Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX Nonnenhannes

Bettje Theißen drehte sich in der schummerigen Stube um und um. Das Entsetzen hatte ihr das Gesicht in den Nacken gerückt, und da sah sie in den zersprungenen Spiegel, wußte aber nicht, ob das Bild, das in der Scheibe stand, ihr eigenes Konterfei war oder nicht, so sehr hatte sie sich über die dicke Therese geärgert. Das war ja ein entsetzliches Fraumensch! – Das war ja eine Sache, die vor den Schandarmen gehörte! – Sie so vor aller Welt und mit so einem steinernen Herzen bloßzustellen und in dieser niederträchtigen Art zu blamieren ...! War das durchlebte Wirklichkeit, oder war es nur ein wüstes Träumen gewesen?! – Sie wußte es nicht. – Sie befühlte ihren Kopf – es war ihr Kopf, sie besah ihre Hände – es waren ihre Hände, sie streifte mit sondierenden Fingerspitzen an ihrer halbseidenen Bluse herunter – es war ihre Bluse, sie hatte sie beim Manufaktoristen Grades van der Grinten erstanden und einen Taler fünf Silbergroschen für die Elle gegeben – und somit, alles in allem genommen, sie war noch immer dieselbe, sie war noch immer Bettje Theißen geblieben, aber ihre Füße versagten. Sie mußte sich setzen – und so verfiel sie denn auf den ripsenen Fauteuil, der vor der Konsole mit der Sevresporzellantasse stand, schob ihn noch einen Schritt näher heran und ließ sich, hierauf mit einem schweren Seufzer in die schon etwas fadenscheinigen Polster hineinrutschen.

»Nein, diese Person!« schluchzte sie so recht aus tiefster Seele heraus, daß sich die alte Baronin gerührt niederbeugte und sie zu trösten versuchte.

»Halten Sie Contenance, meine Beste,« sagte sie in zutraulicher Weise, indem sie aus ihrem Pompadour ein Fläschchen mit Melissengeist hervorholte und damit Bettje Theißen besprengte. »Denken Sie doch nur an mich – an meine Tochter! – Denken Sie doch nur an den entsetzlichen Kaffee ...! – Wir haben Contenance gehalten. – Denken sie nur an die soeben vorgebrachten Insulte! – Wir haben Contenance gehalten. – Denken Sie an das Benehmen dieser Person einer wirklichen Baroneß gegenüber – und Sie werden selber Contenance behalten. So eine brutale Domestikennatur macht nicht mal Front vor alten Traditionen, die selbst einen Herrn von Methusalem in den Schatten zu stellen vermögen ... Sie rüttelt mit ihren ekelhaften Händen an Stammbaum und Adel, brüskiert uns und wagt es, selbst die Perlen einer freiherrlichen Krone ... Unerhört! – aber wir haben Fassung bewahrt, und was wir zu tun vermochten, das können Sie als schlichte, bürgerliche Person ... Darf ich Ihnen noch etwas Melissengeist geben?«

»Ach, bitte – ja!« sagte Bettje und beglückte die Alte mit einem dankbaren Lächeln, die ihrerseits wieder einen Sprühregen der scharfen Essenz über sie ausgoß und dann ins Nebenzimmer ging, um die grünlackierte Rübsenöllampe zu holen. Das war auch nötig. Die Dunkelheit fingerte immer nachhaltiger ins Zimmer hinein und umspannte alles mit ihren grauen, dämmerigen Baumwollfäden, denn die matte Scheibe am niedrigen Himmel war untergegangen.

Und wie sie untergegangen war, da sauste der alte Nußbaum auf dem Zimmerplatz auch stärker herüber, und die Bäume auf der Klever Chaussee standen schärfer im Wind, und sie standen grau in grau wie das eingedunkelte Land, das gerne einschlafen wollte, aber nicht einschlafen konnte, weil es noch immer so wehte und sauste, und keine Ruhe hereinbrach. Die niederrheinische Erde konnte die Augen nicht schließen; wenigstens schien es so, denn inmitten der Landstraße lagen zwei glühende Punkte in einer matterleuchteten Dunstmasse, die gemächlich aus der Ferne herankroch. Und in der dunstigen Masse war ein Getrabe wie von Pferdehufen, und rasche Funken wurden zur Seite gerissen, die wie feurige Fliegen das schwanke Gitterwerk der Chausseebäume durchtanzten – ganz genau so wie feurige Fliegen, und das kam daher, weil Stäwe Rademaker, der von Elten heimwärts kutschierte, keinen Deckel auf seinem Pfeifenkopf hatte, und der Wind hineintapste, als müßte er auch das letzte glimmende Tabakpartikelchen in alle Welt hinausblasen ... Feurige Fliegen ...! – und sie irrten wie unstete, wirre Gedanken über das unruhige Land, das nicht einschlafen konnte und immer auf das monotone Seufzen und Stöhnen hören mußte, das keine Pause hatte und nicht daran dachte, es gelinder zu machen.

»Donnerkiel!« sagte Stäwe und hielt seinen Postillonshut steifer gegen den harten Wind an, »nu weiß ich nicht, soll ich's ihm sagen, oder soll ich's ihm nicht sagen? Will mal Zympathie anwenden, möglich, daß die Knöppe es wissen!« – und er zählte mit verklammten Fingern an seinen Postillonsknöpfen herunter: »Sagen – nicht sagen – sagen – nicht sagen – sagen – nicht sagen ...! – denn nicht,« meinte er mit einer gewissen Befriedigung, »die Knöppe haben schon recht. Maul halten ist immer noch ein besserer Bremsklotz, wie vorzeitig reden. – Hektor, Liese – man vöran!«

Die matterleuchtete Dunstmasse haspelte weiter – und die Zweige der unruhigen Chausseebäume schwankten über sie hin – und der alte Nußbaum, der auf dem Zimmerplatz stand und sich eingemummt hatte, fühlte plötzlich, wie ein warmer Strahl über ihn fortging und seinen Schatten gegen die Giebelwand des niedrigen Hause drückte, in welchem Johannes Wesselink wohnte. Es war ein heller Lichtschein, der aus dem Zimmer der Tanzmamsell kam und weithin ins Freie hinauslief.

