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XIII Der Schlußball

»Wo ist Julius?« fragte Frau Hoffmann, als sie ihre Eigenschaften als Staatsanwalt und Garderobiere abgelegt hatte und wieder ihren Hausflur und hierauf das rechtsgelegene Zimmer betrat. »Pitt, wo ist Julius?«

»Mama, der war soeben noch hier.«

»Und nu?«

»Fort.«

»Wo ihm das verboten wurde?! – Jesus, mein Heiland! – und er ist doch sonst so ein selbstverleugnerisches und edles Faktotum gewesen.«

»Mama – die Umstände!« sagte Pitt Hoffmann.

»Und da kann mein Einziger mir die Schande erweisen, genau so 'ne Schande, wie der Herr Rektor der Frau Pergamentpräsidentin ...?!«

»Je, Mama,« sagte Pitt und machte dazu eine pompöse Handbewegung, »man muß mit die Verhältnisse rechnen.«

»Ach, was!« erregte sich Frau Hoffmann, »die Jugend besitzt keine Estimierung mehr gegen die älteren Leute. Das habe ich schon heute morren gesagt – und du hättest doch auch aufpassen können. Du hast Zeit dazu, denn nu werden doch keine Toten begraben.«

»Mama, kommst du mir mit meinem eigenen Elend! – Kann ich dafür, daß jetzt selbst die schwächlichsten Kerle so alt und noch älter wie der selige Methusalem werden?! – Mama, das hätte ich von dir nicht erwartet ...! – Diese Demütigung ...«

Ergeben legte er die schlenkrigen Finger zusammen.

Frau Hoffmann versuchte einzulenken.

»Aber Pitt, du hättest doch aufpassen können!«

»Hätt' ich, Mama – aber wie ich schon sagte: man muß mit die Umstände rechnen. – Sitzt da mein Julius ganz andächtig am Fenster und kuckt in das Dustere hinein. – Gut, denke ich, kuck du man weiter. – Da geht die erste Vigeline so im Schummern vorüber. – Mein Julius sieht mich an, wie unser Ami mich ansieht, wenn ich 'ner leckeren Mettwurst mit Sauerkraut die Ehre erweise. – Gut, denke ich, kuck du man weiter. – Und er kuckte auch weiter, obschonst es immer dusterer wurde. – Und wie er so kuckte, da geht 'ne Klarinette und die Pistontrompete vorüber ...«

»Na – und da?« fragte Frau Hoffmann.

»Na – und da vigiliert mein Julius so um die Ecke nach seiner Quartanermütze, wahrscheinlich um zu sehen, ob sie noch immer dieselben Kulören besäße – blieb aber sitzen und kuckte so weiter.«

»Na – und da?« fragte Frau Hoffmann, trat etwas näher und begann unruhig mit ihren Fingern zu trillern. »Ging der kleine Judenbengel mit die krölligen Haare vorüber, blieb aber stehn und mauschelte durch die Scheiben: Tag, Julius – nu geh' ich ßu's Tanzen. – Denke dir, Mama, so'n infamiger Hohnepiepelgeselle ...! – Das mußte unsern Jungen ja ärgern, und ich als Vater mußte mich auch drüber ärgern. Und daher und deshalb: ich vorne 'raus – und Julius hinten 'raus. – Mein krölliger Haas aber ist fixer. Wie'n Karnickel nimmt er die krummen Beine zusammen. Schafsleder ist ein Waisenknabe dagegen. Ich also zurück – und wie ich hier den Nagel besehe ...«

»Na – und ...?«

»Ist Julius seine Mütze futü.«

»Und Julius?«

»Auch futü.«

»Und ist nicht wiedergekommen?«

»Nicht wiedergekommen,« sagte Pitt Hoffmann und machte dazu ein Trauergesicht, als müsse er fünf Tote auf einmal begraben.

»Da muß was geschehen, wie sich meine Freundin Therese ausdrückt,« sagte Frau Hoffmann und wußte in ihrem grenzenlosen Elend nicht, wo sie sich hinsetzen sollte.

»Es steht der moralische Teil unseres Kindes auf dem Spiele,« meinte sie schluchzend.

»Richtig, Mama.«

»Und da mußt du auf Beobachtungsposten an die Turnhalle gehen, wie sich das gehört, und wie ich das für richtig taxiere.«

»Mama, ich kann nicht. Gleich kommt Grades Gertzen zum ›Schafskopp‹.«

»Dann muß ich selber ... aber ich will warten, bis die Frau Pergamentpräsidentin vorbeikommt, damit wir gleichzeitig unsere moralischen Teile erretten.«

»Tu das,« sagte Pitt Hoffmann, legte Fidibusse und Karten zurecht, um nachher ein Partiechen ›Schafskopf‹ mit Grades Gertzen zu spielen. –

Und die bedrängte Frau Hoffmann wartete ... und am Eingang der Turnhalle leuchteten buntfarbige Papierballons, die Bettje Theißen sinnig ausgesteckt hatte. Ferner war dort eine transparente Scheibe errichtet, hinter welcher eine Petroleumlampe brannte, die ein komisches Wort in schönen, roten Buchstaben zum Vorschein brachte, mit dem aber die meisten Festgäste nichts anfangen konnten. Viele buchstabierten verzweifelt dran herum, radebrechten von ›Teer‹ und ›Zichorie‹, schüttelten die Köpfe und begaben sich dann ins Ballokal, um sich von Bettje Theißen belehren zu lassen. Und Bettje erklärte dann, daß eigentlich Fränkel Haas in seiner Begeisterung auf den Gedanken gekommen sei, daß das Wort gar nichts mit ›Teer‹ und ›Zichorie‹ zu tun habe, vielmehr ›Terpsichore‹ heiße...

