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VIII Hüben und drüben

Ende der Woche ließ die Kälte ihre steifen Ohren herabhängen. Sie war nicht mehr der scharfe Dorfspitz von früher, hatte das Beißen verlernt und sah stumpfen Blickes in die trüben Wolken hinein, die sich schwerfälligen Fluges über die niederrheinische Gegend fortschaukelten. Die alten Chausseebäume, die die Klever Landstraße begleiteten, hatten ihre feinen Rauhreifkristalle verloren, sahen aus, als seien sie aus dem Leihamt gekommen und griffen nun mit bettelleeren Zweigen in die schwere Luft hinein, als müßten sie sich etliche Wolkenfetzen herunterholen, um mit diesen zerrissenen Nebellappen ihre Blöße zu decken. Ein naßkalter Westwind verfing sich in dem kahlen Geäst und weckte jenes charakteristische Rauschen, das die große Einsamkeit, die sich ringsumher ausgetan hatte, noch einsamer und trostloser machte. Die grünen Spitzen des Winterroggens duckten sich unwirsch in die Ackerfurchen hinein. Der Geist des Unwirtlichen war ihnen zuwider, genau so zuwider wie dem alten Stäwe Rademaker, der die gelbe Postkutsche über Moyland und Kleve nach Elten dirigierte, um sie noch an demselben Tage wieder nach Hause zu bringen. Lässig hielt er die Zügel zwischen den verklammten Fingern, stemmte Kopf und Postillonshut gegen den Wind an und blies von Zeit zu Zeit kurze Rauchwölkchen aus dem linken Mundwinkel heraus, die, seitwärts gerissen, sich bald in Höhe des Chausseegrabens wieder zerteilten. Immer hüstelnder verfing sich die dicke Luft mit den stöhnenden Bäumen. Das Rauschen war stärker geworden.

»Lieber 'ne pudelfröhliche Kälte wie so was,« knurrte Stäwe in seine feuchte Schnurrbartbürste hinein und bekam die Zügel straffer zu fassen. »Mar dat batt niet; Liese, Hektor – man vöran!«

Die Pferde dampften; ihr kompakter Dunst nebelte den gelben Fleck ein, der hinter ihnen her rumpelte. Bald darauf war er gänzlich verschwunden; nur das Gepolter der Räder, die dumpf über die Unebenheiten des Bodens stuckerten, ließ sich noch in der Ferne vernehmen; dann war auch dieses verklungen. Von Stäwe Rademaker und seinem Gespann war nichts mehr übrig geblieben; die Landschaft lag wieder wie vorhin: mißfarben und von Wolkenschleiern bedeckt, die wie schwermütige Gedanken über sie fortzogen.

Miserabel war's in der niederrheinischen Gegend! – aber nicht dieses allein: der Geist des Unwirtlichen torkelte mit ranzigem Gesicht die Landstraße entlang, machte der kleinen Stadt einen Besuch und fand sich alsbald im Pastorat wieder, wo er sich in eine Ecke des Sofas hineinflegelte, die Beine übereinanderschlug und die Gemütlichkeit aus dem sonst so behaglichen Arbeitszimmer des Dechanten verscheuchte. Selbst der segnende Heiland, der, unter Glas und Rahmen gebracht, über dem Klavier hing, konnte seiner nicht Herr werden – er blieb, wo er war, regte und rührte sich nicht und war sichtlich bemüht, die zwischen den vier Wänden herrschende Spannung immer intensiver zu machen.

Doktor Steinberger hatte sich ans Fenster begeben. Mit gerunzelten Brauen sah er auf die Straße hinaus. Scharf umgrenzt lag die talergroße Tonsur zwischen den Haaren, die schon anfingen, ins Graue hinüberzuspielen. Ab und zu rückte er an der goldenen Brille; wie in Gedanken fuhr er sich über die Stirne.

So stand er lange.

Er war nicht allein in der Stube.

Als er sich wandte, schien der stille Friede, der sonst seinen Zügen anhaftete, von seinem Antlitz gewichen.

Er tat etliche Schritte über den bescheidenen Teppich, hielt aber die Augen auf dem Boden geheftet. Als er an den runden Tisch gekommen war, blieb er stehn und setzte die weißen Fingerspitzen der rechten Hand so auf die Fingerspitzen der linken, daß sie sich fast senkrecht berührten; dann hob er die Blicke.

»Herr Vikar, Sie scheinen also meine Ansichten nicht teilen zu wollen?« fragte er mit ruhigem Tonfall.

Keine Antwort erfolgte.

»Ich bin doch sonst immer verständlich gewesen,« sagte der Dechant mit sarkastischem Lächeln »will aber zu Ihrem Besten annehmen, daß Sie mit Ihren Gedanken abwesend waren und erlaube mir daher nochmals die Frage: sind unsere Ansichten konform, oder vertreten Sie eine andere Meinung?«

»Ehrlich gestanden,« versetzte Joseph von Arimathia, »ich habe mir ein anderes Urteil gebildet.«

»So ...!« sagte der Dechant. Nichts verriet, was in seinem Innern vorging. Er verharrte in seiner leidenschaftslosen Ruhe, die ihn fast niemals im Stich ließ; nur in die Fingerspitzen der durchgeistigten Hände schien ein nervöses Hasten gekommen; sie trennten sich in bestimmten Intervallen, um sich gleich darauf wieder in ihrer früheren senkrechten Berührung zu wissen. »Also ein anderes Urteil gebildet ...?!« meinte er leise, »ein Urteil, von dem ich annehmen muß, daß es gewillt ist, sich mit meiner Anschauungsweise in direkten Zwiespalt zu setzen.«

«Ja.«

»Das nenne ich brav und ehrlich gesprochen. Sie vertreten das Prinzip der offenen Tür, ein Standpunkt, der geeignet ist, baldige Klärung zu schaffen. Ich will daher gleiches mit gleichem vergelten und tue Ihnen zu wissen, daß ich Ihr Verhalten in fraglicher Angelegenheit nicht nur mißbillige, sondern mich auch genötigt sehe, es als einen Mißgriff allerschlimmster Art zu bezeichnen.«

»Hochwürden ...!«

Mit einer energischen Geste war Joseph von Arimathia in die Höhe gefahren.