Auf dem Tisch brannte die grünlackierte Rübsenöllampe, und Bettje Theißen saß noch immer auf der nämlichen Stelle und sah mit ihren großen, runden Augen ins Leere, und dann blickte sie schärfer zu und wähnte einen Kirchhof zu sehen, wo unter vielen schwarzen und blauen Kreuzen ein braunangestrichenes war, auf dessen Querholz eine ungeschickte Hand ›Bettje Theißen‹ in weißer Ölfarbe hingemalt hatte. Neben dem Kreuz aber standen zwei Personen und unterhielten sich mit häßlichem Lachen. Und Bettje kannte die beiden. Sie verstand auch, wovon sie sich unterhielten.

»Da ist ja ein Kreuz,« sagte Pitt Hoffmann.

»Ja – da ist ein Kreuz,« meinte die dicke Therese.

»Und darauf steht ›Bettje Theißen‹ geschrieben.«

»Ja – darauf steht ›Bettje Theißen‹ geschrieben.«

»Und zwar mit weißer Ölfarbe.«

»Ja – mit weißer Ölfarbe.«

»Und das Kreuz hat 'nen anderen Anstrich wie die übrigen Kreuze; es ist braun.«

»Ja – es ist braun.«

»Also ...?!« lachte Pitt Hoffmann.

»Also ...?!« lachte die dicke Therese.

»Das ist ja niederträchtig, das ist ja infam!« wimmerte Bettje.

»Ist Ihnen noch immer nicht wohl?« fragte die alte Baronin und ließ wiederum einen feinen Sprühregen von Melissenwasser über sie hingehn; dann nahm sie die Hand der armen Person und meinte mit einer so recht lieben Stimme: »Was ist das für eine fatale Geschichte? – Fräulein Theißen, Sie sollten sich mir gegenüber offenbaren – Sie sollten sich aussprechen. Das macht leichter ums Herz; was man zu tragen hat, das trägt sich besser zu zweien.«

Hierauf stellte sie die Flasche mit Melissengeist beiseite und nestelte an ihrem Pompadour herum, um ihr Taschentuch zu nehmen und es gegen die wehleidigen Augen zu drücken.

Ein tiefes Schweigen entstand.

Bettje Theißen konnte nicht mit der Sprache heraus; ihre aufgerissenen Augen waren noch starrer denn vorhin geworden.

»Man kann über eine Sache irrsinnig werden,« sagte sie endlich, »und ich war vor fünfzehn Jahren hart daran, es zu werden. Jetzt ist's verwunden. Ich leide nicht mehr darunter; im Gegenteil: ich bin glücklich geworden. Warum? – das sollen Sie später erfahren – aber damals ... Wissen Sie, meine sehr verehrte Baronin: was das unausstehliche Fraumensch gesagt hat, das sind nun an die fünfzehn Jahre gewesen. Ich war damals 'ne blutjunge Lehrerin im benachbarten Wissel. Glauben Sie mir, der Ort liegt so eigentümlich zwischen Weiden und Wiesen ... und wenn dann in Sommertagen die Wasser so langsam dahinkrochen, und so ein warmer, schwüler Heuduft über die Erde ging, daß es einem ordentlich den Atem benahm – und wenn dann am Johannisabend die Feuer brannten ... Sehn Sie, meine sehr verehrte Baronin, an einem solchen Abend ist es damals gewesen. Ich war mit dem jungen Menschen über die Deiche gegangen, um die Johannisfeuer zu zählen ... Und sie brannten dem Rhein zu, nach Hönnepel, und andere brannten dem Binnenland zu, in Richtung von Moyland und Kleve, und andere standen wiederum auf den Deichen und leckten mit ihren gierigen, aber stillen Zungen nach oben ... Und wir beide waren allein und zählten die Feuer, die in der weiten Niederung und auf den Deichkronen brannten. Und der junge Mensch beugte sich über mich, daß ich seinen weichen Atem spürte, und fragte: Bettje, siehst du die Feuer? – Ja, ich sehe die Feuer. – Und siehst du auch das, was in meinen Augen brennt? fragte er wieder mit heiserer Stimme. – Ja, das sehe ich auch, sagte ich leise – und als ich das sagte ...«

»Das muß ja herrlich gewesen sein!« meinte die alte Baronin.

