig ausfallend, wo's not tat, mit sanfter Betonung, fast kindlich; er sprach von der Aufrechterhaltung des Friedens, von der Wiedervereinigung verwahrloster Herzen, von der Schändung heiligster und subtilster Gefühle, stetig unterbrochen von den Randglossen seines aufmerksam zuhörenden Freundes.

»Die Kirche muß ihre Rechte behaupten ...«

»Bravo!«

»Ohne Ansehn der Person ...«

» Certamente

»Hier muß durchgegriffen werden, selbst auf die Gefahr hin, daß einem renitenten Geistlichen das Handwerk gelegt werden müßte.«

» Avanti – immer avanti

Und Joseph von Arimathia las weiter, schlug bei zutreffenden Kraftstellen auf den Tisch, daß es knallte, zitierte Kirchenväter und Bibelstellen, bis er unter atemloser Spannung zum Schluß kam.

» Magnifico!« applaudierte Herr Karlo Antonio Pollmann, voltigierte seinen niedergebrannten Glimmstengel in einen Aschenbecher, zündete sich einen neuen an und blies zierliche Kringel zur Decke, » Con espressione geschrieben. – Großartig!«

»Sie schmeicheln...«

» No, no, no! – Dico la verità. Trefflich gegeben. Die werden Augen machen. Dem Manne tut's gut; aber so unter uns gesagt: da jenseits der Berge würde die ganze Geschichte im Sande verlaufen – reineweg im Sande verlaufen.«

»Aber warum denn?«

»Signore,« meinte Herr Karlo mit überlegenem Lächeln, »je näher bei Rom, desto weiter vom Papst und vom Heiland entfernt. Jeder tut, was er will. Der italische Klerus...! – Gott ja, die Menschen sind anders geartet wie hier! – Wenn die da zu ihrer colazione tagtäglich 'ne fiasco mit 'ner Portion costolette alla milanese bekommen und so 'nem feurigen Weibsbild zum Nachtisch in die Wange...«

»Aber Herr Karlo...!«

»Gott ja – die dortigen geistlichen Leutchen sind leicht zufrieden gestellt; aber das macht die lateinische Rasse, der italische Himmel – während hier... Hier glaubt alles und kann Berge versetzen und gibt dem Papst mehr wie dem Kaiser – wie rechtens, denn je entfernter von Rom... Na, und so weiter, und wenn auch mal einen aus unserm Klerus der liberale Hafer sticht, wenn er über den Zaun will, dafür sind Vikare und Kanzleibogen da, wie ich soeben zu meiner Freude gehört habe. Ich gratuliere.«

Wiederum knipste er einen schmalen Aschenkegel zu Boden.

»Aber alles in allen,« fuhr er fort, indem er den Rattenschwanz durch einen geschickten Schlag mit der Zunge von der linken in die rechte Mundecke spedierte, »alles in allem: wer ist schuld an der ganzen babylonischen Verwirrung in hiesiger Kirchengemeinde?«

»Nun?«

»Der infame Zimmermannskerl.«

»Allerdings.«

»Und so ein Mensch hat diese Perle gefunden. Anmut, Würde, Zartheit – alles in einer Person verkörpert; während ich ...«

Ein stechender Blick glitt über den Tisch fort.

»Sie meinen Luise?«

»Gewiß.«

»Herr Karlo, hüten Sie sich.«

»Wieso?«

Der Vikar war aufgestanden.

»Man behauptet ...«

»Wer behauptet – und was wird behauptet?«

»Ich weiß: noch ist nicht alles tot zwischen Ihnen – und es müßte doch tot sein.«

»Inwiefern?«

»Luise ist das Weib eines anderen geworden.«

»Allerdings – und warum? – Lediglich durch eine infame Intrige.«

Seine Augen blitzten; mit unwirscher Geste brach er seine Zigarre entzwei und warf die Stücke in eine Ecke des Zimmers.

»Lediglich durch eine infame Intrige, Hochwürden!«

Seine Worte waren drohend geworden.

»Wenn auch,« sagte Joseph von Arimathia mit aller Bestimmtheit, »allein die Kirche hat ihren Segen gegeben, sie hat Hände und Ringe benediciert – und was sie bindet...«

»Ich verstehe,« kam es düster zurück.

