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I Miekske Pollmann

Kommet alle, reicht mir die Hände und geht mit mir! – ich führe euch in das niederrheinische Land, wohin ich euch so oft geleitet, denn immer und immer wieder muß ich selber in den stillen Erdenwinkel hineinsehn, wo etwas liegt, von dem ich nicht sagen kann, warum es so schön ist, und wo mir immer das Herz schlägt, wie es mir immer geschlagen, als ich noch ein kleiner Junge war, die Schneeflocken leise, ganz leise niederspielten, etwas Geheimnisvolles über die weiche, weiße Spreite ging, und Miekske Pollmann mir von Sankt Nikolas und der kommenden Weihnacht erzählte. Und wenn es dann Sommer wurde, und der warme Blust über die Roggen- und Weizenschläge dahinrauchte ... Und die Mühlen gingen, und die Wasser lagen dann so ruhig in den kreisrunden Kolken, als wäre es Feiertag, und über Dämme und Wiesen wiegte sich die niederrheinische Stille, so still, so unendlich still ... Und aus der Stille wuchsen die niederrheinischen Menschen heraus, die Menschen mit ihrem verschlossenen Wesen und ihrem kantigen Ausdruck in den harten Gesichtern ... Und wenn ich dann in diese harten Gesichter hineinsah, dann sah ich auch bis auf den Grund ihrer Seele, und dann fand ich, daß ihre Seelen anders waren, als die Seelen anderer Menschen. Und dann stand ich und blickte hinein in den Sommertag und hörte die Stille und sah den weichen Rauch, der über die Roggen- und Weizenfelder dahinging. –

Auch heute ist so ein Sommertag; drum kommet alle, reicht mir die Hände und geht mit mir. – Ich führe euch wieder in das Land meiner Jugend.

*

Um die Spätnachmittagsstunde ging ein merkwürdiger, fast seltsamer Mann durch die Straßen der kleinen niederrheinischen Stadt hin. Er ging eigentlich nicht, wiewackte und latschte vielmehr und hatte beide Hände in den schlotterigen Hosen vergraben. Um den Hals trug er ein schwarzes Tuch, dessen Enden in langen Zipfeln herabhingen, hatte einen blauleinenen Kittel an und eine klebrige Schirmmütze bis tief in den Nacken gezogen. Eine kurzstielige Kalkpfeife brannte im linken Mundwinkel; unter ihm lief das charakteristische Geklapper von blankgescheuerten Holzschuhen. Der hohläugige Kopf war ihm bis auf den leinenen Kittel gesunken. Der Kleidung nach sah er aus wie ein Mensch aus hiesiger Gegend. Aber niemand hatte ihn bis jetzt von Angesicht zu Angesicht gesehn, obgleich er kein landfremder Mann war und immer dort erschien, wo es Trauer und verweinte Augen absetzte. Nur Pitt Hoffmann, der Leichenbitter, der am Hauptmarkt neben der katholischen Pfarrkirche wohnte, kannte ihn näher, denn er war hellsichtig veranlagt und sah daher mehr als die anderen gewöhnlichen Leute. Und wenn er ihn sah, dann kribbelte ihm der Duft nach Firnis und Hobelspänen in die Nase hinein; dann wußte er, daß sein Geschäft blühen und der Totengräber zu tun haben würde. Und dann ging er hin und begoß diese Erkenntnis mit einem doppelt gebrannten Wacholder, denn alles mußte doch im Leben seinen regelrechten Abschluß bekommen.

Auch heute stand Pitt Hoffmann in seiner Wohnung am Fenster.

Da ging der stille Mann im blauen Kittel und mit brennender Kalkpfeife vorüber.

Pitt Hoffmann kannte ihn wieder, drehte sich um, öffnete das Eckschab und genehmigte sich einen kräftigen Wacholder.

»Auf daß das Geschäft blühe,« sagte Pitt Hoffmann, schnalzte mit der Zunge und begab sich wieder ans Fenster.

