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XXIII Entweder du oder ich

Der Abend kam. Eine bange, lange Nacht ging herum. Es war eine Nacht voller Qualen und Schmerzen. Sie wollte weinen und konnte nicht weinen. Sie war wie eine zerrissene, menschliche Seele gewesen, die vor lauter Kümmernis und Not keine Tränen mehr hatte. Mit einem schmerzlichen Lächeln schied sie, als der Morgen erwachte. Gottes liebe Sonne küßte die niederrheinische Erde, und aus den Roggenstoppeln stieg eine Lerche gen Himmel. –

Leopold Derksen war in Moyland und im Rentmeisterhause gewesen. Er hatte seinen Auftrag erledigt und Luise bei Karlo Antonio Pollmann gefunden. Sie war ihm wie eine Verlorene entgegengetreten, die darüber nachzugrübeln schien, was sie jetzt noch mit ihrem Leben anfangen sollte. Als er zurückkehrte, war er wie im Traume seines Weges gegangen, und verwehten Sinnes hatte er die wurmstichigen Äpfel gezählt, die auf der Landstraße und in den Chausseegräben lagen.

»Fallobst, Fallobst ...!« sagte Leopold Derksen, als er die verlorenen Früchte am Boden gewahrte, und war dann still und nachdenklich bei Johannes erschienen.

Noch um die Mittagszeit hatte Herr Piepmann seinen Rundgang beendet, siegelte zwei gewichtige Briefe in großen Kuverts und pfiff dazu:

»Einen Postbrief tat ich schreiben,
Einen Postbrief und auch zwei ...«

und ließ sie in Gottes weite Welt hinausgehn. Der eine war an die bischöfliche Behörde, der andere an die königliche Regierung gerichtet. Stäwe Rademaker fühlte sich ordentlich, als er mit den beiden Schreiben auf- und davonfuhr. Aber er war kaum zum Tore heraus, hatte kaum den stillen Gottesacker passiert, als ein dumpfer, wehmütiger Ton aus der Höhe herabkam. Gottes Welt lag so schön da, und Gottes Welt lag so friedlich da – und nun mußte so ein trauriges Läuten darüber hinweggehn! Es war die Totenglocke, die anschlug.

»Jetzt ist Grades Gertzen gestorben,« sagte Stäwe, hielt die Pferde für einen Augenblick an und nahm seinen Postillonshut vom Kopf herunter. Er wandte sich rückwärts. Da lag die kleine Stadt hinter den kanadischen Pappeln. Er sah keine Dächer. Sie hielten sich hinter den dichten Kronen verborgen. Aber den Turm von Sankt Nikolai, den helmlosen Turm, von dem nur vereinzelte Balken aufragten – den sah er, und er hörte die Totenklage, die aus seinem Munde herauskam.

»Er hatte kein Glück auf der Welt,« sagte Stäwe, schnalzte mit der Zunge und nahm wieder Kurs auf. Im schlanken Trabe kutschierte er mit den beiden wichtigen Briefen landeinwärts. –

Schon am frühen Morgen war Johannes Wesselink in seine Werkstatt gegangen. Er war noch bleicher, ruhiger, gefaßter denn am Tage zuvor; nur in seinen Blicken lag ein eigentümliches Schimmern. Er mußte sich Gewalt antun, um seine innere Erregung niederzuhalten, denn an dem Ort, wo er jetzt weilte, war der Frevel geschehen.

In einer Ecke des weiten Raumes stand ein massiger Schrank, in dem er seine Gerätschaften aufzubewahren pflegte. Bedächtig schloß er die Tür auf und prüfte mit kritischen Blicken die einzelnen Äxte und Beile, die, nach Grüße und Schwere geordnet, an eingekeilten Holzpflöcken hingen. Endlich schien er das Richtige gefunden zu haben, entnahm zwei Äxte dem Schrank, prüfte die Länge der Stiele, maß die konvexen Flächen der Schneiden, glitt etliche Male mit dem Finger über die Schärfen hinweg, und als er gefunden hatte, daß beide Werkzeuge in ihrer Beschaffenheit und Handhabung gleichwertig waren, legte er sie still nebeneinander und ging dann in sein Haus, um auf den Verwüster seiner Ehre zu warten.

Der erste Tag ging herum.

Herr Karlo Antonio kam nicht.

»Er muß aber kommen,« sagte Johannes und harrte geduldig des folgenden Tages.