»Das war es auch,« entgegnete Bettje, »aber es fehlte nicht viel, so wäre ich darüber in Irrsinn gekommen – und das sind jetzt fünfzehn Jahre gewesen. – Und der Juniabend war still und verschwiegen und hat nichts ausgeplaudert. Aber wissen Sie, meine sehr verehrte Baronin, ich konnte es selber auf die Dauer nicht länger verbergen – und da wurden wir beide mit Schimpf und Hohn aus unserm Lehramt gestoßen. Ich ging zu meiner Mutter zurück und bewohnte dies Häuschen; er jedoch zog in die weite Welt, um eine Unterlage für unsere spätere Ehe zu suchen. Aber wissen Sie, meine sehr verehrte Baronin, der junge Mensch hatte kein Glück; alles mißlang ihm, außer an dem Abend, wo die Feuer mit einer so heißen Liebe und mit so feurigen Zungen gen Himmel spielten. Da war er findig gewesen, aber später – was er auch anfangen mochte: alles ging ihm verquer, und wäre er auf die Idee gekommen, Hüte zu machen, und hätte sie auch in modernster Form und Fassung zuwege gekriegt – soviel wäre dann sicher gewesen: von dem Moment an wäre die Menschheit ohne Köpfe auf die Erde gekommen. Er war eben kein Glückskind, versuchte aber durch den Gewinn des großen Loses sich über Wasser zu halten und spielte in zehn Lotterien. Aber immer nur Nieten – immer nur Nieten ...! – Seine ganze Tätigkeit war nichts anderes wie ein großmaschiges Sieb, durch welches alles hindurchlief: Arbeit und Lose. Anno 66 aber gelang's ihm. Da streckte er plötzlich bei Königgrätz die Arme gen Himmel, und rief: Adieu, Bettje! – jetzt habe ich die große Nummer gezogen. Acht Tage später hatte auch unser kleines Mädchen die große Nummer gezogen und war still nach oben gegangen.«

»Das ist ja entsetzlich!« sagte die alte Baronin.

»Das war's auch,« entgegnete Bettje wie in dumpfer Betäubung, »und nun saß ich da in meiner tiefen Not und in meinem furchtbaren Elend. Die Kinder verhöhnten mich, die erwachsenen Menschen verlästerten mich, und die dicke Therese sah immer so aus, als wenn sie mich anspucken wollte ... und so sind die Jahre vergangen. Ich habe oft am Wasser gestanden und habe auch die Arme gen Himmel gestreckt und gewartet, ob die große Nummer nicht käme. Aber sie kam nicht, und so habe ich denn alles ertragen, was die Menschen mit ihrem boshaften Wesen mir antaten, vergaß allmählich meine tiefe Not und verwand alle Nichtigkeiten und Erbärmlichkeiten des täglichen Lebens. Ja, sogar ein Hauch des Glückseligen spielte mich mit den Tagen an – und jetzt bin ich, im Hinblick auf das Vergangene, vollkommen glücklich geworden.«

Mit einem stillen Lächeln legte Bettje Theißen ihre Hände zusammen.

»Wie ist das aber nur möglich?« fragte die Alte.

»Ich bekam heilige Augen,« entgegnete Bettje mit unendlicher Ruhe.

»Wer hat das gesagt?«

»Joseph von Arimathia.«

»Der hat das wirklich gesagt?«

»Ja,« nickte Bettje.

Die Alte trat näher und sah ihr tief in die Augen.

»Das sehe ich jetzt erst,« meinte sie plötzlich. »Joseph von Arimathia hat recht. Ja, Fräulein Theißen – Sie haben wirklich heilige Augen.«

»Das weiß ich,« sagte Bettje und war wie in stiller Verzückung vom Sessel gefahren, »aber nicht deshalb, weil es Joseph von Arimathia behauptet, sondern deshalb, weil ich ein reines Glück in mir trage, das ich aus allem Elend mit hinüber gerettet – und das kann niemand mir nehmen: nicht die Schmähsucht der Menschen, nicht die Kugel von Königgrätz, nicht der Tod meines Kindes ...«

Bettjes Augen wurden immer größer und größer, und sie stand da, als wenn sie in die Vergangenheit schaute.

»Und das Glück stammte von damals,« begann sie leise weiter zu sprechen, »als die Feuer brannten ... Und der Heuduft wehte herauf – und es ging wie ein Hochzeitslied durch die Luft – und ein warmer Atem war bei mir ...«

»Aber um Gotteswillen! – Fräulein Theißen, was bedeutet das alles?«

»Das bedeutet, daß ich glücklich war,« sagte Bettje in ihrer unerschütterlichen Ruhe von eben, »und wenn auch Elend und Kummer daraus hervorgingen, es ist doch eine heilige Sache gewesen.«

»Und das glauben Sie?«

»Ja,« sagte Bettje. »Viel Wasser ist seitdem den Rhein talwärts gelaufen. Es hat vieles hinweggeschwemmt, aber das Andenken an die heilige Sache ist mir für immer geblieben. Den Toten von Königgrätz habe ich längst vergessen, aber der junge Mensch von der Deichflanke her, der lebt noch immer ... Und wenn er wiederkäme ... Wissen Sie, ich habe eine brennende Seele ...«

»Hören Sie auf, Fräulein Theißen!«

»Ich kann doch nicht dafür, daß es einmal so ist,« entgegnete Bettje und richtete ihre großen Augen in stiller Ergebung und mit feierlichem Ernst auf die alte Baronin, »und alle, die so geartet sind wie ich bin und sagen, sie hätten anders gehandelt, die heucheln und lügen, denn sie können doch das Gebieterische ihrer brennenden Seele nicht totschlagen ... Und darum verfluche ich auch die damalige Stunde nicht, wo der Heuduft heraufstieg, und die Johannisfeuer durch den Abend brannten und lohten – und wenn sie wiederkäme ...«

Und Bettjes Stimme wurde immer lauter und lauter: »Und wenn sie wiederkäme – jene schöne, unselige Stunde ...! – Und selbst, wenn die ekelhafte Therese von Arimathia dreimal riefe und schrie: Du bekommst ein braunes Kreuz, du Verdammte! – mag sie es rufen und schreien ... Es war eine heilige Sache, und ich bin glücklich gewesen.«

»Um Gotteswillen ...!« rief die alte Baronin, denn draußen wurde leise gegen die Scheiben gefingert.