»Herr Vikar,« meinte der Dechant mit gelassener Würde, »Sie werden mir das Zeugnis nicht versagen können, daß ich mich der äußersten Ruhe befleißige, und muß Sie daher gleichfalls und mit aller Bestimmtheit ersuchen, sich jeder äußeren Erregung enthalten zu wollen. Nur so mögen wir in amtlicher Weise verkehren. Ich verhehle ja nicht: Sie haben weltliche Anfechtungen durchlebt und sie glorreich bestanden. Das empfiehlt Sie und hat Sie allzeit empfohlen; allein Sie sind noch jung, und weil Sie noch jung sind – zu lebhaft, und aus dieser Lebhaftigkeit heraus haben sich allerlei Anschauungen und Marotten gebildet, die ich als die Beweggründe Ihrer unverantwortlichen Handlungsweise ansprechen möchte.«

»Ich habe nur im Interesse der Kirche gehandelt.«

»Das haben Sie nicht,« war die ruhige Antwort, »denn die ganze Art und Weise, wie Sie der leidigen Testamentsangelegenheit eine andere Wendung zu geben versuchten, wie Sie geneigt sind, lediglich aus diesem Grunde ein bestehendes Verlöbnis auseinander zu sprengen – das, Herr Vikar, mag Ihren jugendlichen Instinkten entsprechen und den grotesken Luftsprüngen Ihres Übereifers alle Ehre bereiten; mir aber ist es ein Dorn im Auge, denn Gott hat den Menschen mit Liebe geschaffen und ihm die freie Wahl des eigenen Willens, die persönliche Freiheit, gegeben. Er hat vor sich Leben und Tod; was er will, wird ihm gelassen werden – und ich spreche es als verderblich an, falls sich einer unterfängt, sei's, wer es sei, die persönliche Freiheit knebeln zu wollen. Und Sie, Herr Vikar ...«

»Ich wiederhole nochmals, Hochwürden,« entgegnete der Gemaßregelte mit harter Betonung, »ich habe lediglich im Interesse der Kirche gehandelt und bin nur willens gewesen, einem irregeführten Menschenherzen ...«

»Nein,« unterbrach ihn Doktor Steinberger in lebhafter Weise, »dieser aufgestellten Prämisse kann ich meine Sanktion nicht erteilen. Sie gedachten Weizen zu streuen, vergriffen sich aber in der Wahl des Saatkorns und bestreuten den Acker mit Unkraut. Die Satzung der Kirche verlangt keine Weltflucht, sie will und darf sich nicht mit Gütern bereichern, die dazu bestimmt sind, die Fundamente der bürgerlichen Gemeinschaft zu stärken. Die Satzung der Kirche, wie ich sie vertrete, will heiteren, gläubigen Gemütes dem Herrn dienen, sie kennt keine Nötigung, sie weiß nichts von gewaltsamer Trennung der Herzen und gebietet, daß sich die Menschen ihres Lebens freuen sollen, behaglichen Sinnes und in gläubiger Einfalt. Ihre unbedachten Maßnahmen aber bezwecken das Gegenteil und sind nur geeignet, den Gegnern der katholischen Kirche als gefährliche Waffen zu dienen. Vornehmlich in jetziger Zeit, wo die Gegensätze hart aufeinanderprallen, wo unliebsame Erörterungen zwischen Staat und dem heiligen Stuhle ...«

»Ich stehe unbedingt auf dem Standpunkt des heiligen Stuhles,« warf Joseph von Arimathia dazwischen, indem er Kopf und Stiernacken energisch zurückbog, »und verdamme alles und jedes, was die Staatsgewalt in dieser Hinsicht getan hat. Jene Auslassungen sind nur Eingebungen des Satans gewesen.«

»Eine Hypothese,« sagte der Dechant mit gerunzelter Stirne, »die ich Ihrer Jugend, Ihrem Stürmen und Drängen zugute halte, unter dem Gesichtswinkel aber betrachtet, daß Sie hier auf heimischer Erde, im geeinten deutschen Vaterlande das Amt eines Priesters bekleiden, lebhaft bedaure; denn Sie scheinen übersehen zu wollen, daß die Allmacht Gottes alle legitimen Regierungen, genau so wie unsere Kirche, in Schutz nimmt, in welcher Form sie auch begründet sein mögen, und wer sich gegen sie auflehnt, ist nicht nur ein Feind der menschlichen Gesellschaft, sondern auch ein Feind gegen sich selbst und ein Feind des ewigen Gottes, dessen Vorsehung das geeinte Reich auferstehen ließ in nie geahnter Herrlichkeit.«

»Bis ein Steinchen von der Höhe sich loslöst,« erwiderte der Vikar mit gekniffenen Lippen, »das den Fuß des Kolosses zerschmettert.«

»Das ist ja unerhört!« sagte der Dechant. Der sonst so überlegende und bedächtige Mann kam in eine gewisse Erregung. »Durch was und womit wollen Sie diese geradezu ungeheuerliche Behauptung verfechten und aufrecht erhalten?«

»Durch die Worte des heiligen Vaters selber, die er an seinem fünfundzwanzigjährigen Jubeltage gesprochen hat.«

»Das war anders gemeint, das haben Sie mißverstanden,« fiel der Dechant dazwischen. »Gott und sein Stellvertreter auf Erden können nichts anderes wollen, als daß man die Landesobrigkeit achte, liebe und ihren Gesetzen gehorche.«

»Allein sie gebieten auch,« konstatierte Joseph von Arimathia, »daß man die Wahrheit sage, den Irrtum bekämpfe und sich auflehne gegen die Anmaßung, welche die Fundamentseinrichtung der katholischen Kirche in Grund und Boden zu stampfen wagt. Wie?! – oder haben wir es jetzt nicht mit einer Verfolgung zu tun, die der gerechten Sache den Fuß ins Genick setzt, mit einer kontinuierlichen Hetze, den Germanismus über den Romanismus prävalieren zu lassen?«

»Wie es dem Deutschtum gebührt,« sagte der Dechant.

»Ansichtssache, Hochwürden,« bemerkte der Vikar, indem er seine Fingergelenke in ein lautes Knacken versetzte. »Alles stürmt gegen uns ein: Freigeister und enragierte Logenmänner, und was die politischen Parteien in diesem Kampfe anbetrifft, so bewahrheitet sich auch hier wieder die alte Erfahrung, daß Pilatus und Herodes Freunde werden, sobald es gilt, gegen Christus und seine Kirche zu streiten. Warum denn sonst der sogenannte Kulturkampf? – Warum denn sonst das angemaßte Recht, die Priesterseminarien unter staatliche Aufsicht zu stellen?«

»Weil der Staat daran interessiert ist, was für Leute aus ihnen hervorgehen.«

»Ansichtssache, Hochwürden. Warum denn ferner die rigorose Bestimmung, auch die Theologen ins Staatsexamen zu treiben? Wir sind doch keine Priester von Königs Gnaden, Hochwürden!«

»Um das Denkträge aus unserem Kreis zu verbannen,« war die sachliche Antwort, »oder sollen wir Theologen auf minderwertigerem Boden stehen als die Vertreter der anderen Fakultäten?«

Joseph von Arimathia zuckte die Schultern. »Ansichtssache, Hochwürden, und zwar schon deshalb, weil die kirchliche Behörde hierdurch das Heft aus der Hand gibt – und schließlich: wozu der kategorische Erlaß, sämtliche Pfarrer und Hilfspriester vor ihrer Anstellung der Begutachtung eines Oberpräsidenten zu unterwerfen? – eine Demütigung unserer Bischöfe in optima forma

»Weil wir nicht nur Diener der Kirche sind, sondern auch Diener des Staates, und letzterer daher beanspruchen kann, nur solche Geistliche um sich zu wissen, die seine Intentionen verstehen und deutsch fühlen mit Herz und Nieren und bis in die innersten Knochen.«

»Nein,« sagte der Vikar, »das sind die Prinzipien eines heidnischen Staates.«

»Ich muß mir energisch verbitten ...«

Doktor Steinberger war etliche Schritte näher getreten.