Der Unbekannte war inzwischen weitergegangen, hatte die katholische Kirche passiert und war auf den stillen Marktplatz getreten. Hier sah er sich um. Er stand scheinbar in Überlegung, was er beginnen solle. Jetzt hatte er gefunden, was er suchte. Er ging ruhig auf die Posthalterei los. Dort angekommen, zog er die rechte Hand aus der Hosentasche und klopfte etliche Male gegen die Tür.

Aber niemand öffnete ihm.

Da trat er an das ihm zunächst gelegene Fenster, hob sich in den Holzschuhen und sah über die gehäkelten Vorsetzer in die Stube hinein.

Es war ein eigentümlicher Blick, mit dem er hineinsah. Der Blick dauerte lange, schien aber nicht mit sich ins reine zu kommen. Da drehte sich die Gestalt im blauen Kittel herum, fast unwirsch und eckig, klapperte die Fliesen herab und trat wieder in das nahgelegene Kirchengäßchen zurück. Hier blieb er stehen. Mit stumpfen Augen sah er über den weltvergessenen Markt fort, ließ aber die Posthalterei nicht außer Acht, denn er wußte genau, was er dort suchte.

Auch Pitt Hoffmann wußte es. –

Mit dem königlichen Posthalter Naatje Ingelaat stand es hundsmiserabel, und seine Pflegetochter Luise, das Kind eines frühverstorbenen weitläufigen Vetters, ging mit rotgeweinten Augen herum und erwartete stündlich das Ableben des Hochbetagten, der sich aber sturköpfig weigerte, mit Spaten und Erde Bekanntschaft zu machen, und von seiner einträglichen Posthalterei und den dreißigtausend Talern, die er sich im Laufe der Jahre erspart hatte, nicht fort wollte. Aber es half ihm alles nichts. Der kurzbeinige Doktor Horré hatte schon recht, wenn er sagte: »Nu geht's bald mit Ignaz kopfüber. Hü, all meine Pferde! Er riecht nach dem Spaten.«

Während nun der arme Naatje Ingelaat mit gefalteten Händen und in seiner Zipfelmütze auf dem Sterbebett lag und auf verlorene Posthornklänge zu hören schien, die fahrig wie zerrissene Bänder und Papierschnipfel durch die Luft flatterten, saß Miekske Pollmann vor ihrer Haustür, strich mit gichtischen Händen über ihr Kattunkleid und beobachtete mit viven Augen die wenigen Leute, die vorübergingen. Ab und zu mußte sie niesen, denn die Sonne stand schon tief und kitzelte mit seinen Strahlenfäden, die über die Dachschräge des gegenüberliegenden Hauses fielen, gerade in ihre Nase hinein. Nun kam es ihr wieder an. Sie mußte zum drittenmal niesen. Das tat denn auch Miekske – und das sah komisch aus, denn sie war von jeher 'ne drollige Person und ein apartes Weibsbild gewesen. Was nun das Aparte anbetraf, so hatte es damit diese Bewandtnis. – Klargeistig, glaubenskräftig – das war sie, und zwei Augen hatte sie im Kopf, die so sammetweich schienen wie die Mysterien der katholischen Kirche; ihre Seele war heiter und ihr Geist übermütig wie 'n Böckchen, das auf einer saftigen Wiese herumkapriolte, aber mit dieser Lustseligkeit harmonierte nicht das Armselige ihres gebrechlichen Körpers. Das war eben das Aparte an Miekske. Ihr klarer, kluger, strenggläubiger Kopf saß ihr tief zwischen den Schultern, die Füße wollten nicht, und die Hände taten immer so, als wenn sie irgend etwas gepackt hielten, und dann wieder so, als müßten sie irgendein Ding, das gar nicht da war, hastig ergreifen. Und das machte die Gicht, die sich schon frühzeitig an sie geschlichen, wie die Flechte Borke und Bast anschleicht, sich festsetzt und das Leben verkümmert – elend verkümmert. Allein ihr Geist besiegte die infame Misere und machte sie fähig, einer Nähschule vorzustehen und ihre sogenannte ›Malör-Penning-Kasse‹ ins Dasein zu rufen – und das war wiederum etwas ganz Apartes im Leben von Miekske Pollmann gewesen. Die ›Malör-Penning-Kasse‹ war ihre ureigenste Erfindung. Sie stand immer auf dem Tisch, wenn die zwölf- und dreizehnjährigen Mädchen in der Hinteren Stube saßen und mit Zwirn und Nadel hantierten. Und wenn dann so ein blutjunges Dingelchen sich aus einem xbeliebigen Grunde mausig machte, schwatzte oder ihm sonst ein Malörchen passierte, dann knöchelte Miekske mit ihren gichtischen Fingern auf dem Nähtisch herum und fragte: »Wer war das?«