»Wer ist da ...?«

Ängstlich war Frau von Satzenhofen ans Fenster gegangen und hatte einen Flügel geöffnet. Ein kalter Wind schlug ihr entgegen. Sie sah in ein ernstes Gesicht; das war von einem Quäkerbart umrahmt und wurde grell von dem herausfallenden Licht der Lampe umschienen.

»Nein, so was ...!« sagte Bettje Theißen und war gleichfalls erschrocken näher getreten.

»Wer sind Sie?« fragte die Alte, noch ganz mit sich im unklaren über die neue Erscheinung.

»Leopold Derksen,« sagte eine ruhige Stimme; sie war aber, was das Ruhige anbetraf, gekünstelt, denn sie hatte einen fahrigen Anflug und eine große Sorge war in ihr.

»Und was soll's denn?« fragte die alte Baronin.

»Es ist jetzt ein Viertel auf sieben,« sagte Derksen mit seiner ruhigen und doch flatterigen Stimme, »und Schlag Klock acht kommt mein Freund Johannes Wesselink mit der Post wieder von Elten. Er kennt noch nicht seine große Predullig; seine inneren und äußeren Umstände sind höchst miserabel. Und drum habe ich mit 'nem Bandeisen am Kloster gestanden, um die Tür einzuremmsen, wenn's nötig sein sollte.«

»Jesus, mein Christus!« rief Bettje Theißen entsetzt und schlug die Hände zusammen.

»Ja – das hätt' ich gemacht, denn das ist so mein Pangschang, wenn's hart auf hart geht,« fiel der Alte jetzt mit grimmiger Betonung dazwischen und streckte eine Faust in die Stube. »So 'n Bandeisen und wache Augen jagen die schlimmsten Fisematenten zum Deuwel. Mir kann keiner betuppen; selbst nicht Pitt Hoffmann und Joseph von Arimathia, und für meinen Freund schlage ich fünfzehn Türen zusammen, wenn's not tut.«

Damit zog er die Faust wieder ein und schlug sie dreimal auf Brust und Schurzfell, daß es einen dumpfen und bedrohlichen Ton gab.

»Aber was haben wir dabei zu tun?« fragte Bettje Theißen ganz außer Fassung.

»Sie nichts,« sagte Derksen, indem er seine beiden Hände auf das Fensterbrett legte, »aber Sie, die ich für die Mutter der Tanzmamsell anspreche – denn die Tanzmamsell schickt mir.«

»Meine Tochter ...!«

»Ja,« sagte Derksen.

»Aber wieso denn ...?!«

»Weil ich am Kloster gestanden. Und da ist die Tanzmamsell gekommen und fragte, was ich hier mit dem Bandeisen täte. Da hab' ich ihr gesagt, warum ich hier stände, und daß das die Predullig meines Freundes und meine königlich preußischen Obergefreitenknöppe verlangten. Hierauf ist sie ins Kloster gegangen, und ich habe weiter auf Posto gestanden, wohl 'ne halbe Stunde und länger, und da ist sie wiedergekommen, und ihre Augen sahen aus, als wenn sie geweint hätten.«

»Mein Gott, mein Gott ...!« schluchzte Bettje.

»Das hat mir aber gerührt, und da hab' ich gefragt: Mamsell, kann ich Ihnen einen Gefallen erweisen? – Ja, das können Sie, sagte sie desgleichen dito. – Und da fragte ich wieder: Mamsell, was kann ich for Ihnen besorgen? – Da kuckte sie mir an und sagte ganz leise: Dann gehn Sie zu meiner Mutter und bestellen ihr, sie solle sich mit Bettje Theißen nach oben begeben. Alles müßte seine Heimlichkeit haben; es wäre möglich, daß sie jemand mitbringen würde. Und dann gehen Sie selber zur Post und bringen Ihren Freund ebenfalls in die Wohnung von Bettje, denn möglicherweise kann alles noch einen Dreh zum Besseren nehmen.«

»Göttlicher Vater ...!« jubelte Bettje.

»Das freute mir gleichfalls,« konstatierte der Alte, »und weil mir das freute, da mußte ich sagen: Mamsell, das ist ganz mein Pangschang, und wenn Sie 's verlangen, so will ich for Ihnen durchs Feuer marschieren. – Und wie ich das sagte, da wollte sie auch noch was sagen, konnte es aber nicht, nahm aber dafür meine Hand, und da fühlte ich, wie eine heiße Träne darauf fiel. Und das vergesse ich der Mamsell niemals im Leben, denn ihre Träne ist für meinen Freund und die arme Luise gewesen. Gleich darauf hat sie sich umgedreht und ist wieder ins Kloster gegangen. – Ich aber will hiermit meine Bestellung gemacht haben. Also gehen Sie mit Bettje stille nach oben, während ich desgleichen dito zur Post hin mache, damit ich meinen Freund auf alles präpariere. Es wird ein schweres Stück Arbeit, denn er ist aus gutem Stamm gewachsen und gesund an Leib und Seele wie 'n kerniges Eichenbrett. Aber wenn er's erfährt ... Auch dem kernigsten Eichenbrett wird das Herz auseinandergerissen, wenn ihm da von hinterwärts so'n infamer Keil plötzlich hineinkommt; indessen jedoch, man darf auch in der größten Predullig ... und das soll mir noch als Hoffnung verbleiben. – Kommt aber Luise nicht her, oder mischen sich noch im letzten Momang Pitt Hoffmann und Joseph von Arimathia dazwischen« – drohend streckte der untersetzte Mann wieder die geballte Faust in die Stube – »ich habe mein Bandeisen mang die Lindenbäume verstochen ...«

Darauf war er mit harten Schritten durch den Abend und das Gesause des Windes gegangen; die beiden aber, die in der Stube zurückblieben, hatten fast den Atem verloren, und Bettjes Gedanken waren wie in ein tiefes Wasser gefallen, kamen aber wieder aus der dunklen Tiefe ans Licht, und da sagte sie mit verklärten Augen und mit einer großen Liebe im Herzen: »Nun kommt doch für Luise die heilige Sache, denn sie ist nicht geschaffen dazu, immer den Rosenkranz zu beten und ihre heiße Seele totzuschlagen ... Sie ist geschaffen wie ich und will auch erleben, was ich damals erlebte, als die Johannisfeuer brannten, der junge Mensch sich über mich beugte und ein warmer Sommerabend über uns fortging.«

Und wie sie das sagte, da nahmen Bettjes Augen einen feierlichen, überirdischen Glanz an.