»Verzeihung, Hochwürden,« schlug Joseph von Arimathia einen sanfteren Ton an, »ich wollte nur sagen: wir können die Staatsgesetze unserer Kirche gegenüber nicht als die letzte Quelle alles Rechtes betrachten, ohne die Gottheit Christi und die Göttlichkeit seiner Lehren und Stiftung zu leugnen, ohne das Christentum selbst von der Willkür der Menschen abhängig zu machen. Und in diesem Sinne, Hochwürden ...«

»Schon gut,« sagte der Dechant, indem er die klaren Augen zu Boden schlug und die weißen Fingerspitzen der rechten wieder auf die der linken Hand stellte, »Sie verstehn mich nicht, Herr Vikar, oder wollen mich nicht verstehen. Verlassen wir daher dieses verfängliche Gebiet; es hat einen schlüpfrigen Boden. Wenn Sie aber älter, reifer geworden sind, wenn Sie Ihre Eigenschaft als Heißsporn beiseite gelegt und erkannt haben werden, wie viel Blut unserer Söhne auf französischer Erde verspritzte, wie viel heiße Tränen geflossen, wie viel verzweifelte Arme von Müttern und Bräuten sich jammernd gen Himmel streckten, um dem Vaterland wieder die ihm gebührende Stellung in der Weltgeschichte zu geben, wenn Sie selber toleranter geworden und es über sich bringen können, tolerante Gesinnungen walten zu lassen – dann, Herr Vikar, wird für uns beide die Zeit gekommen sein, wo wir in sachlicher Weise zu disputieren vermögen. Bis dahin aber ...«

Doktor Steinberger machte eine nicht mißzuverstehende Handbewegung.

»Bis dahin aber ...«

»Hochwürden ...« versuchte der Vikar, nochmals das Wort zu ergreifen.

»Nun?«

»Auch mein Freund Doktor Majunke, dem ich vom Seminar her manche Anregung verdanke ...«

»Bleiben Sie mir mit diesem Heiligen vom Leibe,« sagte der Dechant. »Wäre dieser geschwätzige Mann mit seinen gehässigen Angriffen und mit seinen geschichtlichen Falsifikaten nicht gewesen, es stände besser sowohl um den kirchlichen wie um den staatlichen Frieden. – Aber was soll das alles, Herr Vikar?! – Alle diese Auslassungen bringen den Kern der Sache, um die es sich handelt, nicht zutage. Die Gründe Ihrer Handlungsweise mögen von einer Art sein, von der sie nur immer sein mögen – solange ich hier als Dechant fungiere, so lange Sie mein Untergebener sind, haben Sie sich meinem Willen und meinen Verfügungen unterzuordnen. Haben Sie darauf etwas zu erwidern?«

»Nein – ich habe nichts zu erwidern.«

»Gut denn – so bestimme ich also: Lassen Sie jede Beeinflussung Ihrerseits unterwegs. Sorgen Sie für Aufrechterhaltung des Friedens, stellen Sie den status in quo wieder her, schonen Sie die heiligen Empfindungen Andersgesinnter, und bemühen Sie sich um die definitive Wiedervereinigung derjenigen Herzen, die Sie in Ihrem Übereifer zu trennen versuchten. Ich kann nicht anders: ich messe gleiches mit gleichem Maß, ich will die religiöse und politische Situation nicht noch verwickelter machen, ich will, nicht, daß der Keim der Fäulnis geweckt wird, ich will, daß Toleranz und Vaterlandsliebe geübt werde, ich will Frieden haben in meiner Parochie – Frieden und Eintracht, und seien Sie überzeugt, ich werde unablässig bestrebt sein, diese meine Ansicht als stete Richtschnur für mein Handeln aufrecht zu halten. Und Sie, Herr Vikar – geben Sie Gott, was Gottes und, wenn es Ihnen möglich ist, dem Kaiser, was des Kaisers. Und somit, Herr Vikar ...«

Doktor Steinberger machte eine leichte Bewegung.

Joseph von Arimathia verstand ihn.

«Gelobt sei Jesus Christus!«

«In Ewigkeit – Amen.«

In demütiger Haltung, aber innerlich nicht niedergeworfen, verließ der junge Kleriker das Zimmer, und als er hinausging, erhob sich auch der Geist des Mißmuts im Sofa, verzog sein grämliches Gesicht zu einem süßlichen Lächeln, griff nach der Türklinke und ging, nachdem er nochmals fragend über die Schulter geblickt hatte, gleichfalls ins Freie.

Als sich der Dechant nunmehr allein wußte, war auch wieder so ein stiller, seliger und behaglicher Friede an seine Seite getreten. Und dieser Friede fältete die Gardinen sacht auseinander und winkte der verschleierten Sonne zu, daß sie sich auftat und mit einem verklärten Licht in die Stube hineinspielte; hierauf präsentierte er dem insichgekehrten Manne Zigarren und Feuerzeug – und als dann so ein feines, gekräuseltes Rauchwölkchen zur Decke emporstieg, als der Sonnenstrahl weiterrückte und den segnenden Heiland liebevoll umglänzte, da setzte sich Doktor Steinberger ans Klavier und variierte in stiller Verzückung ein Thema aus Händels Messias.

Gesenkten Hauptes hatte Joseph Sauerbier die Schwelle verlassen. Er wußte nicht mehr, was mit ihm geschehn war, was um ihn vorging. Mechanisch holte er sein blaubedrucktes Sacktuch aus der Tasche hervor und betupfte sich damit Stirne und Schläfen. Er war wie betäubt, wie von Sinnen.