»Iche!«

»Adele Knipp, du hast dir hören lassen. Strafe: twee Penning in de ›Malör-Penning-Kasse‹.

Und dann klimperte das kupferne Geldstück in die aufgestellte Blechbüchse hinein, zu den anderen Pfennigen, die ihre Anwesenheit bereits früheren Beschlüssen verdankten. So ging es Tag für Tag und Woche für Woche, und wenn es dann Sommer wurde, die Chausseebäumchen mehlstaubig aussahen und die Äpfel schon rote Backen bekamen, dann wurde die Kasse ausgeschüttet und lustig verjubelt. Ein kleiner Korbwagen kam an, Miekske ließ sich verfrachten, die knirpsigen Mädchen spannten sich vor, und dann ging es hinaus, um da draußen in den Büschen und Alleen von Moyland die aufgespeicherten Pfennige in Stippmilch, Korinthenbrötchen und Spekulatiusmännchen umzusetzen. Das dauerte so lange, bis alles vertan war, Miekske sich aus ihrer Privatschatulle noch drei süße Schnäpschen genehmigt hatte, und die Kinder dann sangen:

»Miekske sall läwe,
Ne ›Malör-Kass'‹ dornäwe –
Hoch, hoch, hoch!«

die ganze Gesellschaft sich wieder vorspannte und das armselige Frauenzimmerchen nach Hause kutschierte. Hierauf ging's von neuem los: Nähschule, kleine Gesetzwidrigkeiten und scharfe Dekrete – den lieben, langen Winter hindurch, das Frühjahr hindurch, bis es wieder Sommer wurde, die Äpfel rote Backen bekamen und die ›Malör-Penning- Kasse‹ wiederum ihrem Schicksal verfiel und verjubelt wurde.

»Miekske sall läwe ...!«

Ja – Miekske Pollmann war von jeher ein kurioses und apartes Frauenzimmer gewesen! Sie war so apart und kurios wie ihr Bruder, der bislang ein vagabundierendes Leben geführt hatte, jetzt in Rom herumlungerte, in sich gegangen war und auf eine Rentmeisterstelle wartete, die er durch Vermittelung seiner strenggläubigen Schwester und auf die Fürsprache der hiesigen Kleriker hin beim Baron Steengracht in Moyland zu erlangen hoffte. Miekskes Bruder war schon alles und jedes gewesen: Weinreisender, Kommis in der Manufakturwarenbranche, Kassierer bei einer reisenden Zirkusgesellschaft, dann Zuave in päpstlichen Diensten, eine Stellung, die er sicherlich noch bis auf den heutigen Tag innegehabt hätte, wäre nicht die politische Machtstellung des Pontifikats frühzeitig in die Brüche gegangen. Nichts war dem armen Karlo Antonio Pollmann geblieben, als lediglich das Bewußtsein, ein hübscher Kerl zu sein, dem Papst gedient zu haben, sich bei festlichen Gelegenheiten in die Zuavenmontierung werfen und auf eine Rentmeisterstellung in seiner engeren Heimat hoffen zu können – alles! – aber den ›Karlo Antonio‹ ließ er auf seinen Visitenkarten nicht schießen, und noch eins nicht: sein unbändiges Glück bei den Weibern. Das hielt er fest, das verhätschelte er wie ein unerzogenes Kind, denn es war eine Macht- und Lebensfrage für ihn, eine Ankerstelle in seiner desolaten Verfassung. Und wie Miekske auch schreiben mochte, ermahnen mochte, letzteres Glück über Bord zu werfen – Karlo Antonio antwortete stets in der nämlichen Weise: »Das ist nun einmal mein Gusto; habe keine Bange deswegen, aber tue du man ein übriges und besorge mir die Rentmeisterstelle in Moyland.« Und dann war sie auch wieder zufrieden, ließ Gottes Wasser über Gottes Land laufen und freute sich, einen Bruder zu haben, der in Sachen der Kirche die hechtgraue Zuavenjacke und das hechtgraue Käppi getragen und vor dem großen Sankt Peter geschildert hatte und noch immer einen bildsauberen Kerl abgab; denn wenn sie ihren eigenen Körper beguckte, dann allerdings mußte sie sagen, daß es für sie ein leichtes sei, sich die Mannsmenschen vom Leibe zu halten – wohingegen ihr Bruder ... An jedem Finger hing ihm so ein üppiges Frauenzimmer; aber das tat, weil er so ein appetitlicher Mensch war und die Gier der Weibsbilder aufreizen konnte.