»Das war die Muse ßu's Tanzen,« fiel der kleine Fränkel, der noch immer eine geschwollene Backe hatte, erläuternd dazwischen, »un das is for die Fetierung von Fräulein Pauline gemacht, denn sie is auch 'ne Muse ßu's Tanzen ...« und dabei gab er seinem Gesicht ein so gelehrtes Aussehen und stellte seine verzwickten Beine so närrisch zur Seite, als wäre er wie Moses zum Berge Sinai gegangen, hätte die Gesetzestafel vom lieben Herrgott noch einmal revidieren lassen und wäre alsdann mit dem Bescheid zurückgekommen, das vierte Gebot hieße von nun an: Du sollst Vater und Mutter und die Tanzmamsell ehren, auf daß es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden.

Der Herr Gendarm Karl Friedrich Franz August Butterweck, der in diesem Augenblick, und zwar in kompletter Montur, mit seiner Gratis-Tochter anrückte, legte ihm wohlwollend die waschlederne Hand auf die Schulter und sagte: »Es ist doch 'ne große Sache um die Gelehrtschaft! – Man weiter so, Fränkel, und wenn du mal größer wirst und hast den Leuten das Geld mit's Kaufmännische abgenommen und spendierst 'ne Portion davon auf den Altar des Vaterlandes, wirst du nobilitiert und kannst dann wie die übrigen echten Barone Champagner verzehren. Leider,« setzte er bedauernd hinzu, »hat meine selige Mutter mich hierzu nicht in die Welt geboren, sonst wäre ich schon längst Polizeipräsident, denn man muß Geld haben oder ›von‹ sein, um weiter zu kommen.«

Und Fränkel dienerte ein über das andere Mal – und der Herr Gendarm Karl Friedrich Franz August Butterweck steuerte mit seiner Gratis-Tochter auf den Honoratiorentisch los, placierte sich dort neben Doktor Horré, Herrn Piepmann nebst Frau Gemahlin und Tochter und bestellte 'ne Flasche Piesporter, worüber Fräulein Butterweck so außer sich wurde, daß sie bis zu den Ohrläppchen herab über und über errötete und sich standhaft weigerte, ein Tröpfchen zu sich zu nehmen, weil sie des festen Glaubens war, ihr Herr Vater habe einen schlechten Witz machen wollen. Auch die übrigen Honoratioren erschienen mit ihren Söhnen und Töchtern: der Herr Notar, der Herr Apotheker und die anderen alle – und dann kam auch noch Jans Prußt mit seiner Frau Gemahlin, die ein ganz auserwähltes Stück von einem Frauenzimmer vorstellte und dieserhalb für würdig befunden wurde, mit Jans bei den nobelen Familien sitzen zu dürfen, ein Vorschlag, der von dem pfiffigen Doktor Horré ausging, und zwar aus dreierlei Gründen. Erstens, um sie wegen ihrer etwas vorzeitigen Kindbetterei wieder honorig zu machen und zu rehabilitieren, denn er war ein ausgesprochener Philanthrop. Zweitens, um Joseph von Arimathia einen Tort zu erweisen, und drittens – und das war das Bedenkliche bei seinen menschenfreundlichen Anwandlungen – um in der Nähe von Anna zu sitzen und ihre Formen besser studieren zu können, denn er war neben seiner Philanthropie auch Kunstenthusiast, und Anna Prußt, geborene Derksen, hatte Anwartschaft darauf, es mit dem gesuchtesten Modell aufnehmen zu können, ein Umstand, den der joviale Doktor auch weidlich ausnutzte, um sich weiter zu bilden.

Er klingte auch sofort mit dem aparten Modell an und wußte ihm alles Schöne über seine neue Bluse zu sagen.

Anna dankte denn auch sehr gerührt, gab sich gleichfalls die Ehre, indem sie ihm zuplinkte und dann ein Paar Augen machte, wie sie Bettje Theißen nicht schöner gemacht haben mochte, als sie vor Jahr und Tag mit dem jungen Lehrer über die eingedunkelten Wiesen dahinging.

Die Musikanten begannen schon damit, ihre Instrumente zu stimmen. Es war ein Klimpern und Tuten – sozusagen ein unmusikalisches Gestottere, dem aber das Geheimnis der Vorfreude und die Fähigkeit innewohnte, alle Zehenspitzen unter den Tischen in ein gelindes Tanzen zu bringen.

Es konnte bald losgehen.

Aber es ging noch nicht los, weil man noch die Ankunft einer Haupttänzerin abwarten wollte.

Adele Knipp fehlte noch immer, und ohne Adele ...

Viele Augen waren auf den Eingang gerichtet.

Inmitten des Ballsaales stand die Tanzmamsell.

»Wie 'ne Nippfigur aus Meißener Porzellan!« sagte Herr Piepmann, indem er die rechte Hand wie ein Perspektiv vors Auge schob, um das allerliebste Wesen besser betrachten zu können.