»Was war das soeben?!« sagte er alsdann wie aus allen Wolken gefallen. »Aber was auch kommen mag: Herr, du mein Gott, ich bringe dir diesen Kelch der Bitternis dar – dir, der du weißt, daß mir jeder selbstsüchtige und unlautere Gedanke fernliegt,« und mit dieser Selbsttröstung ging er zu Pitt Hoffmann und von hier zu Frau Hartjes und dann in die Felder hinaus, um wieder Herr seines eigenen Ichs und seiner Gedanken zu werden. Er befand sich wie in einem Fiebertraum. Wirre Bilder gaukelten an seinem gemarterten Denken vorüber. Er überhörte die Mittagsglocke und vergaß die Mahlzeit. Unwillkürlich schlug er den vereinsamten Weg über den Paternosterdamm ein, der die kleine Stadt im großen Bogen umzirkte. Nur ein matter Schimmer des wieder eingedunkelten Tages lag auf Ackerfurchen und Wiesen. Schmutziggraue Wolken überflogen die Landschaft.

»Pater noster, qui es in coelis ...« sagte Joseph von Arimathia.

Mit gebeugtem Rücken, wie unter der Last einer unsichtbaren Bürde, schritt sein dunkler Schatten über den Deich fort.

Er hörte das Sausen der kahlen Pappeln, die in der Niederung standen. Der Wind wurde immer stärker und stärker und blies die Soutane des grübelnden Mannes über den Weg fort. Er vernahm die Stimmen, die die Einsamkeit hervorbrachte, und wähnte in ihnen die Sprache Gottes zu hören.

Da hielt er den Fuß an. Sein Kleinmut ging unter, und sein Nacken straffte sich wieder. Er streckte beide Arme gen Himmel. Mit suchendem Blick stierten seine Augen nach oben.

»Das ist also unser Ideal,« rief er mit heiserer Stimme, »die Liebe – die Opferfreudigkeit – der Kampf gegen Frechheit und Anmaßung, um der bedrängten Kirche zu helfen ...?! – Lachhaft, rein lachhaft! – Roma locuta, causa finita ...!«

Die Arme sanken ihm an der Soutane herunter, nur der mächtige Nacken blieb so straff gerichtet wie vorhin.

» Roma locuta ...! – aber nicht für mich; ich folge nicht der Weisung eines minderwertigen Priesters. Eitel Geschwätz – leeres Gerede ...!«

Er sah sich scheu um, ob ihn jemand gehört haben könnte. Aber niemand war da; nur die Einsamkeit lag vor ihm mit ihren leeren, glotzigen Augen, und die Pappeln stakelten mit ihren nackten Armen durch die Luft und sprachen mit dumpfem Sausen herüber.

Niemand war da, und Joseph vom Arimathia fühlte sich sicher.

»Nur ein leeres Geschwätz!« rief er wieder, »und damit will man unsere Kindheit füttern, die Armen im Geiste aufrichten und die Zungen der Durstigen kühlen?!

– Überall Kopflosigkeit und der wilde Drang, sich als Apostat und Speichellecker des Staates zu fühlen! – Die Dohlen schreien's vom Kirchturm herunter, die Kinder stammeln's im Traume: Herr, deine Langmut währt ewig! – Fort damit! – ich will kein Apostat sein und kein Speichellecker des Staates! – Das mögen andere besorgen! – Roma locuta, causa, finita ...! – aber für mich nicht, für die hiesige Kirchengemeinde auch nicht, und wenn es sein muß: ich nehme den Leib des Herrn vom Kalvarienberge herunter, richte ihn auf und schreie dem Volk zu: Tut Buße, und laßt die arme Seele nicht knechten! – Und wenn mich dafür die weltliche Macht anpackt und niederwirft ... Ist Jesus nicht ans Kreuz geschlagen? – Hat er geklagt? – Hat die triumphierende Kirche nicht allzeit gelitten? – Gut – auch ich verstehe zu leiden.«

Er sprach nicht weiter.

Mächtig wuchs die athletische Gestalt in den trüben Himmel hinein. Der Vikar hatte das Gleichgewicht der Seele wiedergefunden. Mit großen Schritten ging er über den Deich fort – stundenlang und immer weiter und weiter. Sein Körper ermüdete nicht, er verlangte nicht nach Speise und Trank – sein Denken war zuversichtlich und heiter geworden.

Links von ihm lag die weite Niederung mit ihren Weiden und geworfenen Ackerschollen, rechts die kleine Stadt. Diese umkreiste er in seiner schwarzen Soutane, als müsse er eine undurchdringliche Hegung um sie herumziehen.

Drei Stunden war er gegangen. Die alten Pappelbäume sausten noch immer. Eine Schneebö ging nieder. Regen und Graupelkörner waren dazwischen. Da trat er den Heimweg an. Als er sich wandte, war es bereits halbwegs dunkel geworden, und die Sonne stand als große, dunstige Scheibe am niedrigen Himmel. –

Inzwischen, also während der Zeit, wo sich Joseph von Arimathia damit abgemüht hatte, seinen Unmut niederzukämpfen und die kleine Stadt auf dem Paternosterdeich zu umkreisen, saß die Tanzmamsell in ihrer sehr bescheidenen Wohnung, beschäftigt, Georginen und Nelken aus Wachs zu bossieren – ein Nebenerwerb, den sie betrieb, um ihre Einnahmequellen etwas reichlicher fließen zu lassen. Fingerfertig ging ihr die gewohnte Arbeit von den zierlichen Händen, und ihre Löckchen nickten dabei, als müßten sie jedem eingesetzten Staubfaden, jedem gemodelten Blättchen noch ihre spezielle Begutachtung zuteil werden lassen. Es war ein vergnügliches Schaffen – nur die Gedanken der Künstlerin schienen nicht so recht bei der Arbeit. Öfters hob sie den Kopf, und dann gingen ihre Blicke in den grauen Tag hinein, und ihr Denken lief über den Zimmerplatz, wo der alte Nußbaum mit seinen Zweigen in der schweren Luft herumtastete, und von hier die breite Grabenstraße entlang. Sie machten schließlich vor einem weitläuftigen Gebäude Halt, das den Anschein hatte, als träte über seine Schwelle keine menschliche Seele in den hallenden Hausflur, als ginge über seine Schwelle niemand ins Freie, und die Fenster waren alle gleichmäßig mit weißen Schirtinggardinen verhangen. Über dem Portal aber standen die Worte geschrieben: Pax vobiscum.