Der andere Morgen kam und der andere Abend. – Johannes wartete bis die Sterne am Himmel standen. Er wartete vergebens.

»Er muß aber kommen,« sagte er brütend, »sonst muß ich in die Ärmel fahren und ihn suchen – und ich weiß ihn zu finden.« –

Am dritten Tage, um Vesperzeit, wurde Grades Gertzen vom Kloster der barmherzigen Frauen aus beerdigt. Es war eine einfache Feier. Johannes ging mit, und Leopold Derksen ging auch mit. Als erster warf Johannes Wesselink einen Spaten voll Erde auf den Sarg des heimgegangenen Mannes. Pitt Hoffmann war nicht wieder zu kennen. Obgleich sein Geschäft wieder blühte – durch die mißlichen Umstände der letzten Tage hatte er sein Selbstbewußtsein und das Pompöse seines äußeren Menschen verloren. Das sonst so feste und energische Handhaben des Medaillenstabes wollte ihm nicht mehr gelingen. Pitt meditierte. Unter seinem Trauerzylinder hatte er allerlei Gedanken, und diese Gedanken beschäftigten sich mit Joseph von Arimathia, Therese und kirchlichen Dingen, und da hatte er das vage Empfinden, daß sein Zukunfts-Gärtlein mit Unkraut bestellt war. Gesenkten Kopfes verließ er den Kirchhof. Die Leidtragenden verliefen sich. Grades Gertzen hatte seine letzte Ruhestätte gefunden, und der Wind ging über die Gräser, raschelte und raunte und erzählte Geschichten von Kreuzen und welken Totenkränzen – betrübte Geschichten, die sich leise zwischen den alten Trauerweiden verfingen. –

Der Nachmittag war müde in seinem Schaffen geworden. Es wollte Abend werden. Rotgoldene Sonnenfüßchen trippelten über die Dächer, kletterten höher und höher und tänzelten schließlich zu den zarten Federwölkchen empor, die wie große Pfirsichblüten hoch oben vorbeischwebten. Noch waren Schwalben im Blauen. Als aber die Sonnenstrahlen ihr liebliches Tänzeln einstellten, und die großen Pfirsichblüten allmählich abstarben, da vergaßen auch sie ihr heiteres Fliegen und Schwenken und senkten sich talwärts. Es war Dämmerung eingetreten.

Um diese Stunde ging Johannes Wesselink über den Hofraum. Am Fenster stand die Tanzmamsell mit verweinten Augen. Als sie ihn sah, trat sie unauffällig ins Zimmer zurück. Sie hatte das Gefühl von einem kommenden Unheil. Bettje Theißen war bei ihr. Johannes aber ging in die Werkstatt und besah sich die Äxte, die sich noch immer in der nämlichen Form und Fassung befanden, wie er sie hingelegt hatte. Ein wehmütiger, aber strenger Blick glitt über sie fort, und da sagte Johannes: »Liegt man ruhig, eure Zeit wird schon kommen,« und dann ging er grübelnd und insichgekehrt in seine verödete Wohnung, wo er Leopold Derksen vorfand.

»Tag, Johannes, wo geht's dich?« sagte der Alte. »Hat der Kerl mit der Zuavenmontierung dir Abbitte erwiesen?«

»Nein,« sagte Wesselink.

»Also noch immer nicht?«

»Nein.«

»Glaub's schon.« lächelte Derksen, »so'n Mensch hat niemals die preußischen Obergefreitenknöppe besessen, desgleichen dito nicht die Preußische Ehre im Leibe – und du sollst sehn, er geht mit ihr übers große Wasser, bevor du ihm noch Mores gelernt hast. Weiber verführen – ja, das tun so 'ne Zuaven, aber Farbe bekennen – niemals ... Duckmäuser sind sie, aber keine Freiheitshelden, Johannes ...!«

»Das wollen wir sehn,« sagte Wesselink; er knöchelte mit der Hand über die Platte des Tisches. »Morgen ist der letzte Termin, und wenn er bis zu dieser Stunde nicht hier ist ...«

Zäh rangen sich die letzten Worte von den trockenen Lippen herunter.

»Was willst du tun?« fragte der Alte.

