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XIV Die Sterbeglocke

Die heikle Affäre hatte einen luftigen Staub aufgewirbelt, durch den langgesichtige Menschen hindurchsahen und sich redlich bemühten, den infamen Staub noch dichter und kompakter zu machen. Sie hatten ihre helle Freude daran, wie er so wehte, selbst Miekske, selbst Karlo Antonio und Joseph von Arimathia, die inzwischen faustdicke Freundschaft geschlossen hatten und sich vor Lachen schütteln wollten, wenn die Geschichte vom Zuavenmantel und den geistlichen Hosen aufs Tapet gebracht und semmelwarm präsentiert wurde.

Ja, der Staub wehte – aber es war Frühling geworden. Die ersten Sumpfdotterblumen blühten, und eine liebevolle Schöpferhand zupfte die kleinen Maßliebchen aus dem warmen Erdreich heraus und bordierte damit die kleinen Wässerchen, die durch die Niederung liefen, und bestickte damit die weiten Wiesenkomplexe und betupfte damit die wuchtigen Deiche, so daß es aussah, als wäre ein verständiger Tünchermeister mit seinem Gelb- und Weißquast darüber gegangen. Und der Frühlingswind wehte – und die Buchfinken sangen ... Und wie der Frühlingswind wehte und die Buchfinken sangen, da verflog auch der unleidige Staub, und die geschwätzigen Menschen hatten etwas anderes zu tun, als sich noch länger von der durchlebten Tragikomödie amüsieren zu lassen, um so mehr, da der große Guckkastenmeister neue Bilder vor die Augenlinse schob und die Leute aufforderte, ihr ganzes Interesse mehr zu vertiefen und ausschließlich auf religiös- politische Dinge zu richten. Na, das geschah denn – und der große Guckkastenmeister brachte immer neue Bilder zum Vorschein, erklärte ihnen auch die minimalsten Einzelheiten, zeigte neue Miseren der gemaßregelten Kirche und wußte so melancholisch von dem Wechsel und Unbestand aller Dinge zu erzählen, daß die Zuhörer Frau Hartjes und ihr kleines Abenteuer allmählich vergaßen, und die würdige Dame wieder neugekräftigt und mit fliegenden Fahnen in ihre alte Position einrücken konnte. Ja, so'n Finkenschlag und so ein großer Guckkastenmeister! – und was das Beste noch war: Frau Hartjes ging in sich, exerzierte nicht mehr so intensiv auf klerikalen Übungsplätzen herum, überließ das Fangen von ultramontanen Fliegen und Grillen anderen Leuten und hatte im Laufe der Tage und in wahrhafter Selbsterkenntnis eine innige und aufrichtige Freundschaft mit der alten Baronin, der Tanzmamsell und Bettje Theißen geschlossen. In uneigennütziger Weise verstand sie es, alte Mißhelligkeiten und Kränkungen ungeschehen zu machen, Liebe zu geben und dafür offene Herzen in Empfang zu nehmen, eine Wandlung in den bestehenden Verhältnissen, die vornehmlich die dicke Therese absolut nicht zu begreifen vermochte. Sie war rein wie vor den Kopf geschlagen, erklärte Frau Hartjes für eine Fahnenflüchtige aus dem Tempel des Herrn, verharrte selber auf ihrem unversöhnlichen Standpunkt und blieb trotz aller Gegenbeweise und Erklärungen dabei, daß zwischen dem Rektor und der Tanzmamsell doch so eine Art von ›Techtelmechtel‹ bestände und die Kegelbahn aufs frische eingeweiht werden müsse, bevor ihr Vikarius sich entschließen könne, wieder auf ein und derselben Bahn ›alle Neune‹ zu schieben. Und als dann eines Tages Doktor Horré zur alten Baronin gerufen wurde, Koffer und Kasten, die bereits reisefertig standen, wieder ausgepackt wurden, Pauline von Satzenhofen erklärte, wegen plötzlicher Erkrankung ihrer Mutter nicht abfahren zu können, als die Leute die Köpfe zusammensteckten und von einer Art ›Überfahrung‹ und einer linksseitigen Lähmung erzählten, Bettje Theißen zudem noch mit verweinten Augen herumlief – da schossen der dicken Therese ihre Vermutungsspargel armsdick aus der Rabatte heraus, daß sie sie nur zu stechen brauchte und mit einer delikaten Eiersauce unter die Leute zu verteilen hatte. Sie brachte denn auch ihre Spargel gewissenhaft an den Mann, indem sie glaubenskräftig drauf los schwadronierte und zu verstehen gab, daß der große Herrgott noch lebe und sich nicht an seinen himmlischen Wagen karren ließ, wenn es darauf ankäme, Vergeltung zu üben. »Denn an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!« mit diesen Worten begann sie jedesmal ihre gepfefferte Auseinandersetzung, »und weil der weibliche Edelmannsbaum nur ein schlechtes Früchtchen hervorgebracht hat, das immer man auf die Kegelbahn kullern wollte, so hat unser lieber Herr Jesus Christus die Axt an den Baum gelegt, um ihn nieder zu hauen. Und wenn's auch noch so'n bißchen dauert – das ist ganz partie egal: abgehackt wird er,« und damit beschloß sie ihre fettigen Kassandrarufe, um sie an zweiter, dritter und vierter Stelle mit derselben Unverfrorenheit zu wiederholen.