Das Zimmer, in welchem die Tanzmamsell saß, war einfach gehalten. Blaue Tapeten, ein wurmstichiger Tisch von poliertem Kirschbaumholz, diverse wackelige Stühle, ein kränkliches Sofa, eine buntfarbige Schilderei der wundertätigen Muttergottes von Kevelaer – alles! – und wäre die vergoldete Konsole mit der Sevresporzellantasse nicht gewesen, man hätte das ganze Inventar für ärmlich ansprechen müssen, denn die Vermieterin war so wenig mit Glücksgütern gesegnet wie die Spatzen, die in ihrem geplusterten Wams trübselig da draußen in den vergrämelten Novembertag hineinschilpten. Nur die Zutaten der beiden adeligen Damen gaben dem Mobiliar einen feineren Anstrich. Tasse und vergoldete Rokokokonsole waren zudem noch, und zwar zum Schutz gegen die Zudringlichkeiten der impertinenten Fliegen, mit einem Musselinschleier bedeckt, der sich sehn lassen konnte. Hierzu kam noch ein mit braunem Rips überzogener Sessel, ebenfalls ein Erbstück aus glorreicher Vergangenheit, der vor Konsole und Sevrestasse gerückt, der alten Baronin als Sitzgelegenheit diente, wenn sie den unwiderstehlichen Drang in sich fühlte, mit sich allein zu sein, um in das mystische Dunkel und den wonnigen Familiennebel derer von Satzenhofen unterzutauchen. – Ach! – dann flimmerte das zarte Gold der freiherrlichen Krone geheimnisvoll aus dem Gazeschleier hervor, verkündete von verblichenem Glanz, von Livreen, Hundemeuten, Pikören und den sanften Tönen des Hifthorns, und dann wieder von dem melodischen Klang der Champagnergläser, wenn die Herren von Satzenhofen Tafel hielten und dem hungrigen Volk, das draußen ›Vivat‹ schrie, Goldstücke statt Kupfermünzen in die gierigen Hände warfen. Das alles erzählte die freiherrliche Krone unter dem Musselinschleier ... und jetzt?! – Alles vorüber ...!

Es war still in der ärmlichen Stube. Nur ab und zu gingen gedämpfte Schritte über der Tanzmamsell. Sie rührten von Bettje Theißen her, die die Gewohnheit hatte, nach dem Mittagessen spazierenderweise die verschiedenen Sätze des ›freudenreichen Rosenkranzes‹ zu beten – dann wieder ertönte das rhythmische Geklapper eines Bügeleisens aus dem Nebenzimmer herüber, das immer dünner wurde und schließlich gänzlich verstummte.

Und als es verstummte, ging die Tür auf, und die alte Baronin trat ein und stellte mit selbstgefälliger Miene ein eigentümliches Phantom vor sich hin. In ihrem Übereifer ließ sie die Türe geöffnet, so daß man die Schlafstube zu übersehen vermochte, deren Fenster auf die Grabenstraße gingen.

Und das Phantom aus spanischem Rohr stand mitten im Zimmer, und darüber war eine Krinoline gelegt und darüber wieder ein plissiertes Seidenkleid mit Ballausschnitt und gepluderten Ärmeln. Die Tanzmamsell hätte mit ihrem allerliebsten Figürchen nur hineinschlüpfen brauchen, um den duftigen Flittern erst das richtige, warme, pulsierende Leben zu geben. Die Alte aber ging in stiller Bewunderung um Krinoline und Seidenkleidchen herum, legte die Hände zusammen und meinte dann, zu ihrer Tochter gewendet: »Sieh mal, Pauline, nun ist doch noch alles fix und fertig geworden.«

»Ich danke dir, Mutter.«

»Eigentlich viel zu fein für 'ne simple Tanzstunde; aber man muß schon. Der Termin wird festgehalten, und übermorgen kannst du mit der ersten Stunde beginnen. Leider stehen nur Bürgerliche zu deiner Verfügung. Du wirst deine Schwierigkeit haben, du wirst in manchen sauren Apfel beißen müssen, denn wir Adligen haben doch 'ne ganz andere Turnüre wie so was.«

Dabei brachte sie eine Schnupftabaksdose zum Vorschein und warf sich ein Prischen in die spitzige Nase.

»Das macht nichts,« lächelte die Tanzmamsell und legte eine fertige Georgine beiseite. »Mutter, du weißt ja: als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann ...«

»Aber, Pauline! – unser alter Kulturzustand ...«

»Kulturzustand?!« fiel das allerliebste Persönchen dazwischen, »hm, hm! – und was das Alter anbetrifft ... Ja, Mutter, er ist wirklich veraltet.«

»Pauline, Contenance behalten!« ,

»Wirklich veraltet, Mamachen! – Andere Zeitläufte bedingen andere Gebräuche und Sitten. Was mache ich mit einer freiherrlichen Krone und dem sonstigen Plunder? Nicht angestammte Rechte und Vorurteile bedingen das Leben – der Mensch hat als solcher in die Erscheinung zu treten, und nur den kann ich als nobilitiert ansprechen, der adlig von Geist ist und vornehm ist bis in die innerste Seele, sonst keinen ... Aber nun sage mir mal, mit welcher Kopfzahl der bürgerlichen Elemente habe ich denn eigentlich zu rechnen? Du hast doch die Liste geführt.«

»Und wie!« sagte die Alte, indem sie noch immer bewundernd um Krinoline und Seidenkleidchen herumging. »Wenn ich den gestrichenen Julius und die Gratis-Tochter des Herrn Schandarmen in Abrechnung bringe, macht es dreizehn Paare zusammen, und bringe ich dann noch das Entree für den Schlußball in Anschlag, so kommen wir noch mit einem eisernen Bestand von achtzehn Taler zehn Groschen über den Winter herüber.«

»Und ist dabei die Miete für die Turnhalle berücksichtigt?«

»Ja.«

»Und die Ausgabe für Bohnerwachs?«

»Ja – und was die Musik anbetrifft ...«

»Nun?« fragte die Tanzmamsell.

»Für den Schlußball ist Sorge getragen,« meinte die Alte, »während ich mich für den eigentlichen Tanzkursus in selbstloser Weise entschlossen habe, und zwar der Ersparnisse wegen, die erforderliche Musik durch mein Pfeifen zu ersetzen. Fräulein Bettje Theißen ist außerdem so liebenswürdig gewesen, mir ihre tatkräftige Hilfe anzubieten. Sie schwärmt für uns und wird die gepfiffene Tanzmelodie durch ein Triangel sachgemäß unterstützen. Ach, mein Kind, ich tue ja alles, um unser Dasein in Ehren über Wasser zu halten!«

Gerührt griff die alte Baronin in ihren Pompadour und drückte sich ihr feines Taschentuch mit der eingestickten freiherrlichen Krone gegen die feucht gewordenen Augen.

»Aber, Mutter,« suchte sie Pauline zu trösten, »andere Leute haben noch schwerer zu tragen.«

»Wieso denn?« fragte die Alte.