»Ich?«

»Ja – du.«

»Weiter nichts,« sagte Wesselink mit geschlossenen Augen, »als das wieder gewinnen, was mir abhanden gekommen. Die Ehre ist von mir gegangen, gewaltsam von mir gegangen. Derksen, ich bin ehrlos geworden, aber auf der Werkstatt will ich stehn und warten und hoffen und harren. Und rufen will ich: Ehre, komm wieder! Und sie kommt wieder, darauf könnt Ihr Euch heilig verlassen. Und finde ich sie nicht auf meinem eigenen Grund und Boden, so weiß ich sie anderweitig zu finden, oder« – und er knöchelte wieder über den Tisch fort – »sie wird mich finden, totensicher wird sie mich finden, wenn auch mit stillem Herzen und gespaltenem Schädel.«

»Johannes ...!«

Der Alte hatte seine Hände ergriffen. Langsam drehte er den Kopf auf den Schultern. In dem vom eisgrauen Quäkerbart umrahmten Gesicht stand ein plötzliches Leuchten.

»Du kriegst sie wieder,« meinte er heimlich, »denn ich glaube, da kommt wer.«

»Also doch,« sagte Johannes.

Alles Blut war aus seinen Wangen getreten.

»Und Ihr, Derksen,« fuhr er mit heiserer Stimme fort, »Ihr sollt mir einen Gefallen erweisen. Dort am Torweg, am Nußbaum sollt Ihr stehn, wenn ich mit ihm die Werkstatt betrete – und warten sollt Ihr, bis er wieder herauskommt, oder ich wieder komme und sage: Ich danke Euch, Derksen. Aber jetzt: wir müssen allein sein und unsere Rechnung begleichen.«

Der Alte sah ihn mit seinen stahlgrauen Augen an. Ungelenkig rieb er die Hände zusammen.

»Und dann ...?« fragte er schließlich.

»Das sei meine Sache,« meinte Johannes.

»Schon,« versetzte Leopold Derksen.

Draußen im Flur ließen sich Schritte vernehmen.

»Also« – Ihr wollt mir den Gefallen erweisen?«

»Mach' ich,« sagte der Alte. »Adjüs denn, und halte dir tapfer, Johannes. Zahn um Zahn und Auge um Auge – das ist immer mein Pangschang und mein Spruch als Freiheitsheld und königlich preußischer Obergefreiter gewesen.«

Noch einmal hielt er ihm die schwielige Hand hin, dann ging er nach draußen – und als er hinausging ...

Langsam und unstet war Karlo Antonio Pollmann ins Zimmer getreten.

Es war so still in der Stube geworden, daß man die Heimchen geigen hörte, die im Laden des Bäckers nebenan sich einquartiert hatten und dem schlummermüden Tag zur guten Nacht auffiedelten.

Die beiden Männer standen sich starr gegenüber.

»Also Sie kommen ...« brach Johannes schließlich das quälende Schweigen.

»Ja.«

»Das ist auch besser so,« war die ruhige Antwort.

Karlo Antonio war näher getreten.

»Und wegen des Schreibens – was soll das?« fragte er düster. »Was wollten Sie überhaupt mit dieser Drohung bezwecken? Sie ist doch aus freien Stücken zu mir gekommen.«

»Wenn auch,« fügte Johannes.

»Was wollen Sie also?«

»Eine Aussprache ist nötig,« sagte Wesselink mit unheimlicher Ruhe. »Warum lange in Nacht und Nebel herumtappen, wenn man Licht haben kann? Ich muß in eine dunkle Sache hineinleuchten, die uns beide betrifft. Es ist dunkel um mich, und in dieser Finsternis ist etwas von mir gegangen, ohne mein Zutun von mir gegangen, dem ich leuchten muß, damit es nicht weiter in die Irre hineingeht. Es muß wieder Licht um mich werden – und in dieser Helligkeit hoffe ich das wieder zu finden, was ich verloren habe: meine häusliche Ehre.«

Er hatte so leidenschaftslos gesprochen, so frei von jeder Gehässigkeit, als hätte er mit dem Kruzifix auf dem Kalvarienberg geredet. Fest und bestimmt, aber ohne jede Erregung sah er seinem Gegner ins Auge.

»Sie verstehn das doch alles?« fragte er leise.

Er erhielt keine Antwort.

»Auch gut,« sagte Johannes. »Was Sie mir genommen haben – das liegt hinter mir. Ich bin darüber hinweggegangen, wie man über eine Tote hinweggeht, die, als sie noch lebend war und haßte und liebte, einem zurufen konnte: Mensch, werde irrsinnig, damit ich das Bett mit einem anderen teile. Und darum ...«

Seine Stimme nahm an Erregung zu.