Freilich, die Axt war an den Baum gelegt, aber unser lieber Herrgott übte Barmherzigkeit und schlug noch nicht zu. Er wollte das Erwachen der Erde nicht stören, er wollte die zarten Frühlingskinder durch den mißfarbigen Ton der Sterbeglocke nicht unnötigerweise erschrecken. Er sandte vielmehr Bettje Theißen tagtäglich in die nahegelegenen Wiesen und sagte zu ihr: »Bettje, hier stehen so viel Himmelsschlüssel kraus durcheinander; die darfst du pflücken und der alten Baronin ins Haus tragen, und wenn du es tust, dann grüße sie vielmals von mir; ich meine es gut mit der alten Baronin.« Und Bettje tat, wie ihr geheißen war, und stellte tagtäglich ein Wasserglas mit frischen Primeln neben die Kranke ans Fenster ... Ach, Gott! – und die liebe Einwohnerin ...! – Sie war doch vor wenig Wochen noch so munter gewesen, hatte so pläsierlich gepfiffen und sich so sehr gefreut über den Schlußball, über die Versöhnung mit Frau Hartjes und den Triumph ihrer einzigen Tochter ...! – Das allerdings – dann aber war's so mit einem Male gekommen. Wie gesagt: die Koffer standen schon gepackt, Herr Severin Piepmann hatte bereits die Postbilletts abgestempelt, und alle Bekannte waren schon im Begriff, von den beiden Damen, die weiter rheinaufwärts ihr Glück versuchen wollten, rührenden Abschied zu nehmen – als plötzlich die Alte mit beiden Händen in die Luft griff und dann nach Hause gebracht werden mußte. Und Doktor Horré kam; er schüttelte zwar den Kopf, sprach aber doch von einer besseren Zukunft und vertröstete die Tanzmamsell und Bettje Theißen auf die schöne Zeit, wo die Schwalben wiederkommen würden.

»Ja – wenn die Schwalben kommen ...!« lächelte Bettje, mußte sich aber abwenden, um nicht zu zeigen, wie ihr ums Herz war.

Und nun saß die Heimgesuchte im Lehnstuhl bei ihren Himmelsschlüsselchen und sah zum Fenster hinaus, wo in den Vorgärten die Stachelbeersträucher schon grüne Spitzen bekamen und die Osterblumen ganz sachte das feuchte Erdreich durchstießen. Und dann sagte sie ganz leise und freundlich: »Bettje, Pauline – so möchte ich das immer haben, denn ich liebe die Bäume und die Sträucher und den Himmel, besonders, wenn so Ahnungen kommen, die vom Frühjahr und einem besseren Leben erzählen.«

Die arme Tanzmamsell nickte dazu, stand aber mit ihren honigfarbenen Löckchen hinter dem Lehnstuhl und weinte. –

Unter Schneeglöckchengeläut hatte das schöne Frühjahr auch seinen Einzug in den kleinen Pastorengarten gehalten. Der Krokus blühte, die Veilchen schlugen ihre blauen Augen auf, und der Dechant Doktor Steinberger hatte die Fenster sperrangelweit geöffnet, damit die herzerquickende Frühlingsoffenbarung des ewigen Gottes auch sein Studierzimmer berühren möge, wo das schlichte Tafelklavier stand und der Heiland liebevoll aus dem Rahmen zu treten schien, um alles und jedes in der friedlichen Stube zu segnen. Die politisch-religiösen Wirren drangen nur selten in dieses Zimmer hinein. Doktor Steinberger vermied es, hier über derartige Dinge zu sprechen, wie er es überhaupt vermied, den Kulturkampf und alles, was mit ihm zusammenhing, in irgendeine Debatte zu ziehen, und vornehmlich jetzt, wo stündlich ein Gesetz perfekt werden konnte, das, wenn es auch mit möglichster Strenge gegen die Unduldsamkeit der renitenten Geistlichen zu Felde zog, doch berufen schien, Wandel in die unleidlichen Wirren und Miseren zu tragen. So hoffte wenigstens der Dechant, so hofften viele, die es gut mit sich, dem religiösen Frieden und dem Vaterlande meinten – allein die Zeit sollte bald lehren, daß ihr Hoffen und Wünschen eitel und nichtig gewesen; denn wie bei einem fernstehenden Gewitter begann es bereits leise, aber unheimlich in den Donnerwolken zu zwinkern, die immer bedrohlicher den tiefen Himmel bedeckten. –