Herr Piepmann hatte schon recht – denn wie sie so unter dem Kronleuchter stand, so fein und durchsichtig, in der altmodischen Krinoline und dem plissierten Seidenkleid, aus dem die nackten Schultern so zart wie Porzellanmasse hervorsahen, da wurde man unwillkürlich an ein Meißener Figürchen erinnert, das eine liebevolle Hand aus der Glasservante genommen und fein säuberlich und mit spitzen Fingern für alle Welt hingestellt hatte. Dazu die honigfarbenen Löckchen, die gepluderten Ärmel und die Augen, die so träumerisch in die Welt hineinsahen, als müßten sie weit hinter den Bergen die Wünschelrute finden, die sie notwendig hatte, um eine süße Hoffnung in Erfüllung zu bringen. Es waren Kinderaugen mit einer rührenden Einfalt und einer unendlichen Sehnsucht.

»Rein zum Anbeißen,« sagte der Postmeister, aber so leise, daß es seine Frau nicht verstehn konnte, pfiff aber dafür elegisch hinter seiner Weinbouteille:

»Reich' mir die Hand, mein Leben,
Komm auf mein Schloß mit mir ...«

Und die allerliebste Tanzmamsell stand da noch immer, als suche sie eine Seele, eine durstige, empfindsame Seele, die der ihrigen gliche. Sie stand da, als könnte sie sich nicht mehr von der Stelle bewegen.

Ein sonderbares, geheimnisvolles Empfinden beherrschte ihr Denken. Sie fühlte sich wie unter dem Einfluß einer zwingenden Gewalt, der sie nicht mehr zu entrinnen vermochte. Und Anfechtungen waren in ihr und Selbstanklagen. Sie wähnte, Schutz suchen zu müssen vor einer anderen, die wie ein Schatten daher kam und sie ansah mit unsäglich traurigen Blicken. Sie schüttelte leise, ratlos den Kopf. »Ach, wenn ich das alles verwischen könnte, verwinden könnte!« sagte sie tonlos. Und sie kannte ihn doch nur von Ansehn her; aber in diesem stetigen Ansehn reifte die Liebe, und aus der Liebe rang sich ein bleiches Gesicht mit glanzlosen Augen. Und das bleiche Gesicht ... war das nicht die Sünde?! – Sprach nicht die Sünde zu ihr mit geheimnisvollen Worten; zeigte sie ihr nicht das eigene Glück, das sie gewinnen würde, wenn sie den Mut haben sollte, über das Unglück einer anderen hinweg zu schreiten, um das Verlangen ihrer durstigen Seele zu stillen?! – »Du mußt fort und vergessen,« sagte sie in schweren Gedanken. »Die Zeit wird schon lindern, denn alles auf dieser Erde hat sein Kommen und Gehen, sein Blühen und Welken, sein Tönen und sein leises Verklingen. Aber ich fürchte, daß bei diesem Verklingen ...« Heiße Tränen waren in ihre Augen getreten. Sie bemerkte nicht mehr die festlich geputzten Menschen und die feiertägig gekleideten Mädchen und all das Licht, das um sie her flutete. Mit verwirrten und wehen Blicken sah sie ins Leere. Ihr Haar aber leuchtete, als wäre ein lichter Goldglanz darüber gefallen. »Du mußt fort und vergessen ...«

Aller Augen waren noch immer auf den Eingang gerichtet. Die Klarinette wurde schon ungeduldig. Ab und zu stieß sie einen hopsenden Ton aus. Der Herr Gendarm hatte bereits seine zweite Bouteille in Anstich genommen – da ...

»Endlich!« sagte Herr Piepmann, als Adele Knipp wirklich mit ihrer lieben Mutter erschien und drei äußerst vornehme Knickse zu wege brachte. Einen für die Tanzmamsell, 'nen zweiten für die alte Baronin und 'nen dritten für die Gesamtheit.

Sie tat es nach Vorschrift, und Fränkel Haas bot ihr nobel den Arm, räucherte sie noch mit seinem feinen Odeur nach Rindspomade und Gewürznägelchen ein und führte sie alsdann galant bis in die Mitte des Saales. Da erwachte die Tanzmamsell aus ihren Träumereien und warf ihrer Mutter einen Blick zu – und die alte Baronin, die in stocksteifer Seide und mit einem sehr schönen Pompadour am Arm neben Bettje Theißen und den Musikanten auf dem Podium saß, erhob sich und krähte dann mit ihrer blechernen Stimme in das animierte Publikum hinein: »Meine Herrschaften! – Meine sehr verehrten Damen und Herren zu Stadt und zu Lande! – Nur um Ihnen zu beweisen, was meine Tochter in der höheren Tanzkunst zu leisten vermag, nur um Ihnen darzutun, wie sich aus Ihren Herren Söhnen und Fräulein Töchtern, also aus Landpomeranzen, wirklich städtische Apfelsinen mit 'nem gesellschaftlichen Schwung und exquisiten Manieren zu entwickeln vermögen, nur aus diesem Grunde, meine Herrschaften, haben wir Satzenhofens die heutige Fete veranstaltet. Möge die Güte und das Wohlbenehmen des Allerhöchsten darüber walten. Und darum, meine Herrschaften ...«

»Brav so!« rief der Herr Gendarm dazwischen, denn er wollte doch wegen seiner Gratis-Tochter ein übriges tun und die alte, vornehme Dame ein bißchen aufmuntern.

»Pst! – Pst!« riefen die anderen.