»Mein Gott! – denke doch nur an das arme Geschöpf, dem sie mit aller Gewalt die Wurzeln des Glückes untergraben wollen – an den armen Menschen hier neben ... Es ist ja ein himmelschreiendes Unrecht! Am liebsten ginge ich auf und davon. Hier die Gegend bedrückt mich. Die Leute sind alle kalt und gefühllos. Durch fanatische Priester, durch beschränkte Seelen werden Menschendasein vernichtet. Überall diese starren Gesetze, dieses Knebeln unter dem Vorwand des Glaubens. Denke doch nur an den entsetzlichen Kaffee, an die frommen Gesichter, an das impertinente und doch so salbungsvolle Gerede, an dieses Augenverdrehen, an diese Lammsherzen, die keine Duldung ertragen – an alles ... Es will mir nicht aus dem Kopf ... Gegen meinen Willen verfolgt's mich... So aus aller Seligkeit herausgerissen zu werden ...! – und das alles durch die gläubige und plumpe Einfalt alberner Menschen. – Wenn ich mich doch nur aussprechen könnte, ihr gegenüber mich aussprechen könnte ...! – Es liegt da etwas verborgen, was ich fortnehmen möchte. Da liegen Tränen verborgen ...« und dann sprach sie leiser und mit einer hin und wieder versagenden Stimme: »Ich möchte so gerne diese Tränen hinwegnehmen; ich möchte so gerne ...«

»Was möchtest du?« fragte die Mutter.

»Zu ihr hingehn,« sagte die Tanzmamsell, indem sie wie verloren in den grauen Tag hinausblickte, als stände dort ein großes Leid vor der Schwelle und wüßte nicht, wo es seine Schritte hinwenden sollte, »denn weißt du, Mutter, ich fühle so recht: wir beide würden uns schon verstehn, und manches könnte sich noch anders gestalten.«

»Das wirst du nicht.«

»Wenn mich aber das Herz treibt ...!« sagte die Tanzmamsell. Ihre honigfarbigen Löckchen kamen in ein erregtes Vibrieren.

»Auch dann nicht,« entgegnete die Mutter. »Das würde unsere hiesige Position, die an und für sich schon schwierig genug ist, noch schwieriger machen. Überhaupt – man muß sich bei der hiesigen Bevölkerung ... Wer klopft da, Pauline? – Herein ...!«

»Wenn die Damen nichts dagegen haben ...« sagte eine demütige Stimme, und damit war auch schon Bettje Theißen so ganz unerwartet und in diskreter Weise ins Zimmer geglitten, blieb aber entgeistert stehn, als sie das Phantom mit der Krinoline und dem Seidenkleidchen bemerkte.

»Nein – diese Ballgarderobe!« machte sie endlich ihrem Herzen Luft, schlug die Hände zusammen und ließ ihre großen Maronenaugen leuchten. »Nein – diese Noblesse! – man sollte ja meinen, sich in einem adligen Boudoir zu befinden ...«

»Ist man auch, Fräulein Theißen,« bemerkte die alte Baronin.

»Nein – wie ich das liebe, meine hochverehrte Baronin!« rief Bettje aus und umschritt in respektvoller Entfernung das Objekt ihrer Bewunderung, indem sie abwechselnd ihre Hände trennte und dann wieder mit einem gelinden Klatschen vereinte. »Nein – diese Volants! – und diese plissierten Girlanden ...! – Man fühlt ja ordentlich darunter das Ideal einer zärtlichen Seele! – Ach! wie ich das liebe: diese Menge Einzelheiten, diese intimen Geheimnisse beim Ankleiden, Entkleiden, Frisieren. Das kribbelt einem ja ordentlich bis in die Fingerspitzen herunter. – Und Sie, Baronesse« – und dabei blieb sie mit glänzenden Blicken vor der Tanzmamsell stehen – »Sie haben ja so 'ne zarte Haut, und das paßt denn so gut zu der mattgrünen Kulör – und was Sie hier oben besitzen, das kommt durch den Ausschnitt noch besser zur Geltung – und Ihre prächtigen Beine...! – Nein – diese Beine...! – Das muß sich ja ausnehmend machen, wenn da die Volants...«

»Das tut's auch,« fiel die Alte dazwischen, »denn wenn meine Tochter die erste, zweite und dritte Position vordemonstriert ... Na, ich sage Ihnen, Fräulein Theißen ... Aber wollen Sie nicht Platz nehmen? – Es plaudert sich doch behaglicher in einem bequemen Fauteuil wie so stehenden Fußes.«

»Mit Wonne, meine sehr verehrte Baronin, obgleich ich eigentlich aus einem anderen Grunde ...«

»Und der wäre?« fragte die Alte.

»Ach, Gott – ja ...!« sagte Bettje, und ihre leidenschaftlichen Augen nahmen den Ausdruck großer, trauriger Güte an, »es soll ja in hiesiger Stadt etwas passiert sein ...«

»So?«

»Ja. – Der Küster hat es Pitt Hoffmann erzählt, Pitt Hoffmann seiner Frau, die Frau dem Gemüsemann, und der Gemüsemann ist soeben bei mir gewesen. – Nein, Baronesse – diese prächtigen Beine... ! – Wenn da die Plissees drüber fallen! – Und dann noch so'n bißchen Parföng ... Wissen Sie, Baronesse, das ist erst die richtige Sauce fürs Ganze.«

Mit spitzen Fingern und wie in stiller Verzückung fuhr sie alsdann liebkosend über das seidene Fähnchen.

»Aber, Fräulein Theißen,« drängelte die Alte, »Sie wollten doch eine Geschichte...«

»Ach, Gott – ja, meine sehr verehrte Baronin...! – Wo war ich doch nur? – wo bin ich doch nur soeben gewesen?!«

»Der Gemüsemann war bei Ihnen. Es soll ja in der Stadt etwas passiert sein.«

»Richtig,« bemerkte Bettje Theißen. »Denken Sie nur, meine sehr verehrte Baronin, der Dechant Steinberger hat den Herrn Vikarius zu sich beordert – und der Herr Vikarius ist zu ihm gegangen – und die Konferenz hat sehr lange gedauert – und allerhand Schicksalsschläge ... Ja, man behauptet sogar ... Aber nein, Baronesse – der Ausschnitt! – Das muß sich zu himmlisch machen, wenn da Ihr Nacken, der weiße Hals und das übrige drin sitzt...«

Und wiederum versenkte sie sich schweigend in die Mysterien des aufgebügelten Ballkleides, überwand sich aber und fragte: »Wie weit bin ich doch soeben gekommen?«