Heute am 23. April war ein besonders schöner Tag. Die Buchfinken schlugen ... Es ging auf Mittagszeit. Die vive Haushälterin im Pastorat wies jeden Besuch, der vorsprach, in höflicher, aber bestimmter Weise ab. Ihr Dechant hatte zu arbeiten, war sehr beschäftigt und saß schon seit zwei Stunden in einer Konferenz, die nichts geringeres vorhatte, als den baufälligen Turmhelm von Sankt Nikolai abtragen und durch einen neuen ersetzen zu lassen. Außer Doktor Steinberger befanden sich noch Johannes Wesselink und der Kirchenrendant in der behaglichen Stube. Letzterer, ein silberhaariges Männchen, kramte ängstlich in diversen Papieren herum, klappte schließlich das Kassabuch zu und meinte dann, indem er mit seinen braunen Äugelchen über eine große Hornbrille vigilierte: »So, meine Herren, das wäre wohl alles!«

Der Dechant stand auf; mit ihm hatten sich auch die beiden andern erhoben.

»Ich danke Ihnen,« sagte Doktor Steinberger, wobei er in verbindlichster Weise dem jungen Zimmermeister die Hand reichte. »Sie überzeugen nicht unschwer, und wie ich aus Ihrem Vortrag entnehmen muß, scheinen Sie eine gewisse Vorliebe für das zweite Projekt zu haben und ihm den Vorzug zu geben?«

»Unbedingt,« sagte Johannes. »Wenn auch unzählige Beispiele dargetan haben, daß die alte Konstruktion mit dem durchgehenden Kaiserstil eine durchaus gesicherte ist, die Jahrhunderte zu überdauern vermag, so sprechen für das zweite System doch so viele, nicht von der Hand zu weisende Gründe, die mich veranlassen, Ihnen, Hochwürden, diesen Entwurf dringlich ans Herz zu legen; denn abgesehen von geringerem Holzverbrauch wird durch die Anwendung von Andreaskreuzen ein freier Raum innerhalb der einzelnen Geschosse verbürgt, die Stabilität gewinnt, und die ganze Helmanlage kann sich freier entfalten und sich vornehmer und gefälliger dem unteren Turmbau akkommodieren. Mit anderen Worten, Hochwürden: Schönheit und praktische Vorzüge reichen sich die Hand, ergänzen sich und sind geeignet, das Harmonische unseres Gotteshauses noch mehr vor Augen zu führen.«

»Das leuchtet mir ein,« sagte der Dechant. »Ich werde bei der nächsten Kirchenratssitzung in diesem Sinne vorstellig werden. Und was nun die Kosten anbetrifft ...«

Mit einem feinen Lächeln sah er das weißhaarige Männchen an, das sich zappelig in den Hüften wiegte und das abgegriffne Kassabuch umschichtig unter die linke und rechte Achselhöhle praktizierte.

»Nichts einzuwenden, Hochwürden.«

»Schön,« meinte der Dechant. »Und nun, Wesselink, hoffe ich mit Gott, daß Sie in vierzehn Tagen an die Arbeit gehen können. Es wird Ihnen gut tun, denn ich weiß: Sie haben manches erduldet und viele Mißgunst über sich ergehen lassen müssen. Der böse Säemann war bei der Arbeit. Glauben Sie mir: so viel ich auch persönlich gejätet und gerodet habe – ich konnte des Unkrauts nicht Herr werden und vermochte nicht das Gehässige von Ihrer Schwelle zu scheuchen, das Einfalt und böswillige Absicht dort niedergelegt hatten. Vertrösten wir uns aber auf die kommenden Tage. Der Frühling steht vor der Tür. Auch vergrämte und verbitterte Menschenherzen werden sich auftun und ihm Einlaß gewähren. Wesselink – Frühling und Auferstehungsglocken ...! Glauben wir an sie, hoffen wir auf sie!«

Johannes stand hoch aufgerichtet, aber eine tiefe Erregung war in ihm.