Karlo Antonio Pollmann hatte sich gleichfalls erhoben. Mit großen Schritten durchmaß er das Zimmer. Dann blieb er stehen. Eine heiße Leidenschaft leuchtete in dem nicht unschönen Gesicht auf.

»Vikar,« sagte er endlich, »hier hat mal eine große Liebe gesessen.« Mit der Faust schlug er sich auf die Brust. »Das war vor Jahren. Ich habe diese Liebe begraben; wenigstens glaube ich, sie begraben zu haben und hoffe ...«

»Nun?«

»Sprechen wir nicht mehr davon. Wenn es auch schwer wird: abgetan.«

»Gut so,« sagte Joseph von Arimathia und reichte ihm die kräftige Hand hin. »Früher – ja, da halten Sie zugreifen sollen. Nun aber, wo die Sache verpaßt ist, können Sie nichts Besseres tun, als vergessen. Vergessen Sie; Sie müssen vergessen. Zwischen Ihnen und ihr steht das heilige Sakrament der Ehe. Das läßt sich nicht beiseite schieben; über das geht keiner hinüber. Und wer es trotzdem tut ... Geben Sie Ihrem Denken eine andere Richtung. Suchen Sie Ihr Sehnen, Ihre Nebenkräfte auf einem Gebiet zu betätigen, das Ihnen anderweitig zusagt. Stellen Sie sich in den Dienst der bedrängten Kirche – mehr denn sonst. Das wird geweitet im Himmel.«

»Ich werde.«

»Also Sie wollen. Gut – ich werde in den nächsten Wochen eine Versammlung beraumen ...«

»Recht so.«

»Und meinen Standpunkt dartun ...«

»Und der zielt worauf?«

»Ich werde niedrige Instinkte tiefer hängen und den Leuten von einem katholischen Priester erzählen ...«

»Wie rechtens.«

»Ungeheuerlichkeiten werde ich an den Pranger stellen; das Volk belehren ... Sie kommen doch auch?«

»Ich?!« fragte Herr Karlo. »Natürlich – und jetzt...«

Er langte nach seinem Hut.

Der Vikar war an seine Seite getreten.

»Denken Sie an das heilige Sakrament der Ehe,« meinte er leise.

»Das hier ...« sagte Herr Pollmann und griff sich ans Herz. »Abgetan.«

Mit einer chevaleresken Gebärde warf er sich den Don Diego um die Schultern, fuhr sich graziös über das gewichste Schnurrbärtchen und verließ mit den Worten das Zimmer: »Bis später. – A rivederci! – Addio signore

»Mit Gott!« rief ihm Joseph von Arimathia noch nach, dann ging er mit den Kanzleibogen an sein Zylinderbüreau, faltete das Schriftstück, tat es in ein Kuvert, siegelte und schrieb die Adresse.

Als bald darauf die dicke Therese den Brief zur Post tragen sollte, empfing sie ihn mit einer gewissen Würde und Andacht, nachdem sie vorher ihre klebrigen Finger an der Schürze abgewischt hatte. Bei der nächsten Straßenlaterne machte sie halt und las die Adresse: »Seiner Hochwürden, dem Herrn Generalvikar Doktor Griese, Kämmerer Seiner Heiligkeit, Komtur des Sankt Gregoriusordens in Münster.«

»Haha!« sagte Therese, ging aber nicht direkt zum Posthalter, sondern beehrte vorher Pitt Hoffmann, um diesem den gewichtigen Brief unter die Nase zu halten. »Was sagen Sie nu?« fragte die Dicke, aber so energisch und siegesgewiß, daß die Federn auf ihrem braunen Filzhut zu schaukeln begannen.

»Der Anfang von 's Ende. Der Mann ist fertig,« sagte Pitt Hoffmann.

»Meine ich auch,« versetzte Therese mit feuchten Lippen und vor Vergnügen schimmernden Augen, empfahl sich und schlingerte mit ihrem massigen Körper zum Postamt.