»Ja, man behauptet sogar...«

»Richtig – man behauptet sogar, daß sich das Ganze um Luise gedreht habe.«

»Um Luise...?«

»Ja – um Luise. Und darüber sind die beiden geistlichen Herren aneinander geraten – und der Herr Dechant hat seinen Standpunkt vertreten – und der Herr Vikar hat auch seinen Standpunkt vertreten ... Aber der Herr Dechant ist heller gewesen – und da ist Joseph von Arimathia übersinnig geworden und soll in seinem übersinnigen Zustand ... Aber nein, Baronesse – wenn man da mit so 'nem bißchen Parföng nachhelfen würde...! – Das lieben die Männer, besonders die Männer, die noch kein Rasiermesser brauchen ... Aber ich bitte um Verzeihung, meine sehr verehrte Baronin, wie war das soeben?«

»Und Joseph von Arimathia ist darüber übersinnig geworden und soll in seinem übersinnigen Zustand ...«

»Richtig – und nun rennt die dicke Therese von Pontius zu Pilatus, von Pitt Hoffmann zu Miekske, von Miekske zur Frau Paramentpräsidentin – und ich will mich nicht Bettje Theißen nennen, wenn sie nicht trotz unseres sehr kühlen und respektvollen Standpunktes ... Sehen Sie, wie ich recht habe, meine sehr verehrte Baronin ... Gerade über den Zimmermannsplatz ...! Die will was – die will zu mir auf die erste Etage ... Aber wenn Sie gestatten...?«

»Bitte.«

Und damit riß sie auch schon einen Fensterflügel auf und rief über den Platz fort: »Fräulein Therese, wenn Sie zu mir wollen ... Ich bin nicht auf der ersten Etage, sondern hier unten – und die Frau Baronin hat gütigst gestattet...«

»Ich komme,« sagte die Dicke, und es währte nicht lange, da war auch schon die asthmatische Person mit Muff, Hut und einem selbstgehäkelten Seelenwärmer ins Zimmer getreten.

»Guten Tag allerseits,« sagte Therese, indem sie die Beine spreizte, vermutlich um das Desolate ihrer ganzen Verfassung besser stützen zu können, »ich wollte eigentlich zu Ihnen, Fräulein Theißen, und nicht zu die evangelischen Edelmänners, aber es ist nun doch mal ganz partie egal, ob ich zu Ihnen oder zu die vornehmen Leute ... Aber nein, diese Robe! – da soll wohl die jüdische Ballmamsell vor Herodes drin tanzen...? – ganz partie egal, ob ich mir nach oben oder hier nach unten bemühe; denn er ist doch sonst immer gewohnt, an diesem Hause vorüber zu gehen, und da möchte ich fragen ... Denken Sie sich nur, meine Damens...«

Sie hielt einen Moment inne, um Atem schöpfen zu können.

»Was denn?« fragte die alte Baronin.

»Er ist nicht mal beim Mittagessen gewesen, und ich hatte doch Schöpsenkeule mit Wirsing!«

»Nicht möglich!« rief Bettje erstaunt aus.

»Ja – Schöpsenkeule mit Wirsing, natürlich ohne scharfe Gewürze, denn das ist nichts für geistliche Herren – und das mußte unbesehen wieder vom Tisch herunter. Es wird zwölf Uhr – er kommt nicht, es wird ein Uhr – er kommt nicht, es wird zwei Uhr – er kommt nicht, es wird drei Uhr... und dabei Schöpsenkeule mit Wirsing ...! – Und nun kann ich mich vor lauter Angst nicht mehr halten.«

»Da hatten Sie doch mal im Pastorat anfragen sollen,« sagte Bettje mit einem innigen Mitgefühl in ihren sammetweichen Maronenaugen.

»Hab' ich,« konstatierte die dicke Therese mit abgehackten Worten, »aber er war nicht mehr da, dann bei Pitt Hoffmann – auch nicht mehr da, dann bei der Frau Rektor – schon lange fort. Aber wohin? – Ja, das wüßte sie nicht. Und nun bin ich in der Hoffnung mit allen schlimmen Gedanken und glaube, daß mein guter Vikarius... Ach, dieses Elend, dieses himmelschreiende Elend!«

Verzweifelt rang sie die Hände.

»Mein Vikarius, mein guter Vikarius ...! – wenn dem was passiert wäre ...!«

»Wärmen Sie Ihre Schöpsenkeule nur wieder auf,« meinte die Tanzmamsell mit heimlichem Lächeln, »der ist nicht in den Himmel gefallen und kommt schon wieder.«

»So?!« meinte Therese von Arimathia mit feurigen Augen und machte dabei ein Gesicht, als müßte sie aus ihrem Hemd 'ne bissige Wanze 'rausfangen, »das glauben Sie? – Da könnten Sie schön daneben geglaubt haben.

– Sie haben kein Herz, Sie haben kein Garnichts, sonst würden Sie mir mit so 'ner Behauptung nicht kommen, denn Sie wissen noch nicht als evangelischer Edelmann, was ein christkatholischer Vikarius bedeutet – besonders der meine ... Aber das ist mir ganz partie egal, und das sage ich schon,« und dabei schlug sie sich mit ihren dicken, weichen Fingern auf ihren selbstgehäkelten Seelenwärmer, daß es man so knallte und klaschte, »beim Herrn Dechanten hat's angefangen. Er steht mit meinem Vikarius nicht auf demselbigen Standpunkt. Der Herr Dechant vertritt die liberalige Seite – aber mein Vikarius sagt immer: In religiösen Dingen kann uns kein Bismarck und kein König von Preußen befehlen, denn der liebe Gott steht über allen Berliner Gesetzen. Weil nu aber das Testament und die ganze Geschichte mit Luise 'ne religiöse Sache ist – darum sind sie aneinander gekommen, wie die Köchin gesagt hat. Mein Vikarius hat Oberwasser behalten, ist aber verärgert davongegangen und bis jetzt nicht wieder gekommen – und wenn das so weiter geht ...«

Die schlampige Person hatte durch ihren Muff hindurch das neben dem Ofen liegende Stocheisen ergriffen und stellte sich mit demselben dergestalt in Positur, als müsse sie gleichsam mit flammendem Schwert vor dem Paradies ihrer Überzeugung Schildwache halten.

»Und wenn das so vorangeht ...« räsonierte sie weiter, »ich mache den Herrn Dechanten für jedes Malör, was etwa meinem Vikarius passieren tun täte, verantwortlich. Alle stehn in dieser Sache direktemang hinter mir: ich selber, Karlo Antonio, Pitt Hoffmann, Miekske und die Frau Präsidentin – und dann wollen wir sehen, wer von den zwei beiden den längsten Faden herauskriegt. Indessen ich glaube, mein Vikarius wird den längsten schon ziehen, denn er ist ihm über in allem, besonders im richtigen ›Oho‹, und was gemacht werden kann, das macht er – und was er tun will, das tut er – und er hat mal gesagt: Luise kriegt den Wesselink nicht – drum kriegt sie ihn nicht, und er hat mal gesagt: Sie bleibt solange im Kloster, bis sie sich anders besonnen – und drum bleibt sie auch solange im Kloster bei Schwester Klarissa, ganz partie egal, ob Doktor Steinberger mit seiner liberaligen Meinung...«

»Wer behauptet das?!« war die Tanzmamsell entrüstet dazwischen gefahren.