»Ja, Herr Dechant,« sagte er mit gepreßter Stimme, »Frühling und Auferstehungsglocken ...! – und ich hoffe, in der mir aufgetragenen Arbeit Erlösung und Vergessen zu finden. Ich habe diese Stunde herbeigesehnt, mit ganzem Herzen herbeigesehnt, um mich Ihnen gegenüber einmal aussprechen zu dürfen; denn hier sitzt das und würgt das – und manchmal ist mir zu Sinn, als wenn ich Schluß machen sollte, als wenn ich meine Lammsgeduld von mir werfen müßte, um nichtswürdiger Heimlichkeit und Niedertracht an die Gurgel zu fahren ...«

»Wesselink,« sagte der Dechant mit leisem Vorwurf in der Stimme, »haben Sie Zeit, noch einige Minuten hier zu verbringen?«

»Ja, Hochwürden,« meinte Johannes, »die habe ich.«

»Dann möchte ich Sie bitten, Herr Rendant ...«

Und wie er das sagte ...

Ein dumpfer, schwerer, langanhaltender Ton hatte die letzten Worte verschlungen. Dem ersten folgten weitere Töne, traurig, beklemmend, ans Herz gehend – und dann ging ein melancholisches Geläut mit wuchtigen Schlägen über die Stadt hin.

»Wer hieß die Sterbeglocke läuten?« erstaunte sich Doktor Steinberger. »So viel mir bekannt ist ...«

»Niemand ist gestorben,« sagte Johannes.

»Dann hat eine unbefugte Hand ...« erregte sich Doktor Steinberger. »Herr Rendant, würden Sie wohl die Freundlichkeit haben, den Küster nach hier zitieren zu wollen?«

»Gerne, Hochwürden,« sagte das zappelige Männchen, drückte das Kassabuch fester an sich und verließ unter einer unbeholfenen Verbeugung das Zimmer.

Die Sterbeglocke aber läutete weiter, hielt die vorgeschriebenen Pausen inne, um alsbald mit erneuter Wucht ihre traurige Stimme ertönen zu lassen.

Der Dechant schüttelte unwillig den Kopf, trat näher und verfiel wieder in seine alte Gewohnheit, in die er immer verfiel, wenn er sich mit ernsten Gedanken beschäftigte. Mit stiller Grazie stellte er die Fingerspitzen seiner durchgeistigten Hände derart zusammen, daß sie sich fast senkrecht berührten und sprach dann: »Mein lieber Meister, wir sind allein und stehen uns Aug' um Auge und Stirn um Stirn gegenüber. Was Sie mir zu sagen haben, was Sie bedrängt und wie Ihnen ums Herz ist ... sprechen Sie ruhig; Ihre Worte finden keinen Unwürdigen und fallen nicht auf steinichtes Erdreich. Sie brauchen Rat, Sie brauchen Tröstung, Wesselink – und was in meinen Kräften steht ...«

»Ja,« sagte Johannes und tat einen Atemzug so recht aus tiefster Seele heraus, »ja, Hochwürden, die habe ich nötig. Seien Sie überzeugt, ich gebe meinem Gott, was meinem Gott gehört, ich sehe die Gebote des Herrn mit Kinderaugen an und befolge sie mit reinem Kinderherzen, gerade so, wie es mir meine selige Mutter eingeimpft hat, und glaube auf diese Weise meinem Herrn und der Kirche zu geben, was ich ihnen von Kindheit an schuldig gewesen.«

»Das weiß ich,« nickte Doktor Steinberger und rückte ein wenig an seiner goldenen Brille.

»Aber, Hochwürden,« fuhr Johannes mit gehobener Stimme fort, »ich gehöre nicht zu denen, die unter dem Schutze des Kreuzes die Massen betören, die die Religion als Vorwand nehmen, selbstsüchtige oder politische Sonderzwecke zu fördern, das wahre Heil jenseits der Berge zu suchen, wo wir doch hier auf der heimischen Erde, im geeinten Vaterlande alles finden könnten und hätten, wenn die Menschen nur wollten. Und weil ich nicht so bin, weil ich nicht heucheln kann und sprechen muß, wie mir ums Herz ist ...«

Mit beiden Händen hatte er die Rechte des Dechanten ergriffen.