»Allesamt Sünder!« meinte die Inhaberin der ›Malör-Penning-Kasse‹ zog ihr vives Köpfchen noch tiefer zwischen die hohen Schultern und machte dabei mit ihren gichtischen Händen etliche Bewegungen, als sei sie gewillt, Fliegen von ihrer bunten Schürze zu fangen – und saß doch tief in Gedanken, denn sie dachte an ihren einzigen Bruder, den schönen Tedesco, an das, was um sie vorging, wes sie täglich sehen mußte und hören mußte, an den Notstand der Kirche, der sich stündlich verschlimmerte und geeignet schien, die schwersten Bedenken in den Köpfen der denkenden, christkatholischen Menschen rege zu machen. Was wollten überhaupt die preußischen Landräte und die Kerle, die noch höher saßen in ihren fetten Ämtern? Anno 71 hatte die verfluchte Geschichte angefangen, und seitdem waren über drei Jahre vergangen. Aber statt besser zu werden – immer tiefer ging es mit den kirchlichen Rechten bergab; Knebel wurden angesetzt, Bischöfe in die Wicken gejagt, und wenn das so anhielt, wenn das weiter so ginge, was sollte dann überhaupt kommen und werden? – Die heilige Kirche und die Herren Kapläne kamen ja nicht aus ihrer Not heraus, und wer sollte dann Kindtaufe halten, die Wegzehrung austeilen und die heilige Firmelung geben? – Die ganze Geschichte war durchsichtig wie 'n Küchensieb. Das Recht wurde zu einer Unrechtssache gemacht. Die Herren Pastöre und Kapläne bekamen Seitentritte, und den lieben Heiland meinte man, und wenn man schließlich so alles bedachte, konnte man noch darauf gefaßt sein, nicht, einmal ehrlich und auf christkatholische Weise begraben zu werden. Aber was sie, Miekske Pollmann, anbetraf – sie ließe sich partout nicht von Pitt Hoffmann allein und 'nem lutherischen Prediger unter die Erde bringen. Lieber noch von 'nem Rabbiner oder 'nem anderen Heiden – ja, das wollte sie, und mit dieser Beteuerung, mit der sie jedesmal ihre kirchlich-politischen Grübeleien abschloß, glaubte sie ihrer Ansicht genug getan und den preußischen Staat in Grund und Boden geblitzt zu haben.

Und so auch heute.