»Es ist gut,« sagte Frau von Satzenhofen, schloß das Fenster wieder und ließ noch im Schlaf- und Wohnzimmer die Gardinen herunter. »Jetzt wollen wir tun, was Leopold Derksen gesagt hat,« wendete sie sich wieder an Bettje Theißen. »Wir wollen hinauf gehn, aber die Lampe kann stehn bleiben.«

»Ja,« sagte Bettje, »die kann stehn bleiben ...«

Sie war wie träumend geworden, und ihre großen Augen sahen wie Kinderaugen ins Leere. Und sie schienen wieder die Feuer zu sehen, die auf den Deichen und in der Niederung brannten, wenn der Tag des heiligen Johannes gekommen.

»Nein – diese unselig-schönen Feuer ...!« flüsterte Bettje.

»Was meinen Sie?«

»Nichts,« sagte Bettje.

»Dann wollen wir gehn,« versetzte die Alte.

»Das wollen wir,« entgegnete Bettje, und da gingen die beiden nach oben. Und Bettje machte Licht, und dann setzten sie sich auf das sehr bescheidene Sofa. Die Alte wuscherte mit ihren hellen Augen in der Stube umher, die schlichte Kalkwände hatte und nur wenig Mobiliar aufweisen konnte. Aber eine große Miezekatze schnurrte hinter dem Ofen. Die hatte ein Fell, das wie ein Roggenfeld um die Junizeit aussah, wenn der Wind darauf stand und ein Leuchten darüber hinwegging. In einer Ecke hing ein hölzerner Jesus Christus, dessen Leichnam grell illuminiert war. Von den blutrünstigen Füßen baumelte ein kleines Päckchen an einem seidenen Faden herunter.

Frau von Satzenhofen richtete ihre Blicke darauf und fragte: »Fräulein Theißen, was ist das?«

»Eine Hand voll Heu vom Paternosterdeich,« entgegnete Bettje. Ihre Stimme war dabei weich und florig geworden.

»Wohl ein Andenken – eine liebe Erinnerung ...?«

»Ja,« sagte Bettje. »Kommenden Johanni werden's fünfzehn Jahre, daß es hier hängt. Meine Hand griff es auf, als seine heißen Augen über mir waren.«

»So ...!« sagte die Alte. Sie hatte Bettje Theißen verstanden.

Ihre Blicke liefen wieder unruhig umher, als wenn sie noch etwas entdecken müßten. Aber sie entdeckten nichts mehr in der armseligen Stube.

»Hm!« sagte die Alte; dann nahm sie ihre Schnupftabaksdose und gönnte sich ein heimliches Prischen. Ihre Lippen waren aufeinander gekniffen. Auch Bettje Theißen konnte vor Erwartung der kommenden Dinge keine Worte mehr finden.

So saßen die beiden, waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und hörten auf das Rauschen des alten Nußbaums und auf die Sprache des Windes, der durch die Fensterritzen allerhand Geschichten erzählte. Eigentümliche Stimmen liefen im Kamin auf und nieder, schwiegen für einige Augenblicke, um dann von neuem weiter zu plaudern. Kurz darauf begann auch der Wasserkessel, der auf dem Ofen stand, leise zu singen. Während dieses Singsangs waren fünfzehn Minuten verflossen. Da war es so, als wenn die Türe, die hofwärts gelegen war, angeklinkt würde und sich müde Schritte über den unteren Hausflur bewegten.

»Da sind sie ...!« sagte Bettje mit verhaltenem Atem, war dabei aber erregt aus ihrer Sofaecke gefahren.

»Wer?« fragte die Alte.

»Nun, ich denke: die Baronesse – Fräulein Luise ... und wenn Sie gestatten ...«

In größter Eile wollte sie sich schon nach unten begeben.

»Bleiben Sie,« sagte die Alte in aller Ruhe. »Fräulein Theißen, man muß Contenance behalten.«

»Das muß man,« erwiderte Bettje mit einem schweren Seufzer, schluckte ihre sehnsuchtsvolle Begierde herunter und nahm wieder Platz auf dem blumigen Sofa, dessen ausgeleierte Federspiralen piepsten und zwitscherten, als hätte eine behäbige Mäusemutter dort Wochenstube gehalten.

Tiefbewegt legte Bettje Theißen ihre Hände zusammen und hörte wieder auf das Sausen des Windes und auf verworrene Klänge, die in bestimmten Intervallen aus der Ferne herübertönten. Mit ängstlichem Horchen zählte sie die einzelnen Schläge. Jetzt war sie damit fertig geworden.