»Hochwürden, deshalb stehe ich hier wie ein Ausgestoßener vor Ihnen – begegnen mir höhnische Blicke – haßt mich das Kirchspiel – wird alles in meinem eigenen Hause auseinander gerissen ... Und wie ich auch arbeiten und sorgen mag: es hat sich etwas unter mein Dach geschlichen, in mein Herz geschlichen, das immer größer und größer wird und willens scheint, den Fuß brutal auf den Nacken meines Glückes zu setzen.«

Er rang nach Atem.

»Aber, Wesselink ...!«

»Ja, Hochwürden, so ist es ... Und für das eigene Glück und hier für das Land, das wir doch lieben, für das wir doch die Arme gen Himmel strecken, für das wir doch unsere Seele erheben und beten – sorgen müssen wir uns, denn ein schlimmes Fieber geht hindurch, das alle Freudigkeit kaput macht und das Leben vergiftet, gerade so, als wäre über ein Roggenfeld das Sankt Antoniusfeuer gegangen. Und warum das alles, Hochwürden?! – Etwa der Religion wegen? – Zum Lachen, zum Erbarmen, Hochwürden! – denn alle, die das behaupten, sind vom wahrhaften Glauben so weit entfernt, wie wir von den Sternen. Herrschgelüste, Neidhammelei, Römlinge, Finsterlinge ... sonst nichts! – aber kein Sehnen, kein Suchen, kein ehrliches Finden ...! – Und wenn das so weiter geht ...«

Er rang verzweifelt die Hände ineinander.

»Wesselink, denken Sie an mich ...«

»Das tu' ich, Hochwürden. Ich weiß wie Sie denken, wie Sie kämpfen und wie Ihnen ums Herz ist. Sie sind einer der wenigen, die gerne anders möchten, die vor den Altar treten und dort rufen möchten: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes! – Reißt die trüben Lichter der Verdummung, der politischen Sonderinteressen, der religiösen Unduldsamkeit von den Leuchtern herunter und stellt dafür die hellen Lichter der Vernunft und der Vaterlandsliebe hin. Ihr Heuchler im Schafskleid, tragt nicht den Unfried in die Häuser hinein, erntet nicht, wo euch keine Ernte zusteht! – Ihr sollt Priester und Menschen sein, die Wahrheit und Nächstenliebe üben, denen es fern liegt, das geeinte Reich verkleinern zu wollen ...! – Ja, Hochwürden, so sprächen Sie, so würden Sie reden, aber Sie können nicht anders, denn auch Ihnen sind die Hände gebunden, Hochwürden.«

»Wesselink,« erstaunte sich der Dechant, »woher sind Ihnen nur diese Worte gekommen? – Sie sprechen ja ...«

»Wie ich es fühle, Hochwürden. Ich bin kein Studierter; aber ich bin nicht müßig gewesen. Ich habe das Meine gelernt und mich zu belehren gewußt und sehe jetzt mit klaren Augen ins Leben hinein; und wie ich so sehe, und wie ich so denke und sinne, da ist es mir so, als schlüge unsere heimische Erde die Blicke auf, Blicke mit heißen Tränen darin – als wenn das aus tiefster Seele riefe: Helft mir ...!«

»Wesselink ...!«

»Ja, so ist es, Hochwürden. Ich kann mich nicht anders machen, als ich bin, und nur das sagen, was ich empfinde. – Helft mir, helft mir, helft mir! – so möchte auch ich rufen, denn Gehässigkeit ist um mich, Bosheit verfolgt mich; mein Weib ist anders geworden ... Es ist mir, als wenn sie das Stückchen Erde, auf dem ich lebe und schaffe, fortreißen wollten – und wenn das so weiter geht ... Hochwürden, ich bin auch nur ein Mensch, aber dann kann's immer passieren ...«

Beide Fäuste streckte er von sich.

»An die Gurgel springen, das möcht' ich; allen an die Gurgel, Hochwürden ...!«

Seine Brust arbeitete, sein Atem ging schwer. Der ganze Mensch war nicht wieder zu kennen.

»Wesselink,« sagte Doktor Steinberger und legte ihm die Hände sacht auf die Schulter, »denken Sie an den, der für uns am Kreuze gestorben ist.«

»Und der da sprach,« sagte Johannes mit dumpfer Betonung, »Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.«

Dabei sah er den Dechanten mit schmerzlichem Lächeln und großen Augen an.

»So ist es,« sagte der Geistliche mit ruhiger Stimme.