»Und drum, meine Herrschaften,« kam die alte Baronin zum Schluß, »eröffne ich hier in der feierlichsten Weise den Schlußball und rufe Ihnen zu: Gefällt er Ihnen, haben wir geleistet, was wir versprachen, sind Sie zufrieden mit den Pas meiner altadeligen Tochter – dann auf ein frohes Wiedersehen im nächsten Jahre! Bitte, nehmen Sie Aktus davon – und nun, meine Herren,« und sie wandte sich an Bettje Theißen und die vier Musikanten, »ich bitte Tusch, mein Herren! – Der Ball ist eröffnet.«

Und der Tusch ging durch den Saal, und begeisterte »Hochs!« und »Vivats!« waren dazwischen, und aus dem Tusch entwickelte sich ganz allmählich eine feurige Polka Masurka, und alsbald drehten sich Toni Küppers, Klara Horré, Fränkel Haas und Fräulein Piepmann und die anderen alle im Kreise herum, daß es man so eine Art hatte; und dann kam der Rheinländer dran und dann eine verschnörkelte Quadrille, die so glänzend ausfiel, daß der Herr Gendarm und Severin Piepmann sich zu der kühnen Behauptung verstiegen, ähnliches in ihrem ganzen Leben niemals gesehen zu haben. Vornehmlich Herr Butterweck mußte es wissen, denn er war seinerzeit als Gardefüsilier stets Vortänzer an Königs Geburtstag gewesen – und zwar mit der Köchin seines Kompagniechefs, und das besagte doch alles.

Die alte Baronin saß da und feierte in ihrem stocksteifen Kleid die höchsten Triumphe, und Bettje Theißen konnte nicht anders: sie zog ihr Taschentuch heraus und weinte heiße Tränen hinein, denn sie dachte an ihre eigene Jugend.

Während all dieser Zeit hatten sich ein finnenblütiges Gesicht und eine Quartanermütze hinter das Fenster, wo die Musikanten saßen, gedrängelt – und über das finnenblütige Gesicht und die Quartanermütze konnte Julius Hoffmann verfügen, denn er war es und sah in die erleuchtete Turnhalle wie in ein glitzerndes Paradies hinein, vor dem seine Mutter wie ein Racheengel mit flammendem Schwert stand, um ihm unbegreiflicherweise den Eingang zu wehren. Er warf ordentlich einen Haß auf seine leibliche Mutter, von der er nicht begriff, wie sie gegen ihr eigenes Kind so zu wüten vermochte. Sie leistete seinem Nebenbuhler ja bei vollem Bewußtsein einen nichtswürdigen Vorschub, wo er doch selbst reelle Absichten hatte und gewillt war, die herzensgute und schöne Pauline sobald wie möglich als vornehme Schwiegertochter seinen lieben Eltern zu präsentieren. Sie waren gegen ihn, das wußte er jetzt, sie waren nicht gebildet genug, um dieses hohe Glück, das er ihnen doch zuführen wollte, ermessen zu können – und das war ein Unglück, ein nicht wieder gutzumachendes Unglück. »Aber mein muß sie werden!« unterbrach er seine schmerzensreichen Betrachtungen, »selbst wenn ich mit Vater und Mutter auseinander käme und hundert Stunden hinter Amerika auswandern müßte. Pauline für immer und ewig ...!«

Er wühlte sich ordentlich wie ein Bohrwurm in seinen eigenen Schmerz hinein, er hatte ein grausames Entzücken daran, sich an seinen eigenen Seelenqualen zu ergötzen – aber er tat es ja gerne, denn was eine richtige, ausgetragene Liebe ist, muß Hindernisse finden, die muß bittersüß sein, die muß Ähnlichkeit mit einem Butterbrot haben, das auf einer Seite mit Schmierseife und auf der anderen mit Honig belegt ist. Na, und dieses Butterbrot mangierte er denn auch, seiner Pauline zuliebe, tapfer herunter und war glücklich in dem Bewußtsein, ihr auf diese Weise seine reellen Absichten dartun und beweisen zu können. Bei diesem pläsierlichen Geschäft wurden seine Augen wie Nußknackeraugen, die auch die geringste Bewegung der Tanzmamsell auffingen, um den größtmöglichen Profit von den Reizen des jugendlichen Frauenzimmers zu haben. Und er konnte nicht irren: zweimal hatte sie schon herübergeäugelt. Sie wußte ihn also zu finden, sie dachte an ihn und vergalt seine Liebe mit Gegenliebe – eine Erkenntnis, die den armen Schlucker hinter den Fensterscheiben in der angenehmsten Weise bis in die Zehenspitzen hineinfuhr.

Julius war glücklich.

Ach, wie das flirrte und blitzte da drinnen! – Und das feine Benehmen! – Weiter, immer nur weiter! – Die Quadrille wurde zu Ende getanzt, und dann kam ein flotter Walzer an die Reihe, und als auch dieser alle geworden, verkündete die Alte eine viertelstündige Pause, stand aber da, als wollte sie sagen: »Nun, meine Herren und Damen, wie gefällt Ihnen die Sache?«

»Ausgezeichnet!« rief denn auch der Herr Gendarm Karl Friedrich Franz August Butterweck, streifte sich die Waschledernen über und gestand der alten Baronin, wie ihm ums Herz war. »Einfach großartig!« – und die übrigen folgten seinem Beispiel, und jedesmal, wenn einer erschien, drückte Bettje Theißen ihr Taschentuch gegen die Lippen, um nicht vor innerer Erregung lauthals weinen zu müssen.