»Sie ist von mir gegangen und gestorben für mich. Ich habe keinen Haß für sie, ich habe kein Mitleid für sie, ich habe keine Tränen für sie. Was zwischen uns noch zu regeln war, ist abgemacht und geschlichtet. Leib und Seele sind getrennt, Zeiten liegen zwischen uns, und über ihr Eigen mag sie verfügen von Rechts wegen und wie die Bestimmung es vorschreibt. Auch das ist geordnet. – Aber eins ist noch nicht geordnet und harrt noch auf Austrag. Auch das muß seine Erledigung finden. Es geht nicht so einfach, das weiß ich, aber es muß gehn. Es wird hart auf hart kommen, das seh' ich voraus – denn so eine auf- und davongegangene Ehre läßt sich nicht auf friedlichem Wege wieder gewinnen. Es ist eitel Lüge, wenn die Menschen das Gegenteil sagen. Es ist Mangel an Mut, wenn sie sich hinter diese Lüge verstecken. So eine verscheuchte Ehre ist ein eigenes Wesen. Die hört nicht auf liebevollen Zuspruch und den Entscheid der Gerichte. Nur eine kräftige Hand und ein glaubensstarkes Herz vermögen sie zu zwingen und meistens dann erst, wenn zwei sich gegenüber stehn, und zwar Auge in Auge – wenn sie angehalten wird, sich mit Blut dem eigenen Selbst wieder zu verkitten.«

Er rang nach Atem.

»Sie werden mich jetzt wohl verstehn?« fragte er nochmals.

Um die bleichen Lippen Karlo Antonios zog ein frostiges Lächeln.

»Ich weiß nicht, was Sie wollen,« sagte er nach längerem Schweigen.

Seine Stimme war kantig und schartig geworden.

Nicht?! – aber ich weiß, daß Sie mich verstanden haben,« versetzte Johannes mit eisiger Kälte, »und das genügt mir. – Mensch, werde irrsinnig, damit ich das Bett mit einem anderen teile ... Sie haben das Bett mit ihr geteilt – aber ich bin nicht darüber närrisch geworden. Ich bin bei vollem Verstand und will weiter nichts – als meine Ehre wieder gewinnen. Lediglich das ist zu ordnen; das andere ist für mich beiseite getan und erledigt. Also – kommen Sie ...«

»Wohin?«

»Wohin ich Sie führe,« sagte Johannes.

Karlo Antonio hatte einen Fluch auf den Lippen. Ein lähmendes Gefühl suchte ihn niederzudrücken, aber er folgte. Er folgte wie ein Mann, der gezwungen in ein Ungewisses Dunkel hineingeht.

Die beiden Männer verließen das Haus und gingen über den Hof weg.

Im alten Nußbaum war ein leises Säuseln und Raunen. Die Heimchen im Bäckerladen nebenan geigten immer lauter und lauter. Jedes einzelne Stimmchen war deutlich erkennbar. Es war noch klar in der Luft und die Dämmerung noch nicht übermächtig geworden. Jedes Blatt hing so scharfumrissen da, als wäre es mit einem feinen Tuschpinsel gegen den Abendhimmel gezeichnet. Tief im Westen, jenseit der niedrigen Ziegeldächer, stand noch ein verlorenes Blinken, das wie ein stilles Grüßen über die müde Gegend hinaussah. Eine warme, treibende Sehnsucht, ein banges Erwarten ging über die kleine niederrheinische Stadt hin. Von den nahgelegenen Wiesen her duftete das Heu, das die Sense im zweiten Gange geworfen hatte. Verspätete Vögel ruderten in das matte Licht des untergegangenen Tages. Und der alte Nußbaum redete seine eigene Sprache – und Leopold Derksen. hatte sich eine Pfeife angebrannt und stand ruhig auf Posten – und Bettje Theißen, die gerade dabei war, wieder die Junifeuer in Gedanken anzufachen, bemerkte, wie die beiden Männer der Werkstätte zugingen, und da wandte sie sich, von weher Ahnung getrieben, zur Tanzmamsell und versuchte in tiefer Not, ihr Erklärung zu geben.

Sie konnte kaum sprechen.

Johannes und Karlo Antonio hatten die Schwelle erreicht. Hinter den beiden schloß sich das Tor.

Dann lag alles wie in Lautlosigkeit begraben.

Eine Minute verging, fünf Minuten vergingen; es war, als wenn die Ewigkeit ins Nichts hineingegähnt hätte.