»Acht Uhr,« sagte Bettje und machte wiederum Miene, sich aus ihrer Sofaecke zu erheben. »Jetzt ist die Postkutsche fällig; Frau Baronin, soll ich nicht etwa ...«

»Bleiben Sie,« meinte Frau von Satzenhofen wie vorhin. »Fräulein Theißen, man muß Ruhe beobachten, man muß sie selbst in den schwierigsten Lebenslagen behalten. Denken Sie nur einmal an mich,« fügte sie nachdenklich hinzu, indem sie einen bestimmten Punkt der Zimmerdecke fixierte, wo die Lampe einen beweglichen Lichtkreis hingemalt hatte. »Ich, die ich nur von der Vergangenheit zehre und mich nur im Paradies gewesener Träume befinde – ich muß noch mehr wie Sie Contenance behalten. Denken Sie: früher diese superben Negligés, diese Parfüms, diese Toilettenwasser in einem altadeligen Hause ...! – Ach! – und die höfischen Knickse, diese zierlichen Menuetts zwischen Taxushecken und Lorbeerbäumen ...!« und dabei näselte sie mit kränklicher Stimme, indem sie den Kopf auf und nieder bewegte: »Als ich noch im Flügelkleide ...«

»Ach, meine sehr verehrte Baronin,« entgegnete Bettje, »das muß ja himmlisch gewesen sein!«

»Himmlisch und superbe zugleich,« sagte die Alte in schmerzlicher Anmut, »denn die von Satzenhofen verstanden es, Feste zu geben ... Feste sage ich Ihnen ...! – Nein, Fräulein Theißen, wenn da die Kristallüsters brannten, und auf der nobel gedeckten Tafel die langgestielten Narzissen wie arme Seelen in den venezianischen Gläsern erstarben ...! – Und diese Damastservietten ...! – Und diese Pendülen ...! – Und diese galonierten Livreen ...! – Nein, Fräulein Theißen ...! – Und was ist von all dem Glanz übrig geblieben?! – Was, Fräulein Theißen ...?«

Sie richtete ihre grauen Augen auf Bettje.

»'ne Sevresporzellantasse und ein alter Fauteuil – sonst nichts,«, sagte sie traurig.

Sie ließ den Kopf auf die Brust sinken und verschränkte die Hände, die auf ihrem Schoß geruht hatten, in stiller Entsagung.

»Und das haben Sie selber noch alles gekannt und durchlebt?« fragte Bettje mit sanfter Stimme und rührender Teilnahme.

Die Baronin schlug die Augen auf und sah sie mit feuchten Blicken an.

»Ich? – Nein!« sagte sie schließlich, »aber der Urgroßvater meines seligen Mannes ...«

»Ach, so ...!« meinte Bettje und gab ihren Gedanken wieder eine andere Richtung, denn abermals wurden die Stimmen des unheimlichen Novemberabends lebendig. Ein kurioses Flüstern und Raunen lief in der Ofenröhre auf und nieder. Dazwischen ließ sich ein leises Geräusch vernehmen, als ob Bälle über den Boden gerollt würden. Und die Miezekatze schnurrte und drehte seine Stimmfädchen durch ihre rosige Nase, und von draußen kam es her, als wenn da ein Dudelsackbläser stände, der die wunderlichste Musik in den Abend hinausbliese. Alles war wie verwunschen in der ganzen Umgebung. Der Wasserkessel fauchte und surrte, und der kupferne Deckel klappte dazu, als müsse er zu der ganzen Sache taktieren – und dann wieder ...

Bettje Theißen war seltsam erregt; sie hatte das unbestimmte Gefühl, als wenn sie jeden Augenblick aufspringen müßte.

Auf der Straße war ein Geräusch wie von eiligen und doch wie von schlurfenden Schritten, das allmählich stärker wurde und plötzlich verstummte.

Bettje unterschied deutlich, wie die Haustür sich öffnete und dann wieder zugemacht wurde.

»Ich halt's nicht mehr aus!« sagte sie in tiefer Beklemmung, erhob sich und durchmaß das Zimmer mit unruhigen Schritten.

»Behalten Sie Contenance,« sagte die Alte.

»Das will ich,« erwiderte Bettje.

Jetzt hörte sie nichts mehr; nur der Wind orgelte weiter.

Aber da wieder ...

Eine Tür wurde geschlagen, dem ein leises Wimmern folgte.

»Mein Gott!« sagte Bettje, hielt den Fuß an und preßte die verschränkten Hände gegen die Lippen.

Die alte Baronin hatte sich ebenfalls vom Sofa erhoben.

»Jetzt sind sie ins Zimmer getreten,« flüsterte Bettje.

Nach einiger Weile ließ sich da unten eine junge Stimme vernehmen; dann ein Schrei ...

Es war ein Aufschrei.

»Himmlischer Vater!« jammerte Bettje, stürzte zum Zimmer hinaus und von da auf die Treppe.

Die Tanzmamsell stand unten im Hausflur und fuhr sich mit der Hand über die Augen, während sie mit der Rechten den Griff der Stubentür umfaßt hielt. Gleichzeitig war Leopold Derksen gesenkten Kopfes nach draußen gegangen.

»Bleiben Sie oben,« sagte die Tanzmamsell und legte dabei den Zeigefinger der linken Hand gegen die Lippen.

Da drehte sich Bettje schweigend herum und ging mit ihrem armen, erstaunten Gesicht wieder ins Zimmer.

Und da drinnen – in der Stube, vor deren Tür die Tanzmamsell mit verweinten Augen stand und in ihrer tiefen Not und Erwartung vermeinte, ihr Herz müsse zerspringen: da waren die beiden .. Und der Schrei von so eben ...

Luise hatte ihn ausgestoßen; dann war sie rücklings getaumelt und hatte sich an einer Kante des Tisches gehalten.