Ja – es war ein gelungener Abend! – Allein das Beste sollte noch kommen, denn nachdem die viertelstündige Pause vorbei war, erhob sich die Alte, wedelte dreimal mit dem Taschentuch und gab folgende Erklärung zum Besten: »Avis, meine Herrschaften! – Außerprogrammäßig! – aber um ihre höchste Kunst zu beweisen, fühlt sich meine Tochter veranlaßt, ein Menuett zu interpolieren, getanzt von ihr selber und den Damen Piepmann und Butterweck. Als Herren werden sich hierbei Fränkel Haas und die Söhne des Herrn Notars präsentieren. Die Herren von der Musik bitte ich, pausieren zu wollen. Fräulein Theißen und ich werden uns selber bedienen. Ich mit's Pfeifen und Fräulein Theißen mit dem Triangel.«

Herr Butterweck ließ bei diesen Worten etliche Klatschsalven los, die es in sich hatten und mit Böllerschüssen zu konkurrieren vermochten.

»Famos!« rief Herr Piepmann.

»'ne gute Idee!« lachte der Doktor und war gerade dabei, sich ein wenig näher an die schöne Anna zu drängeln, als sich auch schon die aufgerufenen Paare rangiert hatten, die alte Baronin den Mund spitzte und lospfiff.

»Als ich noch im Flügelklei–i–ei–i–de ...«

ging das in getragenen Modulationen durch den Saal, und Bettje Theißen schlug mit verhimmelten Augen das Triangel dazu, und sie waren noch nicht bis zur Stelle:

»O, wie hüpft ich da vor Freu–i–eu–i–de ...«

gekommen, als auch schon Herr Severin Piepmann nicht mehr zu halten war, auf das Podium losstürmte, sich den beiden gesellte und von hier aus in kunstmäßiger Vollkommenheit die zweite Stimme mitpfiff. Das zündete.

»Hurra, Herr Piepmann!« ging das durch den Saal.

»Die alte Baronin soll leben!«

»Und die Tanzmamsell!«

»Und Fräulein Theißen daneben!«

»Hurra und abermals Hurra!« – und Fränkel tanzte mit einem Gefühl, das alles hinter sich ließ: die Welt und den Petroleumleuchter und seine pomadisierten, krölligen Haare, denn er tanzte nur für sie, für sie ... und sein Gesicht sah dabei aus, als hätten sich auf seiner linken Backe die mageren und auf seiner rechten die fetten Jahre verewigt ... und Fräulein Piepmann war eine verkörperte Seele ...

Ach, und die Tanzmamsell ...!

Hundert Stimmen begrüßten sie, hundert Blicke folgten ihr, wie sie zieren Schrittes ihr Kleid raffte, die Lastingschühchen sich zeigten, und das Ebenmaß ihrer sanft gerundeten Knöchel ...

»Das ist ja himmlisch!« meinte der Doktor, »das ist ja entzückend ...!«

Und Julius Hoffmann streckte den Hals wie ein Huhn, das einen Schluck Wasser zu sich genommen hatte, um auf diese Weise ein bißchen mehr nach oben und in die Gegend der weißbestrumpften Beine vigilieren zu können ...

Dabei stieß die schöne Anna einen fröhlichen Schrei aus, sei es nun, daß ihr das Menuett so ausnehmend gut gefiel, sei es nun, daß der joviale Doktor ... Wie dem auch sein mochte – kurz, sie stieß einen fröhlichen Schrei aus; die Animiertheit der ganzen Gesellschaft wurde immer größer und größer, und der Herr Gendarm war bereits in voller Montur auf einen Stuhl geklettert, um besser sehen zu können – da mit einmal ...

Das musikalische Trio pfiff und triangelte bereits die Stelle:

»O! – die Welt wird mir zum Hi–i–hi–i–mel ...«

da mit einmal ging das von draußen: »Julius, ich habe dir!« – und dann ein Gepolter und Geklatter ... Das Fenster ging auf, und, den halben Flügel mitnehmend, flog Julius im großen Salto mortale von draußen ins Ballokal, während im Rahmen das wütige Gesicht seiner lieben Mutter sich zeigte.

Ein einziger Aufschrei! – und Julius fiel über die erste Violine, riß die Klarinette zu Boden und blieb dann, mit dem dämlichsten Gesicht von der Welt, die Beine zur Decke des Ballokales gerichtet, vor Bettje Theißen und der alten Baronin liegen.

Das Trio verstummte, Bettje war einer Ohnmacht nahe; eine grenzenlose Aufregung machte sich in der ganzen Gesellschaft bemerkbar, eine Fassungslosigkeit, die Fränkel Haas unter den Tisch flüchten ließ, und nur bei Doktor Horré, dem Gendarmen und anderen beherzten Leuten nicht Platz greifen konnte.

Im Gegenteil – Herr Karl Friedrich Franz August Butterweck fühlte sich sogar, sprang vom Stuhl herunter und schrie ein über das andere Mal: »Das ist ja ein gesetzmäßiger Unfug! – Das ist ja nächst dem Satan ...!« stülpte sich den Helm auf den Kopf, zog blank und stürzte mit gezücktem Käsemesser, und von allen wegen seiner äußeren Forsche bewundert, ins Freie.

Er mußte sich erst den Festglanz aus den Augen reiben, um die schummerige Außenwelt beurteilen zu können, sah aber dann im matten Schein der Papierballons, wie ein langer Zuavenmantel ausrücken wollte.

Der Herr Gendarm hinter ihm her.

»Im Namen des Gesetzes,« rief er mit Stentorstimme ihm nach, »fordere ich Sie auf, stehen zu bleiben!«

Allein der Zuavenmanto, unter dem alle Hosennähte zu krachen begannen, arbeitete sich weiter, machte die gewagtesten Sprünge, gefolgt von zwei weiblichen, kompletten Schatten, die ebenfalls sich eifrigst bemühten, aus der Greifweite der waschledernen Handschuhe zu kommen.