Die beiden Männer maßen sich schweigend.

Durch das Oberlicht der Werkstätte fiel ein verlorener Lichtschein. Die einzelnen Gegenstände, die sich in dem unwirtlichen Räume befanden, waren nicht mehr deutlich erkennbar. Schatten gingen darüber hin. In allen Ecken hingen graue Tücher, die die Dämmerung ausgespannt hatte. Der Gesang der Heimchen vermochte nicht, bis in diesen einsamen Winkel zu dringen. Nichts Heiteres mehr! – nur neben der Tür, auf einer Werkbank lag noch etwas Blinkes und Blankes, dem auch die Schatten nichts anhaben konnten. Es blenkerte weiter und hatte das Aussehn wie zwei Wolfsaugen, die ruhig und lauernd aus dem Dunkel heraussahen. Es waren Wolfsaugen – aber Wolfsaugen in harten, stählernen Köpfen, und die Köpfe hatten ein nadelscharfes Gebiß und fletschten ihre gierigen Schneiden ...

»Sind Sie fertig?« fragte Johannes.

»Was soll ich?« meinte Karlo Antonio. Ein eisiges Frieren saß ihm im Nacken. Bedrückt sah er auf die blanken Wolfsaugen in den stählernen Köpfen.

Ein heiseres Lachen schlug ihm entgegen.

»Nichts weiter wie Mann gegen Mann stehn.«

Ruhig deutete Johannes auf die beiden Äxte.

»Eine für Sie, eine für mich,« sagte er, ohne mit der Stimme stärker zu werden, »es sind gleichwertige Waffen.«

»Und da soll ich ...?«

»Ja,« sagte Johannes. »Die Stunde ist da, wo ich die gemordete Ehre wiederum zum Leben erwecke. Durch so was wird sie wieder lebendig. Vorwärts!«

»Sie sind wohl verrückt ...!«

»Ja,« lachte der Ärmste, »weil ich Sie noch so estimiere, weil ich Sie noch so halber für ehrlich anspreche. Totschlagen hätte ich Sie sollen wie 'nen tollen Hund auf der Straße. Aber ich will Barmherzigkeit üben. Ich stelle mich Ihnen. Gleiche Chancen für jeden. Nun aber vorwärts ...!«

Seine Stimme nahm einen rollenden Ton an. Den Rock warf er von sich. Hemdärmelig hatte er eine der beiden Äxte ergriffen. Als hätte das tote Metall in seiner Faust Leben bekommen, so dehnte es sich, streckte es sich, wurde größer und schwerer – und seine Raubtieraugen funkelten gierig.

Wie ein Mann, der über seine eigene Größe hinauswuchs, stand er vor dem Verderber seiner geschändeten Ehre.

»Hund, greife zu!«

Seine Stimme war wie die Stimme eines Verzweifelten, der alles auf die letzte Karte gesetzt hatte.

»Mensch ...!« schrie Karlo Antonio. Eine wütige Verstörung hatte sich an ihn geworfen. Ein Zittern durchfuhr ihn. Der Boden schwankte unter ihm, als wäre unterirdisches Feuer darunter, als stände er auf einem schwelenden Torfmoor. Mit einem dumpfen Laut, der jählings abbrach, wandte er sich – ging er der Tür zu.

»Keinen Schritt mehr, oder ich werde zum Mörder ...!«

»Du ...!«

Karlo Antonio stieß einen gellenden, fast tierischen Laut aus. Er fühlte sich eingekäfigt und fand keinen Ausweg. Er mußte; er konnte nicht anders.

»Wenn es denn sein muß – ich komme ...!«

Er riß sich gleichfalls den Rock vom Leibe herunter, sprang zu und hatte gleichfalls das furchtbare Ding mit den gierigen Raubtieraugen gefaustet.

» Sacramento ...! – Verdammter ...!«

In blinder Wut und auf Tod und Leben hob er die Axt auf.

»Gut so!« rief ihm Johannes entgegen. Es klang wie jubelnd. »Entweder du oder ich ...! – Ehre, komm herein; die Tür steht geöffnet!«

Es war fast dunkel geworden. Nur das Oberlicht stand wie eine mattfahle Scheibe über den beiden. Das war alles. Aber sie sahen sich dennoch. Und sie sahen sich bis in die innersten Gedanken hinein – und sie sahen den Haß, der in ihnen aufkochte – und sie sahen das Weib, das alles verschuldet – und sie sahen den Tod ...