Johannes Wesselink fuhr sich mit der Hand über die Stirne, als wenn er dort etwas verwischen und auslöschen müßte, und sah dann durch das weitgeöffnete Fenster in den sonnigen Garten hinein, wo auf der sorgfältig gepflegten Rabatte die Schneeglöckchen blühten und das Frühjahr einläuteten, selig, friedlich, verheißend. Aber nur die konnten es hören, die anders empfanden, die inniger zu fühlen verstanden wie gewöhnliche Menschen.

Aber der Dechant und auch der vergrämte Mann hörten sie klingen, denn beide hatten ein feineres Gefühl und eine schönere Seele wie so viele, die immer mit heiligem Augenverdrehen den lieben Herrgott im Munde spazieren führen, als wäre er so wohlfeil wie Bucheckern zu haben, wenn ein gutes Mastjahr gewesen. Und bei diesem Frühlingsklingen überhörten sie selbst die schweren Klagen der Sterbeglocke, die noch immer tönte und unermüdlich von irgendeinem Unglück erzählte – und wie sie erzählte, da war die Haushälterin auf weichen Schuhen ins Zimmer getreten.

»Hochwürden, der Herr Vikar ...«

»Ich habe doch den Küster verlangt,« sagte Doktor Steinberger mit gerunzelter Stirne.

»Das wohl – aber der Herr Vikarius meinte, er könne die Sache besser erklären.«

»Dann lasse ich bitten.«

Gleich darauf war Joseph von Arimathia zu den beiden getreten. Mit einer sehr korrekten Verbeugung grüßte er seinen Vorgesetzten, dann aber glitten seine Augen über Johannes Wesselink, als wenn sie fragen wollten: »Was willst du denn hier?«

Doktor Steinberger stellte wieder seine weißen Fingerspitzen zusammen, aber er stellte sie anders zusammen wie eben; es geschah in einer eigentümlichen Hast und mit einer nervösen Erregung.

»Herr Vikar, was bedeutet das Läuten?«

»Es ist die Sterbeglocke, Hochwürden.«

»Das höre ich; ich bin lange genug in meiner Parochie, um das beurteilen zu können – und möchte nur wissen, wer sich erdreistet hat, hier eine eigenmächtige Order zu geben?«

»Ich,« sagte Joseph von Arimathia, riß die beschnallten Schuhe zusammen und warf den Kopf ins Genick.

»Sie ...?!«

»Ja.«

»Das ist ein seltsam Verfahren! – und Ihre Gründe hierfür?«

»Hochwürden, soeben ist ein schmachvolles Gesetz publik geworden, ein Regierungsakt, der die Grundfesten unserer Kirche erschüttert.«

»Was für ein Gesetz, was für ein Regierungsakt ...?«

»Die Einstellung der staatlichen Leistungen an die katholische Kirche. Das Sperrgesetz wurde genehmigt, eine Zwangsmaßregel wurde von glaubensschänderischen Händen ...«

»Und da haben Sie es gewagt ...?«

»Ja, Hochwürden, ich hab' es gewagt und ließ die Sterbeglocke läuten, weil das Höchste, was wir besitzen, die Freiheit, auf der Bahre liegt, um begraben zu werden.«

»Und daher,« rief der Dechant mit spöttischem Lächeln, »machten Sie in Ihrer gläubigen Einfalt die Glocke rebellisch?!«

»Was?!« ereiferte sich Joseph von Arimathia. »Nicht aus Einfalt, Hochwürden – aber aus Schmerz, aus Grimm, aus Entsetzen ...! – De profundis clamavi ad te, Domine ...!«

Beide Hände streckte er dabei, wie um Erbarmen flehend, zur Decke.

»Bekümmern Sie sich um Dinge, die Ihres Amtes sind und nicht um solche, die nicht zu Ihrem Wirkungskreise gehören. Ich sage nochmals: Sie handeln in kindlicher Einfalt, und ich gebiete Ihnen, in sofortiger Stunde die Glocke zum Schweigen zu bringen.«

»Wo unserer Kirche Gewalt angetan wird, wo der Staat sein Kulturkampf-System jetzt auf der Basis materieller Gewalt aufbaut ...?! – Herr Dechant, da will ich, da muß ich ...!«

Seine Augen schienen aus den Höhlen springen zu wollen.

»Sie haben nichts zu müssen und nichts zu wollen,« fiel ihm der Dechant ins Wort, »und was geschehen muß und soll, das, Herr Vikar, überlassen Sie, bitte, meinem Ermessen.«

»Nein, Hochwürden – ich weiß, Sie tun nichts in der Sache, und drum soll das tote Metall lebendig werden und läuten – läuten – läuten, um der Welt und allen Menschen zu verkünden ...«

»Schweigen Sie,« gebot Doktor Steinberger.