Endlich war Herr Butterweck so weit, schwang den Säbel und dekretierte mit einer Gewalt, als wenn er gleich ein paar Bäume ausreißen müßte: »Ich verhafte Ihnen im Namen des Gesetzes!« und dabei hatte er den Manto nebst Inhalt an sich gerissen.

»Verhaftet ...!«

Aber was war das?! – An seiner Gendarmenbrust lag etwas Weiches, Molliges, Warmes ...

Erschreckt über diese Wahrnehmung, ließ er sein noch immer geschwungenes Käsemesser herunter.

»Was soll das?!«

Mit erstaunten Augen sah er in das Gesicht des sistierten Mannes.

»Sie sind ja ...?!«

»Ja,« sagte Frau Hartjes, »ich bin es.«

Der Hut war ihr dabei vom Kopfe gefallen. Aber trotz ihrer verzweifelten Situation – das Energische ihres Geschlechtes kam über sie. Da zog sie den Mantel fester um sich und sagte: »Herr Gendarm, da alles doch offenkundig geworden ist, will ich das Unheil in seiner eigenen Höhle aufsuchen.«

»Ich assistiere,« sagte die dicke Therese und war an ihre rechte Seite getreten.

«Ich assistiere dito,« ließ sich darauf Frau Hoffmann vernehmen und war gleichfalls, aber an die linke Seite der Verhafteten getreten – und so, von Butterweck eskortiert, der nicht wußte, was er mit der ganzen Geschichte und den Weibern anfangen sollte, ging der Zug auf die Turnhalle los.

Es gibt Dinge im menschlichen Leben, die kraft ihrer seltenen Vorkommnis die Grundfesten der menschlichen Gesellschaft zu erschüttern vermögen. Zum Beispiel, wenn ganz unvorhergesehen ein funkelnagelneuer Komet am Himmel erscheint, und infolgedessen der ganze Weinhandel, vom Produzenten bis zum Konsumenten herunter, und zwar wegen des zu erwartenden feinen Tröpfchens, Kopf steht, inferner, wenn ein männlicher Löwe und drei weibliche Tiger aus einer Menagerie ausreißen und dann ganz gemütlich über den belebten Jahrmarkt spazieren ...

Aber was will das alles besagen gegen das, was nun erfolgte, wie der Zuavenmanto, der Herr Gendarm, die pummelige Frau Hoffmann und die dicke Therese von Arimathia, beide als Assistentinnen obigen Mantels, die Turnhalle mit ihrem Eintritt beehrten!

Erst Entsetzen – Sprachlosigkeit – dumpfes Brüten – dann ein eruptives Gelächter! – und als dieses vorbei war, stand der joviale Doktor noch da, kämpfte mit einem krampfhaften Lachhusten und hatte Seitenstiche bekommen. Um nicht auf den Boden zu stürzen, mußte er sich an der schönen Anna festhalten – tat's auch, vermochte aber, trotz seiner Schmerzen, nicht über die Heiterkeitsausbrüche Herr zu werden, und jedesmal, wenn er den Zuavenmantel und die geistlichen Hosen vor Augen bekam, schwankte er mit blaurotem Gesicht hin und her, griff in die Seite und lachte von neuem.

»Die Frau bringt mich um!« rief er mit hellem Gewieher. »Ich halt's nicht mehr aus, ich halt's nicht mehr aus!«

»Aber was lachen Sie denn?« fuhr ihn die Frau Rektor mit giftigen Blicken an und war unter Begleitung der beiden Staatsanwälte näher getreten.

Ihr Korsett kam zum Vorschein.

Erneutes Gelächter.

»Nehmen Sie's mir nicht übel, Frau Hartjes ...!«

»Sie sollten sich schämen!« fuhr die Erregte auf ihn los. »Sie sollten sich schämen als Mensch und als medizinischer Doktor, denn ich stehe hier als Advokatin für meine weibliche Frauenehre und für mein Hausrecht. – Und Sie,« wandte sie sich mit feurigen Augen an die Tanzmamsell, »Sie sind schuld an meinem grenzenlosen Unglück. Sie haben sich in meine Verhältnisse geschoben, Sie haben das Herz meines Mannes mir abspenstig gemacht, Sie haben ihn betört und auf Abwege geleitet – ja, Sie, Sie, Sie ...!«

Ihre Stimme schlug um, sie konnte nicht weiter sprechen, aber dafür streckte sie ihrer vermeintlichen Nebenbuhlerin die geballten Hände dicht vors Gesicht.

»Was bedeutet das alles?!« rief die Tanzmamsell. Hilflos stand sie der tollen Anklage gegenüber, aber heiße Tränen waren ihr in die Augen getreten.

»Das bedeutet,« kam Frau Hartjes wieder zu Atem, »daß ich Ihnen Ihr scheinbares Ehrenkleid von Ihrem Komödiantenleibe herunterreißen will, denn Sie haben meinen Mann mit Sirenenstricken ...«

»Sie sind wohl verrückt!« schrie die Tanzmamsell auf. »Was denken Sie sich nur, mich hier vor der ganzen Gesellschaft in dieser brutalen Weise bloßzustellen?! Wer gibt Ihnen das Recht, meine Ehre in den Schmutz zu zerren, die sicherlich so unantastbar ist, wie die Ihrige nur sein mag?! – Aber zu Ihrer Entschuldigung nehme ich an: Sie sind wohl dem Irrenhause entsprungen ...!« – und sie sah sich um und um, ob keiner nahe wäre, der ihr zu helfen vermöchte.