»Tag, Herr Piepmann. Ach, bitte, ja – wollen Sie diesen Brief ganz besonders ... Er geht an seine Hochwürden ... und was so'n Herr Generalvikarius bedeutet ...«

»Wird gemacht,« sagte Herr Piepmann, schob den Brief zu den übrigen Postsachen und pfiff dann:

»Mariechen hatte einen Hund
Und einen Leutenant;
Die liebte sie ja beide –
Ja beide, beide, beide ...«

»Rücksichtslos!« keuchte die dicke Therese, warf dem Herrn Postmeister einen verächtlichen Blick zu und ging dann, aber Herr Piepmann flutete weiter:

»Noch niemals hat ein Leutenant
So sehr geliebt wie der ...«

und er pfiff, bis er den Schalter herunterließ, er pfiff während der kommenden Stunden, er pfiff eine ganze Woche hindurch und zwar immer dasselbe:

»Mariechen hatte einen Hund
Und einen Leutenant...«

und als dann eines Tages die Schwalben mit fröhlichem »Sriii!« an seinem Hause vorbeischossen, von der alten Marktlinde lange, grüne Schleier herabrieselten, und der Flieder mit seinem Duft und den violetten Blütendolden ins Fenster hineingrüßte, da warf Herr Piepmann das abgepfiffene Motiv beiseite, besann sich nicht lange und flötete wie so'n ausgelernter Waldsänger:

»Der Mai ist gekommen ...«

und zwar so getragen und blütenschneeduftig, daß die Leute, die an der Posthalterei vorübergingen oder dort zu tun hatten, stehen blieben, um dem munteren Schläger zu lauschen.

Ja – der Mai war wirklich gekommen! – und als er etliche Tage ins Land gezogen war, erhielt Joseph von Arimathia einen versiegelten Brief, dessen Verschluß mit Bischofsmütze und Krummstab geschmückt war. In aller Hast brach er ihn auf. Er las ihn einmal, er las ihn zweimal, und jedesmal, wenn er ihn gelesen hatte, ging über sein Antlitz eine Art von hämischer Genugtuung, die aber mit dem Abglanz einer überirdischen Freude gepaart war. Bei der dritten Lesung meldete Therese Karlo Antonio Pollmann. Er kam, um wegen der Versammlung das nähere in Erfahrung zu bringen. Allein – er erfuhr nicht nur dieses, sondern auch Dinge, die einschneidender, bedeutender waren.

»Aber, Herr Karlo, ich bitte,« meinte Joseph von Arimathia, »vor der Hand das tiefste Geheimnis ...«

»I, natürlich ...! – wie werde ich denn der Pointe die Spitze abbrechen.«

Ums Abendläuten saßen die beiden noch immer zusammen. –

Ja – der Mai war wirklich gekommen! – Neben dem alten Nußbaum auf dem Zimmerplatz stand ein Fliederstrauch, der über und über mit violetten Sträußen gespickt war.

Die kranke Baronin nickte ihm schwach mit dem Kopf zu. Sie glaubte, daß es jetzt besser mit ihr gehen würde; aber es ging nicht besser mit ihr. Es blieb alles beim alten. Da verlor auch sie jede Hoffnung. Die Tanzmamsell saß ihr zur Seite und hatte ihre alte Beschäftigung wieder aufgenommen. Sie bossierte Georginen und Rosen in Wachs, um auf diese Weise ihren Zehrpfennig zu erhöhen, wenigstens ihn auf dem laufenden zu halten, und Doktor, Apotheker und den nötigen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Ach, Gott, ja ...! – das mit ihrer Mutter, das konnte noch lange dauern. Wenn es überhaupt nur besser würde! – und dann fiel eine verhaltene Träne auf ihre Arbeit, auf ihre weißen Hände; mit schimmernden Augen sah sie in die kommenden Tage hinein. Instinktiv fühlte sie den leisen Schritt einer nahen Gefahr, und wie sie sich's auch ausreden mochte: immer neue Zweifel und Sorgen stellten sich ein, Anfechtungen, von denen keiner etwas ahnte, selbst Johannes Wesselink nicht. Ja – sie hörte es deutlich: das Unglück kam immer näher und näher; sie konnte ihm nicht ausweichen, konnte ihm nicht mehr gebieten, von ihr zu lassen, ach! – und sie wäre so gerne auf und davon gegangen, so weit wie nur möglich, nur um ein großes Stück Erde zwischen sich und ihre wehen Gedanken zu legen. Sie vermochte ihrer unterdrückten Tränen nicht mehr Herr zu werden.

»Aber, um Gottes willen, Kind – was hast du denn eigentlich?!« fragte die Alte mit leiser und schmerzlicher Stimme.