»Lieber von 'nem Rabbiner oder 'nem anderen Heiden!« sagte Miekske mit fester Zuversicht, sprang auf ein anderes Thema über und berechnete im Geiste den Inhalt der ›Malör-Penning-Kasse‹. Hierbei gewahrte sie nicht, daß der Herr Vikarius Joseph Sauerbier die Straße heraufkam, ein Mann mit athletischen Formen, einem Stiernacken und gesunden Zähnen. Aber sein Gesicht war so fromm und gutmütig wie das eines Lammes, wenn auch ab und zu ein energischer Zug um die Mundwinkel des gemächlich näher kommenden Klerikers spielte. Joseph Sauerbier, der Sohn ehrsamer Schneidersleute, war in hiesiger Kirchengemeinde gebürtig. Er sollte, wie sein Vater, das Schneiderhandwerk erlernen, wollte aber nicht, denn er hatte Bärenkräfte, und sein Geist war so klar wie das Wasser im Brunnen. Da aber Vater Sauerbier auf seinen Willen bestand, mußte der Sohn Hals geben, tat's auch, sprang aber in seiner Eigenschaft als Lehrling mit seinen Bärenkräften so forsch auf den Schneidertisch, daß die Planke nachgab und mitten entzwei brach. Da sah Vater Sauerbier, daß es so weiter nicht ginge und fragte: »Was willst du denn werden?« – »Theologe möchte ich werden.« – »Nein,« sagte der Alte, »aber auf Schulmeister kannst du studieren,« tat seine Ersparnisse auf einen großen Haufen zusammen und schickte seinen Sohn auf die gelehrte Schule nach Münster. Und Joseph studierte – und dann, als er die Akademie bezog, schien es so, als wenn er auf den Schulmeister losginge, allein seine Kollegienhefte waren theologischen Inhalts. Das merkten Vater und Mutter Sauerbier in den Sommerferien – und noch eine merkte es, die sich in den kräftigen Studenten vergafft hatte, und das war dem Schmied Derksen seine rotblonde Tochter. Die verfolgte ihn unentwegt mit ihren sinnlichen Augen und sagte: »Wenn einer es machen kann, so kann ich es nur machen,« ging hin, trat vor ihren zerbrochenen Spiegel und, da es Sommer war, tat sie ihren dünnsten Rock an und ein Leibchen von Nessel, das noch feiner als Spinnweb sich anließ, und sah in die Scheibe. Und Anna Derksen war zufrieden mit sich, drehte sich auf ihren Absätzen herum und ging zum Studenten. Als sie aber vor ihm stand, reckte sie ihre Schultern zurück, daß ihr schöner Busen mächtig unter dem leichten Nesselkleidchen hervorsprang. Und wieder lockte sie mit ihren sinnlichen Augen. »Jetzt muß er wollen, wie ich will,« dachte das Mädchen. Allein der junge Theologe wandte sich ab und sagte mit vibrierender Stimme: » Apage, Satanas!« – Da wußte sie, daß er für sie verloren war für immer und ewig. Auch die Eltern wußten es, gaben sich aber schließlich zufrieden, als ihr Sohn zu Ehren und Würden gelangte, seine Primiz hielt und Geistlicher wurde. Und wenn Joseph später seine elterliche Schwelle beehrte, zog Vater Sauerbier ehrfurchtsvoll sein Troddelkäppchen vom Kopfe herunter und sagte zu Schmied Derksen und Anna: »Freut Euch mit mir, denn unser geistlicher Herr Sohn hat heute mit uns einen warmen Löffel Suppe gegessen.« –

Der Herr Vikarius war weiter gegangen. Die Leute, die vor den Häusern saßen, grüßten ihn und meinten: »Jetzt geht Joseph von Arimathia zu Miekske. Nein, was die doch für 'n Glück hat!« – und sie nannten ihn so, weil der Herr Vikarius alljährlich, und zwar um die österliche Zeit, den hölzernen, grellilluminierten Leichnam des Herrn in eine Seitenkapelle der Kirche trug und dort auf gespreitete Leinwand und weiße Papierrosen legte. Das bedeutete das Grab, aus dem der Heiland am Ostersonntage auffahren sollte gen Himmel. Wenn dann alles vorüber war, die Glocken wieder von Rom kamen, trug er das hölzerne Bildnis wieder in den Verschlag der Sakristei zurück, wo es rasten konnte bis zur nächstjährigen Karwoche, in der die Glocken wieder stumm wurden wie die Fische im Wasser. Das war ein schönes Amt, was der Vikar innehatte. Die anderen Geistlichen der Pfarrei konnten es nicht bekleiden, denn ihnen fehlten die Körperkräfte hierzu; aber Joseph Sauerbier hatte sie und war hierdurch Joseph von Arimathia geworden. –