Und da war ihre Mutter gekommen.

»Du mußt Contenance behalten,« sagte die Alte und schlang besänftigend die Arme um sie, wollte aber vor eigener Not in den Boden versinken.

»Wo diese Person ...!« – und ihre Augen weiteten sich, aber ihr Gesicht entstellte sich nicht und blieb schön wie immer.

»Nein!« warf sich nun Bettje Theißen ins Mittel, »keine Contenance behalten, denn was hier gesagt wird, das sind alles ausgestunkene Lügen!«

Schirmend und mit fliegendem Atem war sie vor die Ärmste getreten.

»Ach, Sie mit Ihren heiligen Augen!« zeterte die dicke Therese dazwischen. »Bekümmern Sie sich man um Ihre eigenen Schosen, und wenn die Tanzmamsell auch dreimal ihren Hahn wie der heilige Petrus verleugnet – ich weiß, was ich weiß, und wenn der Herr Rektor nicht hier ist, so hat sie ihn auf der Kegelbahn heimlich verstochen!«

»Weib ...!«

Das war ja ein entsetzlicher Aufschrei. Alles duckte sich, und selbst der joviale Doktor hatte in diesem Augenblick sein heimliches Lachen verloren, denn Pauline von Satzenhofen ...

Sie war nicht wieder zu kennen. Ihr liebes Gesicht entstellte sich jetzt; ein heiliger Haß war darüber gegangen, So sieht ein junges Frühlingsbeet aus, wenn sich über Nacht ein unerwarteter Rauhreif hineinfrißt.

»Ihr seid hart – ihr vom Niederrhein,« sagte sie unter bitterem Weinen.

»Wenn auch,« hielt ihr die dicke Therese entgegen, »denn ich sage man: haben Sie Ihren Buhler nicht in die Kegelbahn verstochen – denn, bitte, klaren Wein in die Buddel.«

»Den sollen Sie haben,« kam nun der Postmeister gesprungen. »Holla, Markör! – laufen Sie mal fix hier neben zum ›Ridder‹, und sagen Sie da, der Herr Rektor solle sich mal schleunigst nach hier bemühen, denn da sitzt er ganz harmlos und spielt ein Skatpartiechen nach dem andern herunter. – Aber hier – das ist ja eine ganz infame Geschichte ...!«

»Was?!« fragte die dicke Therese.

»Ja, Sie Unikum von Frauenzimmer!« sagte Herr Piepmann, »und nun kommen Sie, Fräulein von Satzenhofen, und lassen Sie man diese drei Unglückshühner hier stehen,« und damit bot er ihr kavaliermäßig den Arm, warf dem verstörten Zuavenmantel und den beiden Staatsanwälten noch einen sehr geringschätzigen Blick zu und führte hierauf die arme Tanzmamsell, und zwar von Bettje Theißen, dem Herrn Gendarmen und der übrigen Korona begleitet, bis in die Tiefe des Saales, wo sich alles in der liebevollsten Weise um das noch immer erregte Mädchen bemühte.

Die drei Unglückshühner standen nun da unter dem Kronleuchter, als wenn sie sagen wollten: »Da sind wir aber auf den verkehrten Misthaufen geraten.«

Und sie befanden sich noch in dieser Betrachtung, als auch schon Franz Hartjes im Sturmschritt anrückte. So wie er vom Skattisch aufgesprungen war, so erschien er auch: ohne Hut und noch zwei Karten, den Treffel-König und die Coeur-Dame in der Hand, prallte aber zurück, als er in dieses Tohuwabohu hineingeriet.

»Petronella, bist du denn ganz aus dem Häuschen ...?!«

Mit beiden Händen hatte er sich an die Schläfen gegriffen.

»Franziskus,« fragte ihn der Mann mit dem Zuavenmantel und den geistlichen Hosen, »warst du nicht hier – hier in der Turnhalle?!«

»Ich?! – Wieso?!«

»Und bist nicht heimlich auf der Kegelbahn gewesen?«

»Niemals!«

»Ah!« sagte Frau Hartjes und wollte in die Kniee sinken.

»Herr Hartjes, auf Leben und Sterben ...?!« spielte nun die dicke Therese ihren letzten Trumpf aus. »Hier heißt es, gerichtliche Farbe bekennen – und ich frage Sie daher im Namen des ewigen Gottes und rufe dazu noch den Erzengel Gabriel als Schwurzeugen an: hat Sie die Tanzmamsell nicht auf die Kegelbahn verstochen, um Ihnen dort mit ihren Buhlerkünsten heimlich unter die Nase zu kommen?! – Herr Hartjes, auf Leben und Sterben!«

Wie beschwörend hatte sie dabei die schwabbeligen Finger der rechten Hand in die Höhe gehoben.

»Sie haben wohl zu tief in die Flasche gesehn!« stöhnte der Rektor, der des Glaubens war, er sei in ein Tollhaus geraten.

»Was?!« schrie die Dicke, »auch Sie wollen mich hier als Säuferin ansprechen?!«

»Ja!« ließ sich eine feste Stimme aus der Tiefe vernehmen.

»Das weniger,« sagte Herr Hartjes, »aber Sie sind geistig betrunken,« und er sah dabei aus wie ein neugeborener Jüngling, der auf einer Frühlingswiese spazierte, wo Gänseblümchen standen und Himmelsschlüsselchen versuchten, mit ihren gelben Fingerchen durch das Erdreich zu stoßen.