»Nichts, nichts – Mutter; es geht schon vorüber.«

»Habe doch Vertrauen zu mir.«

»Nein – das darf ich nicht sagen.«

»Auch – mir – nicht?«

»Nein, Mutter, auch dir nicht; später vielleicht.«

Ihre Wimpern waren noch feucht, wie sie das sagte.

»Dann wird's für mich nicht mehr langen,« meinte die alte Baronin mit unsäglicher Wehmut, und sie sah hinaus, wo die Schwalben flogen ... »Wenn sie mir doch helfen könnten – die Schwalben! – Später vielleicht,« setzte sie lautlos hinzu, »wenn sie wieder die große Reise antreten, dann werde auch ich wohl – die – Flügel – spannen – dürfen...«

Ihr Kopf war leise nach vorne gesunken. –

Ab und zu kam auch Luise Wesselink herüber, um nach der alten Baronin zu fragen. Aber jedesmal, wenn sie kam, ging es der Tanzmamsell wie ein Stich durchs Herz. Sie hätte ihr zurufen mögen: »Bleibe da, ich kann dich nicht sehen, denn wenn ich dich sehe, beneide ich dich und möchte über dein zertrümmertes Glück in das meine hineingehn!« – Ihre Seele konnte keine Ruhe mehr finden. Immer die schreckensvolle Erkenntnis, das verräterische Feuer, das Sehnen und Sinnen und die Hilflosigkeit, die sie nicht mehr abstreifen konnte! – Auch heute war Luise dagewesen, aber nicht lange, und die Tanzmamsell atmete auf, als sie fortging, sah ihr mit großen Augen nach und sagte mit beklommener Stimme: »Ach, diese Leere! – und mit dieser Leere im Herzen so ein ganzes Leben durchleben ... Kein Trost – nichts, nichts, nichts ...«

Sie erschrak vor ihren eigenen Worten und begab sich wieder an die Seite ihrer Mutter. –

Luise Wesselink war nicht nach Hause gegangen. Sie konnte es nicht, sie mußte draußen ihre Gedanken ordnen; denn was da noch kommen sollte ... Sie zweifelte – und seit ihrer Ehe waren doch schon Wochen und lange Monate vergangen. Aber wo sie auch hinblicken mochte – immer dasselbe Geheimnis mit den großen, dunklen Augen, und wenn sie die Ohren schärfte, dann hörte sie die Glocken in weiter Ferne läuten – die Glocken von damals, und sie vernahm den Wachtelruf im Feld und sah das Getreide, wie es im Winde dahinlief und gegen das Licht des Abends anwehte. Und dann waren die Sterne am Himmel aufgegangen – unzählige Sterne ...

Sie ging achtlos des Weges, ließ die kleine Stadt hinter sich, den Blick zu Boden geheftet und ein leidvolles Lächeln um die Lippen – das Widerspiel ihres schwermütigen Sehnens. Sie hatte schon längst die belebten Straßen hinter sich; der Frieden und die Ruhe des weiten Feldes umfing sie.

»Ich darf an nichts mehr denken – an nichts mehr...«

Allein – ihre schweren Gedanken schrumpften doch nicht zusammen: sie weiteten sich und wuchsen ins Ungemessene hinein, und sie erzählten ihr von den Widerwärtigkeiten des Lebens – von ihrer Versuchung – von dem, was ihr Joseph von Arimathia gesagt, wie er sie gewarnt und etwas in ihrer Seele geweckt hatte, woran sie jetzt nicht mehr denken wollte und durfte. Und dennoch: sie mußte dran denken, und sie hörte es deutlich, ganz deutlich – es waren die Worte von damals: »Du hast schon einmal geliebt, heißer geliebt, aus ganzer Seele geliebt ...«

Langsam wiederholte sie die einzelnen Worte. Sie fühlte es, ein geheimer, sehnsüchtiger Jubel lag in ihnen gebettet. Sie blieb stehn.

Hatte da nicht jemand ›Nonnenhannes‹ gerufen?

Nein, niemand hatte gerufen, keine menschliche Seele – aber sie ...

Ein Gedanke war in ihr, und unwillkürlich schreckte sie bei diesem Gedanken zusammen.

Sie war das Weib dieses Mannes geworden.

»Und hier ...!«

Mit kalten Fingern war sie über ihre Stirne geglitten.