Und Joseph von Arimathia war weitergegangen. Die kleinen Mädchen liefen herbei, tasteten nach seinen Händen und sagten: »Tag, Heerohme!« – und Adele Knipp, die wegen ihres häufigen mangelhaften Verhaltens der ›Malör-Penning-Kasse‹ am meisten Tribut zahlen mußte, stand hinter den Fensterscheiben und knickste; und so, von allen christgläubigen Menschen geehrt, war der Herr Vikarius bis zu Miekske Pollmann gekommen.

Mit seinem blaubedruckten Taschentuch tupfte er sich den Schweiß von der Stirne, reichte der gebrechlichen Jungfer die Hand und meinte: »Tag, Miekske; haben Sie heute schon gebetet?«

»Ja,« sagte Miekske, »das tu' ich allmorgens.«

»Das ist schön und gut von Ihnen,« erwiderte Joseph von Arimathia, »wir haben es nötig, denn trotz des schönen Wetters hängen überall Trauerflore vom Himmel.«

»Ach, ne...!« sagte Miekske. Sie sagte es mit einem gewissen Erstaunen, denn sie wußte so recht nicht, wo der Herr Vikarius mit seinen Trauerfloren hinauswollte. »Aber wieso. denn?« fragte sie in sichtlich bedrückter Stimmung, griff mit ihren zappeligen Händen ins Leere und begann wieder Fliegen zu fangen, die nicht da waren. »Je,« meinte Joseph von Arimathia und drehte den gesunden, freundlichen Kopf auf dem Stiernacken gen Himmel, »Naatje Ingelaat kann so recht keine Luft mehr bekommen. Er geht den Weg alles Fleisches. Bald wird er vor seinem Heiland erscheinen, und das ist ein Glück für den Mann, denn der Heiland hat die schönen Worte gesprochen: Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Aber was kein Glück für ihn ist, was ihm sehr übel vermerkt werden könnte da oben ...«

Miekske Pollmann hatte einen großen Brummer gefangen.

»Das ist,« fuhr der Herr Vikarius gelassenen Tones fort, »daß er in der Betätigung seines letzten Willens nicht die richtigen Wege gefunden. Seine Pflegetochter Luise und Johannes Wesselink dürften sich aller Wahrscheinlichkeit nach als glückliche Erben betrachten, während wir, die Kirche, die frommen Brüderschaften, das Kloster in einen Sack greifen mögen, der tatsächlich nichts anderes als ein ganz gewöhnlicher Sack ist: leer, ohne Inhalt – und er, was der Herr Posthalter ist, hatte doch früher so schöne Pläne gehabt und so schöne Gedanken ...«

»So 'n christkatholischer Unchrist!« erregte sich Miekske.

»Richtig,« versetzte Joseph von Arimathia. »Ich verstehe Sie, und die übrigen Menschen werden Sie gleichfalls verstehen. Man sollte in dieser verhängnisvollen Zeit, wo die heilige Kirche von Feinden und Widersachern gleichsam wie der große Sankt Sebastianus mit Pfeilen durchspickt wird, alles aufbieten, ihr jammernswertes Los erträglicher zu gestalten. Aber tun es die Menschen, tut es die preußische Staatsbehörde?! – Wir haben den aufgezwungenen Glaubenskampf durchzukämpfen, wir haben die Herren von Bismarck und Falk, wir haben die Maigesetze ... Wir haben häretische Anwandlungen in Hülle und Fülle; keine geistliche Autorität wird gewertet, so daß es möglich wurde, selbst an den hochehrwürdigen Bischof von Köln ...«

»Was ...?!« jammerte Miekske.

»Hand anzulegen,« war die ruhige, aber fatalistische Antwort.

Die Inhaberin der ›Malör-Penning-Kasse‹ erschreckte sich derart, daß sie sich festhalten mußte, um nicht vom Stuhle zu fallen.