Da fielen auch der betörten Frau Rektorin die Schuppen von den Augen herunter.

»Therese!« rief sie, nicht mehr Herr ihrer Besinnung, »ich muß Sie verfluchen, Therese! – Und du, Franziskus, vergib mir – vergib mir!«

Mit lautem Schluchzen sank sie an die Brust ihres Mannes.

Und dann ...

Langsam und mit tränenden Augen machte sie sich los, und langsam und mit tränenden Augen ging sie in die Tiefe des Saales und auf die Tanzmamsell zu. Und alle, die die Ärmste umstanden, machten ihr ehrerbietigst Platz, denn sie fühlten, trotz des komischen Aufzuges heraus, hier wollte ein in sich gegangenes Herz zu einem schwer beleidigten Herzen sprechen – und so war es auch. Die Frau Rektor wuscherte verlegen nach der Hand des gekränkten Mädchens und wollte was sagen; konnte aber zuerst die Worte nicht finden, dann aber fand sie die richtigen Worte und sagte leise, demütig: »Fräulein Pauline, können Sie mir vergeben, und wenn Sie es können – wollen Sie es tun?«

Und die alte Baronin wandte sich bewegt ab und nickte ›ja‹, und Bettje Theißen drückte sich ihr Taschentuch gegen die Lippen und nickte auch ›ja‹.

Selbst Herrn Piepmann traten die Tränen in die Augen – und da weinte die Tanzmamsell heiß auf und hielt ihr die Hand hin, wie ein Kind, das die Hand ergreift, mit der es noch soeben ungerechterweise gestraft wurde.

Und der Herr Doktor rief: »Hurra, die Tanzmamsell!«

Und Herr Piepmann: »Hurra, Frau Hartjes!«

Und die Musikanten bliesen Tusch und nochmals Tusch und zum drittenmal Tusch – und diese Ovation benutzten die beiden Assistentinnen, um sich heimlich mit Julius auf die Socken zu machen.

Frau Hartjes aber hatte die Tanzmamsell an ihre weiche Brust gezogen und strich ihr über die honigfarbenen Haare; und her joviale Doktor trat auf sie zu und sagte: »Nichts für ungut, Frau Hartjes, und wenn es Ihnen recht ist, wollen wir zwei beide 'nen feinen Versöhnungswalzer riskieren.«

Das ging nun nicht gut, aber Frau Hartjes versprach, nachher in einem anderen Kostüm und mit ihrem Manne wiederzukommen, um mit den Herrschaften noch einen gemütlichen Ball zu verleben. Und dann gingen die beiden, von Bettje und Fräulein Pauline bis zum Ausgang begleitet. Frau Hartjes ging Hand in Hand mit der Tanzmamsell und gab ihr an der Tür noch ein leckerers Küßchen – und wie sie dann fort war, schlug Herr Piepmann vor, das unterbrochene Menuett von neuem zu arrangieren, ein Vorschlag, der allgemeinen Beifall fand und freudig beklatscht wurde.

So hatte sich denn alles zum Guten gefunden. Die Paare reihten sich, Bettje Theißen saß wieder auf dem Podium mit heiligen Augen und schlug das Triangel, die alte Baronin stand neben Herrn Piepmann, und beide spitzten den Mund und pfiffen dann in seliger Inbrunst:

»Als ich noch im Flügelklei – i – ei – i – de ...«

und so ging das weiter in ausgelassener Fröhlichkeit, bis Frau Hartjes mit einem allerliebsten Enkörchen und mit ihrem Herrn Gemahl erschien, allen freundlich und in gehobener Stimmung zunickte und dann mit dem Doktor den zugesagten Versöhnungswalzer exekutierte.

Und wie tanzte die Frau Präsidentin ...!

»Wie 'ne Venus,« sagte Fränkel Haas – und unter allgemeiner Verbrüderung, unter steten Ovationen für die allerliebste Tanzmamsell nahm das gelungene Fest seinen Fortgang.

Inzwischen hatten die bunten Papierballons ihren Atem verloren. Sie waren ausgebrannt; dafür aber schob der liebe Herrgott die Wolken beiseite, nahm eine Hand voll Brillanten und verstreute sie unter den dunklen Himmel, daß es man so blitzte und flunkerte.

Und es wurde spät, sehr spät nach Mitternacht, bis man sich trennte.

Und als man sich trennte, da war die Tanzmamsell die Königin des Tages geworden.

Wie dann später das Nachtlichtchen traulich in dem Schlafgemach der wieder versöhnten Eheleute knisterte und so'n bißchen über den Glasrand fortblinzelte, da sah es auch, wie der eheliche Friede einen mit gemustertem Cretonne überzogenen Sessel an das Fenster gerückt hatte, die Vorhänge auseinanderschlug und mit glücklichen Augen auf die verblassenden Sterne und den stillen, werdenden Morgen hinaussah.

Auch Bettje lag zwischen den Kissen. Sie konnte aber den Schlaf noch nicht finden. Sie mußte an verschiedenes denken, und da sagte sie plötzlich: »Ach, lieber Herrgott, wenn das an der Deichflanke nicht geschehen wäre, wo so heilig die Feuer in der Niederung brannten – heute wär' der schönste Tag meines Lebens gewesen.«

Und dann machte sie große, heilige Augen – und dann war sie eingeschlafen und träumte von der Tanzmamsell und war glücklich.


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