»Hier hatte der Brautkranz gelegen; und hier und hier ...!«

Scheu tastete sie an ihrem Körper herunter; ihre Hände blieben auf der Herzgrube liegen. Da erwachte etwas zum Leben, was tot sein sollte, schlafen sollte für immer. Das beherrschte ihr Wollen, ihr ganzes Empfinden und machte sie wehrlos, haltlos wie eine arme Seele, die in die Irre hineingeht.

Wohin sollte das führen?! – Wie sollte das enden?!

Mit trostlosen Augen sah sie ins Weite.

»Nonnenhannes!« kam es ihr bitter von den Lippen herunter.

Ängstlich sah sie sich um und um und ging dann ziellos weiter.

Mit weichen, frommen Schlägen tönte das Angelusläuten über die Landschaft. Auf den Wäldern von Moyland ruhte bereits ein violblauer Dämmer, während auf Wiesen und Ackerfurchen noch der Schimmer des sinkenden Tages lag. Mit den jungen Halmen der Roggen- und Weizenfelder spielten die Stimmen des Abends. Weithin breitete sich der Himmel in unendlicher Klarheit. Jeden Augenblick konnten dort die silbernen Fünkchen erwachen. In der zunehmenden Dämmerung nahm alles eine größere Fassung und Form an; die Bäume streckten sich und wuchsen in den tiefen Himmel hinein, während die Stimmen, die durch die Ähren rieselten, sich allmählich verstärkten, an Wohllaut zunahmen und den Anschein hatten, als sprächen sie in menschlichen Lauten. Da war es ihr so, als wenn geheimnisvolle Klänge aus alter Zeit herüberwehten. Und diese Klänge flüsterten von einer schönen, niederrheinischen Frau, von ihrer Mutter, die sie nicht mehr gekannt hatte. Nur von einer verwaschenen Daguerreotypie her, aus einem vergilbten Schriftstück, das sie im Nachlaß ihres Vaters gefunden hatte, waren ihr Einzelheiten bekannt, und diese erzählten ihr, wie das junge Weib, das ein heißes Herz und verzehrendes Blut gehabt haben mußte, Not und Leid über die ganze Familie gebracht und mit einem jungen Notariatsgehilfen auf und davon gegangen war. Die Aufzeichnungen redeten eine schlichte, aber deutliche Sprache, und ihr Vater, der ein einfacher Landbürgermeister gewesen, hatte sich alle Not vom Herzen geschrieben, als er die Schlußworte setzte: »Und so ist sie denn ihres Weges gegangen, hat Vater und Mutter und mich und ihr kleines Mädchen verlassen. Wahrscheinlich ist: sie konnte nicht dafür, denn sie hatte ein zu heißes Herz und eine zu feurige Seele. Jenseits des großen Wassers soll sie gestorben sein. Gott sei ihr gnädig!«

Und etwas von dem, was in dem Blut ihrer Mutter pulsiert hatte ... Die Ärmste mußte eben; sie sah den Abgrund mit taghellen Augen und ging doch der dunkelblauen Tiefe entgegen ... Und sie ...

Sie spann die schlimmen Gedanken nicht weiter. Sie wandte sich und trat den Heimweg auf der nahgelegenen Chaussee an, um nicht länger in die Irre zu gehen. Dichtere Schatten senkten sich nieder, stellenweise von blitzenden Lichtchen unterbrochen, die mehr der Stadt zu in der Niederung standen. Ihr Atem ging schwer; deutlich konnte sie das mühsame Heben und Sinken ihrer Brust unter dem leichten Kleide verfolgen.