»Wo die Priester durch das Gesetz angehalten werden sollen,« ereiferte sich der Vikar, »entweder zu gehn oder, von Königs Gnaden angestellt, die Silberlinge des Staates zu fressen und sich dadurch in Widerspruch mit den Verordnungen unserer heiligen Kirche zu sehen – da sollte ich schweigen?!«

»Herr Vikar ...!« mahnte der Dechant.

»Das ist Revolution ...! – Das ist Frechheit, Anmaßung von seiten des Staates – und Sie, Hochwürden, sollten gleich mir dem giftigen Gewürm den Kopf zertreten ...«

Und wieder rang er die Hände, und wieder rief er von neuem: » De profundis clamavi ad te, Domine! – Herr, erbarme dich unser!«

»Und wenn Sie nicht wollen,« rief Doktor Steinberger mit stammendem Unmut, »so werde ich ...«

Er hatte die Klingel ergriffen und schellte.

Die Haushälterin kam.

»Gehen Sie unverzüglich zur Kirche,« gebot er, »und untersagen Sie augenblicklich in meinem Namen das unsinnige Läuten.«

Die Haushälterin ging unter allen Zeichen des Schreckens.

»Das ist ja eine Farce in optima forma,« wandte er sich zornig an den Vikar, »ein Possenspiel schlimmster Art – und Sie sollten sich schämen ...«

»Ich schäme mich nicht,« trat ihm Joseph von Arimathia entgegen, »wo ich mich eins weiß mit den Anschauungen Roms und seiner Vertreter. Wenn je, so hat nunmehr die Regierung bewiesen, daß sie in völliger Unkenntnis vor den idealen Mächten steht, welche Kirche und Klerus beherrschen – und verflucht sei die Hand, die die Silberlinge des Staates aufnimmt, und verflucht sei die Zunge, die die Korruption nicht verdammt! – Und wenn einer sich zu schämen hat ...«

»Was?!« rief Doktor Steinberger in höchster Erregung und war bebend näher getreten, »das sagen Sie mir ...?!«

Joseph von Arimathia zuckte zusammen. Er fühlte, er hatte das Maß des Erlaubten weit überschritten. Der Stiernacken beugte sich. Das Kinn war ihm bis auf die Soutane gesunken. Mit scheuer Handbewegung machte er das Zeichen des heiligen Kreuzes.

» Pater noster, qui es in coelis ...« sagte er mit verhaltenen Worten.

»Ja, beten Sie, beten Sie,« versetzte der Dechant. »Das wird Sie weiter bringen und wird höher gewertet im Himmel, als Unfrieden unter die Menschen zu tragen und Scheite in die Flammen zu werfen, die schon mehr wie bedrohlich zum Himmel emporschlagen. Dem Staat, was des Staates – und er wird wohl Gründe haben ... Darüber zu rechten, das ist nicht unseres Amtes, Herr Vikar. Aber mein ist das Amt, Sie zur Ordnung zu rufen und Ihnen zu sagen: So lange ich hier vor Ihnen stehe, meine Parochie verwese und als Dechant amtiere – so lange haben Sie unterwürfig zu sein, mir zu gehorchen und keine Handlungen vorzunehmen, wie die soeben durchlebten, denn sie sind eines Priesters nicht würdig.«

»Hochwürden ...!« knirschte Joseph von Arimathia.

Sein Nacken straffte sich wieder.

»Was wünschen Sie noch?«

»Ich muß Sie ersuchen ...«

»Ich bitte mir einen anderen Ton aus.«

»Nein und abermals nein!« schrie der Vikar und das mit einer Gebärde, als wollte er einen Faustschlag versetzen, »denn ich muß mir verbitten, daß Sie mich hier in Gegenwart eines Mannes rektifizieren, eines Mannes, der – sagen wir es gelinde – kein Umgang für Sie ist, der die Stirne gehabt hat, sich, auf ein vages, leichtfertiges Testament hin, ein Weib aus dem Kloster zu holen und sich nicht scheut, täglich, stündlich gegen unsere Interessen zu wüten ...«

»Mensch ...!« rief Johannes.

Er glaubte nicht recht gehört zu haben, aber unwillkürlich hatte er nach einer Stuhllehne gegriffen. Sein ganzer Jammer trat ihm wieder vor die Seele – und nun kam so ein Tonsurierter, um brutal in die schon halb vernarbte Wunde seines Elends zu fassen.