Johannes stand vor ihr. Er hielt den Blick starr auf sie gerichtet. Eine große Veränderung prägte sich seinem Gesicht auf. Die gefalteten Hände, der Schmerz, der seine Züge entstellte, erzählten, was in ihm vorging. Sein Antlitz war bleich wie der Tod; es schien so, als wenn auf seinen Lippen ein Blutstropfen stände.

Eine quälende Minute verging.

Endlich ließ er den starren Blick von ihr ab und wandte seine Augen ins Licht, als ob er aus einem schweren Traume erwache; dann fragte er mit heiserer Stimme: »Also – du bist bei denen im Kloster gewesen?«

»Ja – ich bin bei denen gewesen.«

»Und du bist aus freien Stücken gegangen?«

Sie antwortete nicht.

»Willst du nicht sprechen?« fragte er mit zuckendem Munde, indem er die Augen wieder zu ihr emporhob.

Da griff sie mit beiden Händen um seinen Hals. »Ja, ich will,« sagte sie hastig, gab ihn aber wieder frei und verfiel in ihr voriges Schweigen.

»Und du bist aus freien Stücken gegangen?« wiederholte er nochmals.

Ein leises Zittern überflog ihren Körper.

»Ja – und nein,« sagte sie endlich und mit trockenem Schluchzen. »Ich bin nun einmal so,« stieß sie krampfhaft hervor, »ich kann nicht dafür – ich hab's dir schon früher gesagt ... Ich betäubte, belog mich ... und da ist der Mensch mit den heiligen Worten zu mir gekommen ... und aus den Worten sind böse Gedanken gewachsen ... und aus den Gedanken ...«

Sie sprach nicht weiter. Langsam wich sie zurück.

»Du,« sagte er unstet und zögernd, als blieben ihm die Worte auf den Lippen kleben, »so muß ich wohl annehmen, daß du es wegen des andern Menschen getan hast.«

Mit verstörten Augen war er näher getreten.

»Tue mir nichts!« rief sie mit verhaltenem Aufschrei.

»Ich?« fragte er heftig. »Nein – ich tue dir nichts.«

Er schüttelte leicht mit dem Kopf. Alles, was von Aufregung in ihm gewesen, schien erdrückt und war einer dumpfen Ruhe gewichen – eine Ruhe, die an die lähmende Stille des Kirchhofes erinnerte.

»Schon öfters habe ich in dieser tiefen Not gesteckt,« sagte er schartig. »Damals zwischen den Wiesen ... Deine Augen aber machten mich wieder zufrieden. Dann, als ich nach Elten mußte ... Dein Kuß nahm mir die grimmige Not aus dem Herzen. Jetzt aber ist sie zum dritten Male gekommen und ist mir bis zur Kehle gestiegen.«

Erneut griff der Sturm in seine gemarterte Seele. Die Zeit der Selbstbeherrschung war nur wie eine fliegende Sekunde gewesen; er hatte das Gefühl, als wäre in seinem Innern etwas zerrissen.

»Ich halt's nicht mehr aus! – Es will mich erwürgen ...!«

»Johannes ...!« rief sie entsetzt und beugte sich rücklings.

»Also – der Mann mit den heiligen Worten ...?!«

»Ja.«

»Und der andere ...?«

»Ja – ich war in Versuchung.«

»Und jetzt ...?«

»Sie ist vorüber. Bitteres Weh ist barmherzig gewesen und gab mir Erkenntnis, und wie ich erkannte, da ist auch die Sünde von mir gewichen.«

Heiße Tränen waren ihr in die Augen geschossen, und da sah er, wie die Verzweiflung sie packte.

»Das kommt wieder,« sagte er mit schmerzlichem Anflug. »Das ist gerade so wie bei Hochwasserzeiten. Die kommen alljährlich und gehen alljährlich und finden kein Ende. Und wenn man da einen Deich vorlegen wollte – die Wasser machen schon rechtschaffene Arbeit. Sie gehen ihren vorgezeichneten Weg. Und wenn sie auch anders wollten – sie können nicht anders. Sie müssen besorgen, was eine dringliche Macht ihnen vorschreibt. So ist das von jeher gewesen. Und wie das mit den Hochwasserzeiten ist, so ist das auch mit dem, was du in der Brust hast, beschaffen. Das kommt immer wieder, Luise.«

»Nein – das kommt nicht wieder!«

Sie war hart an seine Seite getreten; er fühlte ihren Atem und sah das Leid, das ihr ankam.

»Es ist besser so,« sagte er leise, »besser, daß es sich jetzt entschieden hat, als wenn es noch lange gewährt hätte; denn es mußte mal kommen. Ich sah den Tag voraus, wo mein Glück in Scherben ging. Aber daß er so früh kam ... Es tut zwar weh, wenn ich glauben muß, daß es gut für uns beide ist, daß er so früh kam.«

Mit einem erstickten Aufschrei war sie bei ihm und hatte seinen Mund mit ihren Lippen geschlossen.

»Sprich nicht weiter,« schluchzte sie mit verzehrender Inbrunst.

Mit sanfter Gewalt machte er sich los aus ihrer starren Umarmung.

Da wich sie zurück, aber ihr Gesicht war wie das einer Toten geworden.

»Du sollst nicht mehr sprechen,« keuchte sie tonlos.