Und die beiden erhobenen Schneiden blitzten sich an ... Hungrig saßen sie auf ihren mächtigen Stielen ... Sie wollten fressen und trinken ...

»Ehre, komm herein,« schrie Johannes noch einmal, »die Tür steht geöffnet ...!«

Und dann ...

Es war, als hätte eine weltfremde Stimme gerufen ... eine weltfremde Stimme, wie eine Stimme im Walde, die einer wegemüden, verirrten Seele nachgeht, um sie wiederzufinden. Und dann kam sie näher – und dann war sie bei ihm ... Sie war gekommen, als hätte die Not sie auf ihren Flügeln herübergetragen.

Es war die Stimme der Angst und die treue Stimme der Erlösung.

»Johannes, lieber Johannes ...!«

Es war wie ein Sehnen und Suchen und ein endliches Finden.

Es war wie ein Traum – und doch geschah alles wirklich und wahrhaft.

Und die Raubtieraugen hatten ihre Gier und ihr Blinken vergessen. Lahm sank ihm die Axt am Leibe herunter.

Und dann wieder die Stimme – die flehende Stimme – die Stimme der Not und der jähen Verzweiflung.

»Johannes, lieber Johannes ...!«

Ein warmer, weicher Frauenkörper drängte sich an ihn. Er fühlte das Haar und den berauschenden Odem des Weibes. Und zwei Arme umschlangen ihn – und er sah noch, wie eine weiße Hand sich zwischen ihn und einen Gegner drängte und sich schirmend emporhob ...

Die Waffe entfiel ihm und schlug klingend zu Boden. Dann war es Nacht vor seinen Augen geworden, aber die kleine Hand, die ihn langsam hinauszog, die ihn an Leopold Derksen vorbei bis in Bettjes Wohnung geleitete, die ihn fest hielt, als wollte sie ihn nie mehr lassen im Leben, die fühlte er noch – und er fühlte sie, als sie schon längst nicht mehr da war. –

Und sie blieben noch lange zusammen: die Tanzmamsell, Bettje Theißen und er.

Dann ging er. Still und gefaßt und ohne jede Erregung betrat er wieder seine eigene Schwelle.

Leopold Derksen erwartete ihn.

»Johannes,« meinte der Alte und faßte den Arm seines Freundes, »du mußt mir das nicht übel vermerken. Ich habe mir das überlegt: Lump bleibt Lump; er verdiente die Axt nicht. Sie war zu gut für ihn – und daher: ich habe sie nicht hindern wollen, denn es ist doch so 'ne Art von Gottessache gewesen.«

»Wie ...?!«

»Gottessache! – Die Liebe ist Gottessache, Johannes.«

»Und die Ehre ...?!«

»Sei überzeugt: eine liebe Hand hat sie dir wiedergegeben, Johannes.«

Wesselink sah dem Sprecher starr in die Augen. – Ja, das mit der Ehre ...! Er glaubte sie wiedergefunden zu haben. Ja – er hatte sie wiedergefunden. –

Die Stunden vergingen, und die Nacht öffnete ihr Schatzkästlein und schmückte sich mit Myriaden von Perlen. In allen Häusern taten sich die Lichter auf, brannten Stunde um Stunde und verloschen dann wieder.

Im Zimmer der armen Tanzmamsell aber brannte die Lampe am längsten. Erst ums Morgengrauen verlosch sie.

Die Tanzmamsell war nicht allein; Bettje Theißen war bei ihr. Währenddem plauderte ein linder Wind und geigten die Heimchen. Aber wie sie auch zum Schlafe aufspielen mochten, traulich und heimlich – die Tanzmamsell konnte ihre Ruhe nicht finden.

Die beiden sprachen von dem, was alles passiert war.

Die Stunden vergingen unter Tränen und Herzeleid.

Plötzlich erhob sich Bettje Theißen und sagte mit halberstickter Stimme und schmerzlichem Lächeln: »Was Sie getan haben, ist groß und gut gewesen, Fräulein Pauline.«

Die Tanzmamsell sah sie mit kindlichen Blicken an.

»Wenn ich ihm nur sagen dürfte, wie lieb ich ihn habe ...!«

Und ein Schluchzen ergriff sie, ein herzzerreißendes Schluchzen.

Da machte Bettje Theißen schöne und heilige Augen und sah still und groß in den jungen Morgen hinein, der langsam heraufstieg.


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