»Märtyrer!« sagte der Herr Vikarius und legte die Hände über seine Soutane zusammen. Aber dann kam es über ihn, und er meinte mit energischer, aber verhaltener Stimme: »Ja, dahin ist es, leider Gottes, gekommen! Wir sollen nicht sein wie die Dohlen, die untätig zusehen und nur den Knopf des Kirchturms umschreien; wir gehören hinein in die Kirche. Wachet und betet und opfert! – allein der Posthalter Ingelaat ist nichts weiter wie eine Dohle gewesen. Wir müssen sparen und sammeln, wir müssen zu opfern verstehen, damit es auch der geistlichen Behörde vergönnt ist, den Kampf siegreich durchzuführen, der ihr gegen alle Menschengesetze und Gottesgesetze aufgedrängt wurde von einer Gewalt, die besser getan hätte, sich in Demut zu beugen vor Gott und seinen Stellvertretern auf Erden.«

Joseph von Arimathia wischte sich wieder den Schweiß von der Stirne, während Miekske schwer in Gedanken saß und über die traurigen Zeitläufte nachsimulierte. Und aus ihren Gedanken wuchsen Tränen heraus, und aus ihren Tränen wurde der feste Entschluß geboren, sich tatkräftig in den Dienst der bedrängten und zu Unrecht gemaßregelten Kirche zu stellen. Sie fing denn auch noch etliche Brummer, die weder für sie, noch für die übrige Welt existierten, und sagte dann mit aller Bestimmtheit: »Sehen Sie, Mynheer Vikarius, ich bin ja, was meine eigene Person anbetrifft, nur ein gewöhnlicher und sterblicher Laie, aber wie wäre es nu, wenn ich als erste meine ›Malör-Penning-Kasse‹ auf den Altar der gottesfürchtigen Wohltätigkeit hinlegen täte? !«

»Hm!« machte Joseph Sauerbier, »das wäre nicht übel. Wir sind auch für die kleinste Spende dankbar, wenn sie nur mit ehrlichen Händen gebracht wird.«

»Das soll denn ein Wort sein,« freute sich die armselige Person so recht aus tiefster Seele heraus. »Mir bedrückt es nicht weiter, denn ich hänge nicht am Besitz, und mir scharniert es nicht weiter, denn was meinen Exerzitus ins Grüne, wie ich das immer so zu benennen gewohnt bin, anbetrifft, so können wir das ja bis auf den nächsten Sommer verschieben – und meine kleinen Mädchen sorgen schon dafür, daß die Blechbüchse in den langen Winterabenden wieder voll wird. Greifen Sie daher nur forsch in die ›Malör-Penning-Kasse‹. Sie steht auf dem Tisch in die Hintere Stube. Es ist gerne gegeben.«

Miekske Pollmann mußte an sich halten, um nicht vor lauter Rührung dem Herrn Vikarius ein Küßchen zu geben.

»Das macht Ihnen alle Ehre!« sagte Joseph von Arimathia, »und damit Sie sehen, wie der Herr alles Gute vergilt, wie der Same der Wohltätigkeit geeignet ist, hundertfältige Ernte zu bringen, kann ich Ihnen ein Freudenfähnchen entgegentragen und Ihnen die Mitteilung machen ...«

»Was?!« meinte das arme Persönchen.

»Ihre Bitte, Ihr Gesuch ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Ihr Herr Bruder Karlo Antonio Pollmann wird die Rentmeisterstelle in Moyland erhalten. Danken Sie dem heiligen Vater in Rom, danken Sie der hiesigen Geistlichkeit, durch die es möglich wurde, alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Und danken Sie Gott, daß Herr Karlo in päpstlichen Diensten gestanden und Zuave gewesen. Dieses, mein Fräulein, war der freudige Beweggrund, Sie zu beehren. Und nun: gelobt sei Jesus Christus!«

Miekske Pollmann warf dem Sprecher einen innigen und dankbaren Blick zu.