Sie kam jetzt in die Nähe der Kastanienallee, durch die sie hindurch mußte, um ihr Ziel zu erreichen. Sie sah schon den Eingang, wo zwei Laternen brannten, deren mattes Licht noch mit der Dämmerung kämpfte. Die Allee war menschenleer. Sie hörte nichts; nur aus den Straßen jenseits der Kastanienbäume kam ein leises Räderknarren. Da hinten lag also die kleine Stadt, ihre Heimat, wo sie eigentlich nichts wollte, nichts zu suchen hatte. Ihrer wartete niemand. Und dennoch – ihr Mann wartete ihrer und alltägliche Dinge. Am liebsten hätte sie ihren Schmerz in die Einsamkeit weiter getragen. Sie fühlte sich hilflos in den Fängen einer übermächtigen Gewalt; das war nun schon so seit Wochen gegangen. Sie suchte etwas und scheute sich doch, das Gesuchte zu finden. Kein Zweifel: wen die sündige Liebe einmal gefaßt hat, den läßt sie nicht wieder. Sie ist bei ihm, wenn er das müde Gesicht in die Kissen hineindrückt, und ist immer noch da, wenn der Morgen kalt und verschläfert emporsteigt. Sie wird sein bis zum Ende der Tage. Wie eine dumpfe Wahnvorstellung fraß sich diese Selbsterkenntnis in ihre Seele hinein. Sie hätte aufschreien mögen. Wie ein Nebel lag es vor ihren Sinnen, aus dem nur zwei Gestalten aufragten. Der einen wollte sie begegnen und doch nicht begegnen ... Und wieder riefen ferne Glocken über den Wald fort; und die Steine waren aufgegangen am Himmel – unzählige Sterne ...

Aber niemand verstand das ...

In diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, als senkte sich eine Last auf sie herab – als wären zwei starre Augen auf sie gerichtet – als wenn eine Hand sie berührte ...

Ihre Blicke waren am Boden geheftet. Sie hielt den Fuß an und wollte nicht sehen. Sie wußte, daß keine Hand sie berührte, aber das empfand sie deutlich: ein Schatten stand vor ihr, ein bleiches Gesicht; es war ihr, als käme ein Brausen über sie her, ein wütiges Brausen, das alles verschlänge: Frieden und Glück und ihr ganzes Empfinden. Das waren die Glocken überm Wald fort – die Glocken von damals ...

Und dann eine Stimme: »Du ...!«

Er hatte sie an sich gerissen. Ihr Körper zuckte unter der Qual, sich von ihm zu lösen. Mit angewandtem Gesicht stemmte sie ihre Hände gegen seine hämmernden Schläfen, aber sein Mund versuchte schon, ihre Lippen zu küssen.

»Einmal war's so,« hauchte er mit verzehrenden Lauten, »Luise. Luise ...!«

»Das ist alles unmöglich!« – Du weißt doch ...«

»Der da ...!«

Er stieß einen heiseren Schrei aus.

Das war Karlo Antonio nicht mehr, der Renommist, der Kerl mit all seinen Äußerlichkeiten und der großzügigen Pose – das war der Mensch mit der heißen und brennenden Liebe, mit dem stummen, aber gierigen Verlangen, der die Weiber kannte, sie zu lenken verstand und, wenn er wollte, ihren Willen zu lähmen vermochte.

»Der da ...!« schrie er noch einmal. »Der gehört dir ja gar nicht! Aber wir beide – du und ich ...«

Mit heißem Flüstern drangen ihr die Worte zu Ohren.

»Was willst du von mir?!«

Sie wurde rückwärts gezogen, umstrickt, und nun ruhte sein Mund auf dem ihren mit vollem Begehren.

In stummer Hilflosigkeit, wie von einem Schwindel gepackt, ganz verzweifelt war sie in seine Arme gesunken. Über sie hin ging die zwingende Macht dumpfen Ertragens. Der Atem seiner Brust ging wilder und wilder. Seine Blicke standen über ihr, wie sie damals gestanden, als der Roggen wogte, und der Sommerabend mit seinen schwülen Düften sie berauscht hatte. Ein lähmender Hauch ging von ihm aus. Wie Raubvogellichter brannten seine verlangenden Augen.

»Fühlst du denn nicht, daß wir zusammen gehören?!« keuchte er leise. »Ja, du – wir gehören zusammen. Das ist einmal so bestimmt, das läßt sich nicht ändern. Das Schicksal ist stärker als wir und läßt sich nicht meistern. Es verhöhnt die kleinlichen Menschen. Du gehörst nicht unter den kalten, grauen, nordischen Himmel. Du gehörst anderswohin. Weißt du, Luise: jenseits der Berge lacht die italische Sonne!«

So hatte er schon damals gesprochen – der leichtfertige Mensch, der Poseur, aber der Mensch, der alles bezwang und die Weiber beherrschte. Jetzt waren ihr wieder die Lebenstore geöffnet, und jenseits von ihnen winkte ihr das blühende, jauchzende Leben ...