»Ich,« konstatierte Therese, »weil mir das mein Vikarius gesagt hat – und er läßt sich eher die Zunge ausreißen, bevor er gestattet ...« »Das ist ja Gewissenszwang,« rief Pauline von Satzenhofen mit flammenden Augen, »das ist ja Freiheitsberaubung und eine ganz erbärmliche Knechtung der Seelen! – Und was Sie persönlich anbetrifft – Sie sollten sich schämen ...«

»Ach, was!« versetzte Therese und trat ihr energisch entgegen, »was verstehen Sie als Tanzmamsell mit die Beine und als evangelischer Edelmann vom christkatholischen Glauben?!«

»Soviel, um Sie für eine alberne Person zu taxieren, um Ihr Geschwätz hier lästig zu finden, um Ihnen zu sagen, daß ich dasjenige, was ich vorhatte, jetzt auch tun werde, um endlich die Stricke auseinander zu reißen, die Dummheit, Habgier und verkehrte Auffassung wahrer Nächstenliebe um die Willenskraft eines armen Mädchens gelegt haben – und wolle Gott, daß es noch nicht zu spät ist, daß es mir noch gelingen möge, eine glückliche Stunde zu finden.«

Mit tränengepreßter Stimme hatte sie die letzten Worte gerufen.

Bettje Theißen war vor Rührung sprachlos geworden.

»Was willst du tun?« fragte die Mutter.

»Was ich dir eben schon sagte. Tränen will ich hinwegnehmen,« meinte die Ärmste, »ich will es wenigstens versuchen ...« ging ins Nebenzimmer und war bald darauf mit einem übergeworfenen Baschlik ins Freie getreten.

Mit heiligen Augen sah ihr Bettje Theißen nach.

»Die geht ins Kloster,« sagte sie tonlos.

»Das tut sie,« nickte die alte Baronin und legte ergebungsvoll die Hände zusammen.

»Die ist wohl verrückt,« platzte die dicke Therese heraus, »auf so 'nen frechen Einfall zu kommen! Die will wohl meinem Herrn Vikarius in seine christkatholische Handlungsweise hineinmengelieren ...! – So 'ne aufgeschirrte Mamsell! – Großartig wie dem Herrn Baron von Moyland sein Kutschpferd! – Aber laß sie man kommen. Wir sind auch noch da, denn meine Augen kucken wie'n richtiges Perspektiv bis in die innerste Seele – und was ich da bei die evangelischen Edelmänners zu bekucken bekomme, das ist auch nicht so, um es hinter den Spiegel zu stecken. Die Tanzmamsell will unsere heilige Sache verbiestern; das habe ich schon auf dem Kaffee bei Miekske gemorken, und drum ist es mir ganz partie egal, wenn ich sage: Lumpenpack sind alle evangelische Edelmänners zusammengenommen.«

Drohend hatte sie dabei das Stocheisen hinter den Ofen geworfen.

»Das ist ja unerhört!« ereiferte sich die alte Baronin, »und ich fordere Sie daher auf, unverzüglich meine Wohnung zu verlassen.«

»'ne schofelige Wohnung ...!« sagte die Dicke mit ihrem klebrigen Lachen.

»Ich fordere Sie gleichfalls hierzu auf,« befahl Bettje und stellte sich nachdrücklich auf die Seite ihrer Inwohnerin, »wenn Sie nicht wollen, daß ich mein Hausrecht in Anspruch nehme. Ich habe es satt, bis zum Hals hinauf satt – Ihr pöbelhaftes Benehmen. Ich hätte schon längst mit Ihnen gebrochen, wenn ich nicht wüßte, daß Sie eine heimliche Neigung besitzen: Sie trinken heimlich – Sie sind eine heimliche Säuferin, und das hat Sie bis heute noch in meinen Augen in etwa entschuldigt. Jetzt aber ...«

Mit ihrer Rechten deutete sie auf die Tür und sagte bedeutsam: »Ich bitte gefälligst.«

»Was?!« ereiferte sich die dicke Therese, »mich als heimliche Säuferin estimieren zu wollen! – Ich konstatiere ausdrücklich: Sie haben sich an einer Jungfrau der ewigen Anbetung vergriffen; das ist Gottesraub, das ist Kirchenschändung – und das weitere werden Sie noch zu hören bekommen. Gut – ich gehe,« setzte sie resigniert hinzu, »aber bevor ich gehe, habe ich noch eine Frage zu stellen.«

»Bitte.«

»Kennen Sie Pitt Hoffmann?«

»Ja.«

»Und wissen Sie, was der immer liest?«

»Nein.«

»Der studiert immer im Kalender für Zeit und Ewigkeit von Alban Stolz, und den hat er mir zu lesen gegeben – und wissen Sie, was darin geschrieben steht mit großen Buchstaben?«

»Nein.«

»Dann will ich's Ihnen sagen – Sie Frauenzimmer mit die heiligen Augen. Da steht drin geschrieben: Es ist irgendwo ein christlicher Kirchhof, und die Kreuze auf den Gräbern sind von dreierlei Farbe. Schwarz sind die Kreuze der Verheirateten; blau die Kreuze der Ledigen und der Kinder; braun die Kreuze der ungeratenen Weibsleute, welche nicht verheiratet waren und auch keine Jungfern geblieben sind, damit ihre Schande selbst nach ihrem Tode nicht im Dustern bleibt. – Und das erzählt Alban Stolz – und das ist brav von dem Manne. – Und wenn Sie mal abkratzen müssen – wissen Sie, was Sie dann bekommen ...?«

Bettje Theißen verfärbte sich.

»Wissen Sie, was Sie für'n Kreuz dann bekommen ...?!« schrie die Dicke noch einmal, wobei sie ihre Augen wie auf Stielen vorschob und wiederholt nach Atem schnappte. »Ein braunes, dickes – und drauf steht mit weißer Farbe ›Bettje Theißen‹ geschrieben. Das wollte ich sagen – und damit: blasen Sie mir den Hobel aus, Sie Frauenzimmer mit die heiligen Augen!« – dann ging sie.

Trüb und grau sah der Abend ins Zimmer.

Die Sonne stand als große, dunstige Scheibe am niedrigen Himmel.

Am Hause Bettjes aber war Joseph von Arimathia vorübergegangen.


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