»In Ewigkeit, Amen,« sagte sie tonlos. »Aber, Mynheer Vikarius, die ›Malör-Penning-Kasse‹ ...!«

»Ja, so,« meinte Joseph von Arimathia, ging ins Haus und nahm die stattliche Blechbüchse vom Tisch, kam wieder zum Vorschein und stolzierte, nachdem er sich nochmals bei Miekske Pollmann bedankt hatte, in den werdenden Abend hinaus.

Und das verlähmte Frauenzimmerchcn sah ihm mit großen, schimmernden Augen nach, versuchte ihren Kopf aus den Schultern zu recken und konstatierte heiteren Gemütes, daß sie durch die Spendierung der weitbauchigen Kasse dem Himmel entschieden um zwei Tagemärsche näher gerückt sei, ein Gedanke, her sie so freudig erregte, daß sie die lieben Engel zu hören vermeinte, die oben in den Abendwolken musizierten, die Zimbel schlugen und geigten.

Und der Abendwind ging durch die kleine niederrheinische Stadt hin, so lind und weich wie Watte und so säuselnd und sacht wie Eulenflug, und er faltete die Soutane des Herrn Vikars still auseinander, und wenn einer subtile Ohren gehabt hätte, um wie eine Spitzmaus zu hören, so hätte er auch die feinen Stimmchen vernommen, die aus den Rockschößen der Soutane und der ›Malör-Penning-Kasse‹ herauskamen. Es waren Mädchenstimmen und doch keine Mädchenstimmen. Es waren vielmehr wieder lebendig gewordene Unartigkeiten und sonstige Dinge, die gegen die Regeln der Nähschule verstießen. Es war ein verhaltenes Kichern und Lachen. Verkupferte Stimmchen ...! – Etliche davon hatten eine ganz besondere Kulör, und wer die kleine Adele Knipp kannte, der wußte auch, daß sie von der kleinen Adele Knipp herrühren mußten. Aber alle hatten den nämlichen Ursprung und schienen glücklich zu sein. Sie konnten auch glücklich sein, denn da sie sich in der schwarzen Soutane befanden, waren sie heilig geworden. Das war doch eine andere Sache, als später profanen Zwecken zu dienen und in Stippmilch, Leckerguts und Korinthenbrötchcn umgewandelt zu werden! Und mit diesen seligen Stimmchen im Rockschoße ging Joseph von Arimathia nach Hause, und als er den großen Markt passierte, stand Pitt Hoffmann noch immer am Fenster, sah mit seinem wächsernen Gesicht und den runden Augen in die immer stärker werdende Dämmerung hinein, die sich langsam und feierlich über Giebel und Dächer ausgetan hatte, und trommelte mit seinen weißen Fingern, die so weich und gelenkig wie die einer Hebamme waren, einen Trauermarsch gegen die angelaufenen Scheiben.

»Auf daß mein Geschäft blühe!« sagte Pitt Hoffmann und vergönnte sich aus seinem Eckschab den dritten Wacholder.

Der Herr Vikarius aber war weiter gegangen. In der Nähe der Sankt Nikolaikirche begegnete ihm der Postillon Stäwe Rademaker, der atemlos und mit verwehtem Gesicht vom Pastorat herkam.

»Was gibt's, Stäwe?« fragte ihn Joseph von Arimathia.

»Ach, Gott, ja – Herr Vikarius I – Mynheer Ingelaat ...«

»Geht es schon so sehr aufs Sterben ...?!«

Stäwe Rademaker knabberte traurig an seinem grauen Schnurrbart herum, der wie eine dicke Bürste über seine Oberlippe herabhing.

»Ja, Herr Vikarius. Der Dechant Steinberger will mit die Wegzehrung kommen.«

Dann trabte er weiter, der Posthalterei zu.

»Amen,« sagte Joseph von Arimathia.

Der unheimliche Mensch aber, der im blauen Kittel und eine Tonpfeife im Munde bislang im Kirchengäßchen gestanden hatte, verließ seinen Platz, sah sich um und schlug den Weg ein, den der Postillon Stäwe Rademaker gegangen war.

Leise, verschüchtert blitzte in der Posthalterei ein Licht auf.

Es war das erste Licht am heutigen Abend.


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