»Du verkommst ja in dieser Alltäglichkeit,« raunte er Wieder, »in dem Einerlei des Handwerksmäßigen. Von diesem Menschen besessen – das ist ja zum Ekel. In meinen Armen findest du alles. Ich zeige dir ein anderes Leben. Weißt du: anch' io sono...«

»Was machst du aus mir?«

»Was dir das Herz sagt.«

Sie war ganz wie betäubt, ganz wie verstört. In sinnloser Hilflosigkeit drängte sie an seine Brust und suchte seine Lippen zu finden.

Ihre Seelen begegneten sich wieder im verzehrenden Kusse.

So standen sie ganz allein in der weiten Stille und gehörten nur sich an. Beide Arme hatte sie um seinen Nacken geworfen, als wenn sie ihn so halten müßte für immer.

»So ist's gut,« hauchte er lechzend, indem er sie immer fester und wilder umstrickte. »Niemand sieht uns, niemand hört uns ... Weißt du, Luise: das kettet uns für ewig zusammen.«

Ein trockenes Schluchzen erschütterte ihren Körper.

»Nein ...!« schrie sie plötzlich, als wäre ihr die Besinnung wieder gekommen, »das kettet sich nie mehr zusammen!«

Mit einem jähen Ruck war sie von ihm und zur Seite gewichen. An einen Baum gelehnt, sah sie ihn mit toten Blicken an.

Er war näher getreten und suchte ihre Hände zu fassen.

»Nein...!« stöhnte sie heftig.

Seine Lippen zuckten, als wenn sie sprächen, aber sie konnte nicht verstehen, was er sagte.

Noch einmal versuchte er, sie in seine Arme zu reißen.

»Wenn du es wagst ...!« sagte sie drohend.

»Dann gib mir die Hand.«

»Nein.«

»Nur zum Zeichen, daß du mich gern hast.«

»Nein – nie mehr.«

Ihre Blicke trafen sich mit einem feindlichen Ausdruck.

»Ich soll also gehen.«

»Ja,« sagte sie trocken. Das Wort rang sich zäh von den Lippen herunter.

Noch einmal sahen sie sich an, dann ging sie der kleinen Stadt zu – müde und mit langsamen Schritten.

Er blieb stehen und folgte ihr mit hungrigen Augen, von dem Gedanken beseelt, ob sie sich noch einmal umsehen würde.

Allein – sie wandte sich nicht, aber sie fühlte, sie erinnerte sich, wie heiß und dämonisch seine Küsse gewesen. Apathisch und gesenkten Kopfes schritt sie in das Licht der beiden Laternen hinein, die am Ende der Kastanienallee immer stärker aufleuchteten.

Noch immer stand er auf der nämlichen Stelle. Seine innersten, seine heimlichsten Gedanken aber schlichen ihr nach. Ein dumpfes Brüten bemächtigte sich seiner. So stand er noch lange. Dann winkte er ihr mit der Hand zu, obgleich er sie nicht mehr zu sehen vermochte.

»Geh nur, geh nur,« sagte er leise.

Es lag etwas Triumphierendes darin, wie er es sagte.

Er hatte genug gesehen, genug empfunden ...

Hilflos hatte ihre Seele vor ihm gestanden. Nichts war ihm verborgen geblieben – nichts – gar nichts... Und wenn sie es auch zu leugnen versucht hatte – er kannte das. Sie war willens gewesen, mit ihm in die geheimnisvollen Gefilde des verbotenen Landes zu dringen, wo nichts anderes wie die Leidenschaft Herrscherrechte besaß und die Sinne geboten. Wenn auch heute nicht, morgen nicht – aber der Tag mußte doch kommen.

Ja – der Tag mußte kommen.

Eine heimliche Freude durchfuhr ihn. »Ich lasse dich nicht; immer werde ich da sein, wo du auch sein magst ...«

Durch die dunklen Kastanienbäume ging ein Säuseln und Sausen. Sie hatten ihre Kandelaber mit den weißen Flämmchen aufgesteckt. Auf und nieder schwankten sie im singenden Nachtwind. Blitzende Sterne waren dazwischen.

Noch immer sah Karlo Antonio in Richtung des Weges, den sie gegangen war.

» A rivederci!«

Dann setzte er lässig eine Virginia in Brand und ging der Chaussee nach, dem nahegelegenen Moyland entgegen.


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