Begütigend war Doktor Steinberger an seine Seite getreten und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Hochwürden, hier kann ein Unglück passieren ...«

»Wesselink, behalten Sie Ruhe.«

»Wo der da ...! – Auseinandergerissen hat er mein häusliches Glück. Sorgen und häßliche Gedanken grinsen mich an. Ich verstehe mein Weib nicht mehr; ich verstehe nicht mehr, wo das alles hinaus soll ...! – Und nun kommt der noch gegangen ...«

Er ballte die Fäuste.

»Mensch!« fuhr er auf den Vikar ein, »dich schützen Tonsur und Soutane – sonst ...«

»Wesselink, Sie sollen Ruhe behalten.«

Der Dechant war zwischen die beiden Männer getreten.

»Ja, die will ich behalten, die will ich behalten ...« stöhnte Johannes und war rücklings getaumelt.

»Und Sie,« wandte sich Doktor Steinberger an den Vikar, »Sie begeben sich unverzüglich in Ihre Wohnung und warten. Das weitere wird sich finden.«

Joseph von Arimathia warf alles beiseite. Der stiernackige Mensch reckte sich auf.

Dem Dechanten schlug ein verbittertes Lachen entgegen.

»Finden ...?! – Ja, das wird sich finden. Hochwürden!«

Rücklings schritt er der Türe zu. Dort angekommen und die Hand gegen seinen Vorgesetzten erhoben, brach er in die Worte aus: »Alles wird sich finden, aber es wird sich anders finden, wie Sie es sich denken, Hochwürden. Noch gibt es ein Generalvikariat! – Fäulnis ist hier, Verrottung und Fäulnis! – und dem Generalvikar will ich erzählen, wie Sie Ihre Herde behüten. Seelen sind Ihnen anvertraut – und Sie verlassen die Seelen, die Schafe, die Lämmer wie ein Mietling, um mit dem Wolf, der da Staat heißt, Pakt und gemeinsame Sache zu machen!«

»Hinaus mit Ihnen ...!«

Doktor Steinberger zitterte bis ins tiefste Herz hinein.

»Ach, was!« schrie der Vikar. »Sie haben mir den Appell durch die Glocke verboten, aber Sie können mir nicht verbieten, die Menschen, die bedrängten Seelen zusammen zu rufen und ihnen zu sagen: Seht da euren Hirten!«

»Was schwatzen Sie, was reden Sie ...!«

Doktor Steinberger streckte die Hand aus; ein schmerzliches Stöhnen entrang sich seiner Brust.

»Ich weise Sie hinaus! – Hinaus mit Ihnen ...!«

»Sie ...?!« schrie der Vikar. »Ich gehe – ich gehe ... und wenn ich für die heilige Kirche zum Tod durch Marter hindurchschreiten müßte – Hochwürden, ich gehe. Aber Sie hören von mir. – Durch Martyrium zur Apotheose ...! – Das ist christkatholischer Grundsatz – per Dominum nostrum Jesum Christum, Amen

Eine lähmende Stille herrschte im Zimmer, als Joseph von Arimathia hinausgegangen war, die Tür sich hinter ihm schloß und Doktor Steinberger ans Fenster trat und in den erwachenden Garten hinaussah.

»Hoffnung und Frühlingssonne ...!« sagte er schließlich. »Der liebe Gott meint es gut mit allen, die mit ihm gehn. Er läßt die Veilchen duften, die Schneeglöckchen klingen und die Osterblumen auferstehn zur Freude der Menschen. Aber fanatische Anwandlungen, Intoleranz, verkehrte Ansichten, wenn auch in gutem Glauben gegeben, vernichten und verderben das alles. Es geht ein Drang, eine Hoffart durch die religiösen Anschauungen der Menschen, die uns immer mehr der Nächstenliebe, dem einzigen Gott und dem wahren Heile entfremden.«

Er wandte sich.

Große Tränen waren ihm in die Augen getreten.

Langsam schritt er auf Johannes Wesselink zu und sagte mit leiser Stimme: »Sie sehen, wie es um uns steht. – Sie, Wesselink, haben vieles zu leiden und viel zu erdulden – aber ich habe mehr zu leiden und mehr zu erdulden. Gott helfe uns beiden!«

Johannes hatte seine Hand ergriffen.

»So ist es, Hochwürden.«

Eine große Bewegung war in ihm.

Er vergaß sein eigenes Leid, seine Kränkungen, sein häusliches Elend.

»Gott tröste Sie, Hochwürden,« sagte er mit tränenerstickter Stimme.

Ein warmer Frühlingssonnenstrahl fiel ins Zimmer – und da verstummte die Glocke.


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