»Meine Sache ausreden muß ich.«

»Und da willst du ...?«

»Ja,« sagte er mit einer unendlichen Ruhe. »Ich will gehn. Es ist schon das Beste; ich will gehn und mir ein anderes Stückchen Erde gewinnen. Ich finde sie zwar nirgends wieder – die niederrheinische Erde, das Land meiner Kindheit. Aber was soll ich noch länger? Die Trümmer meines Glückes zusammenlesen, sie wieder mühsam vereinen ... ? – Und wenn ich es täte – es sind immer nur Scherben. Und selbst, wenn ich die Kraft besäße, manches, was nun einmal geschehen ist, ungeschehen zu machen, wenn wir beide noch so wären wie früher – ich kann mir nicht helfen: über dir und mir liegt etwas, das nicht fort will und da bleiben wird, bis es zu spät ist. Es liegt auf den Feldern, auf den bedrückten Menschen; es will in deine Seele hinein. Es ist der Blick eines jungen Raubvogels mit unbeweglichen Augen. Nein, es ist schon besser, Luise ... Das sind so meine schweren Gedanken. Ich kann sie nicht von mir nehmen und anderswo hintun. – Ich muß schon fort; wir müssen uns eben vergessen – und ich muß zusehen, wie ich es über mich bringe, vergessen zu können.«

»Und das wegen des Mannes mit den heiligen Worten?«

Ein schmerzliches Zucken ging über ihr Gesicht, als sie das sagte.

»Ja.«

»Und weil ich daran war, durch meine Gedanken in Sünde zu kommen?«

«Ja.«

»Und deshalb willst du jetzt von mir, Johannes?!«

»Ja,« sagte er ruhig.

Da ging es über sie hin wie ein Sturmwind. Sie glaubte, den Ruf geborstener Glocken zu hören. Mit wilder Leidenschaft war sie näher getreten.

»Und wenn du das tust,« rief sie mit gellendem Aufschrei, »dann tue auch dieses ...!«

Mit beiden Händen hatte sie in den Ausschnitt ihres Kleides gegriffen und zerriß es, daß die rosige Nacktheit ihrer jungen Brust hervordrang.

»Du – dann habe aber auch den Mut, vorher dein Messer da hinein zu stoßen. – Johannes! – Geliebter...!«

Mit trunkenen Augen und heißen Lippen hatte sie ihre Arme um seinen Nacken geworfen.

»Lach doch, Johannes! – Lach doch, Johannes ...!« und sie lachte selber, aber es war ein entsetzliches Lachen, das allmählich erstarb, um dann zu einem bitteren Schluchzen zu werden.

Und da fühlte sie, wie er sie an sich zog, immer fester und fester ... wie er den Kopf niederbeugte und mit seinem Mund ihren Scheitel berührte.

Und niemand sah es – und die Tanzmamsell saß einsam im Flur auf der Treppe und hatte ihr Köpfchen mit den verweinten Augen in die Hände gelegt und hielt Wache da draußen, daß keiner den Frieden störe, der sich angeschickt hatte, seine Hand allversöhnend auf zwei verwundete Herzen zu legen, die willens gewesen, sich für immer zu trennen. Und die Tanzmamsell fühlte, daß sich alles zum Guten gewendet, und wie sie das fühlte, da waren ihr so fremde und schwere Gedanken gekommen, und diese Gedanken bohrten sich in ihre Seele hinein und zeigten ihr den jungen Zimmermeister, wie sie ihn öfters gesehn hatte, wenn er in all seiner Kraft, mit sinnigen Augen und ernster Stirn zwischen seinen Gesellen hantierte. Sie konnte nicht von ihm lassen, und da glaubte sie, daß sich ein böses Ding in ihre Seele hineinfressen wollte ...

»Du hattest ein Glück in Händen – und hast es von dir gegeben ...«

Sie trieb ein frevelhaftes Spiel mit ihren Gedanken.

»Ja – du hast es von dir gegeben und hast doch selber so ein großes Dürsten nach Liebe ... Aber das ist ja alles erbärmlich – erbärmlich!«

Mit toten Blicken sah sie zur Linken. Da in ihrem Zimmer war das Glück, das sie für die andere geopfert hatte.

»Es ist gut so,« sagte sie schmerzlich, erhob sich von den Treppenstufen und ging lautlos nach oben. –

Der Abend ging in die Nacht hinein, die Nacht in den Morgen – und als es hellichter Tag geworden, schilpten die Spatzen von den Dächern herunter, was inzwischen alles passiert war. Und Joseph von Arimathia gedachte in der Frühmesse des verlorenen Schafes.

»Ich war ein guter Hirt und versuchte meine Schafe zu hüten. Allein die Schafe sind aus der Hürde gebrochen, irrten ins Weite und sind zwischen die Dornen geraten, um dort zu verderben.«

Und die Betschwestern, die der Frühmesse beiwohnten, steckten die Köpfe zusammen, und da sagte die eine: »Sie wollte doch ein Nönnecke werden.«

Und da sagte die zweite: »Ja, das wollte sie, aber er hat sie 'rausgeholt mit seinen Zimmermannshänden.«

»Wie's der fette Doktor Martin Luther gemacht hat,« konstatierte die dritte.

»Aber dafür hat ihn der leibhaftige Deuwel mit dem Hals an seine Bettstellage gebunden,« sagte die erste.

»Kann ihm auch noch passieren,« ergänzte die zweite.

»Amen,« sagte die dritte. –

Als Johannes Wesselink jedoch in aller Herrgottsfrühe auf die Straße hinaustrat, begegnete er nur schadenfrohen Gesichtern. Die Kinder lachten, und die großen Menschen zogen höhnisch die Mützen. Sie zeigten mit Fingern auf ihn. Und als er sich wandte, da stand auf seiner Haustür mit Kreide und ungelenken Buchstaben geschrieben: »Pfui, Nonnenhannes!«

Mit bitterem Lächeln las er die Inschrift. Er dachte nicht an sich und die schwere Beschimpfung. Er mußte an etwas anderes denken.

»Arme Heimat!« sagte er traurig.


 << zurück weiter >>