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XVIII Gewalt

Nunmehr standen auch die Haferfelder in Stoppel. Man hörte nicht mehr das Wetzen und Singen der harten Rispen, die bislang nicht müde geworden waren, sich im laulichen Winde zu wiegen. Der Singsang verlor sich, nachdem die Sensen aufgehört hatten, mit ihren Stimmen dicht über die Erde zu näseln. Stoppel bei Stoppel! – und als noch einmal die blinkenden Sensen ansetzten, um den Grummet niederzuwerfen, als die Luzerne lag und Klee und Esparsette, da wollte sich auch die Welt so ganz behaglich in den Herbst hineinduseln. Und sie duselte sich langsam hinein – und als solches geschah, da krabbelten die Sparren am Turmhelm von Sankt Nikolai immer höher und höher.

Grades Gertzen schwebte in den siebenten Himmel hinein. Seine Vaterstadt konnte stolz auf ihn sein, denn jetzt war er der Kerl mit der ›kolosalen Reputatschon‹ geworden, seitdem er sein Können bewiesen und den anderen, ohne viele Fisematenten zu machen, kurzerhand an die Wand gedrückt hatte. Mächtig reckte sich das Balkengerüst von dem Turmkoloß aufwärts. Weithin sah es in das niederrheinische Land fort und schien Jahrhunderten trotzen zu wollen. Donnerwetter noch mal! – das war eine rechtschaffene und ehrliche Arbeit, und Joseph von Arimathia setzte sich eines Tages an sein Schreibpult, las die Titel der vor ihm stehenden Bücher und hatte schließlich den richtigen Kodex gefunden. Mit halblauter Stimme begann er zu lesen: » Liber ecclesiae Calcariensis renovatus post incendium anno 1736, enthält Eintragungen über die Anniversarien, Kirchen- und Armeneinkünfte, Kapitalien, Stiftungen, Inventar des Pfarrarchivs, sowie Bauten und Reparaturen der heiligen Kirche.«

Hierauf schrieb er mit ungelenken, wenn auch leserlichen und kräftigen Zeichen: »Am Tage Kreuz-Erhöhung, also am 14. September, im Jahre des Heiles 1875 wurde durch Gottes gnädige Hilfe und unter Beistand des Schutzpatrons hiesiger Pfarrei das Balkengerüst des Helmes von Sankt Nikolai durch Meister Gerhard Gertzen glücklich und sonder Fährnis errichtet. Trotzdem Neid und Anfechtung sich an seine Fersen hefteten, hat er wacker und in christkatholischem Sinne die Arbeit gefördert. Ehre daher, wem Ehre gebührt! Gott gebe dem fast vollendeten Werk einen fröhlichen Ausgang und dem Meister dereinstmals ein heiteres und dem Himmel wohlgefälliges Sterben. Joseph Sauerbier, der dieses eigenhändig niedergeschrieben. Amen.«

»Amen,« sagte auch Pitt Hoffmann, desgleichen der Kirchenrendant und die übrigen Leute, die sich auf Grades Gertzen eingeschworen hatten. Nur Dores, der Zimmergesell, der früher bei Johannes Wesselink in Lohn und Arbeit gestanden, sagte nicht ›Amen‹. Er war kein Zimmermannslicht und kein Überflieger in seinem Beruf, doch er hatte das unbestimmte Gefühl, daß sein früherer Meister vieles anders gemacht haben würde. Kein Zweifel: es hatte ja alles sein solides Gefüge und sein kerniges Rohmaterial, aber – weiß der Teufel warum! – Dores hörte immer ein infames Knicken und Knacken, wenn er oben zwischen den Balken herumging, konnte das miserable Stöhnen und Rumoren nicht los werden und meinte eines Tages zu Pitt, als dieser plattfüßig vor seiner Haustüre stand und mit vorgeschobener Hand zum Turmhelm emporsah: »Pitt, weißt du was?«

»Na, was denn?«

»Lieber unterm tüchtigen Kerl mit 'ner preußischen Religion stehn, als unter 'nem christkatholischen Döskopp.«

»Beweise?!«

»Pitt, das infame Knicken und Knacken!«

»Wo denn?«

»Da oben!«

»Was Grades gemacht hat?«

»Ja woll.«

»Also ...?«

»Ich sage gar nichts, aber der Konkurrenzmann mit der preußischen Religiosität ist mir lieber.«

»Dores, du bist wohl ...«

»Pitt, der Holzwurm war schlimm, aber es ist immer noch besser, 'ne gute Stellage mit Holzwurm zu haben, als 'ne schlechte ohne die verdammtigen Würmers. – Ich bin wie Pontius Pilatus – buschur! – und wasche meine Hände in Unschuld.«

Und damit ging er, und Pitt machte eine pompöse Bewegung und sah zu dem Turm auf, in dessen Sparrwerk noch immer die Zimmergesellen hantierten.

»Ach, was!« sagte er dann, indem er sich dem Hausflur zudrehte, »Joseph von Arimathia hat die Sache mit ›Ja und Amen‹ unterfertigt, und darum stimmt die Geschichte. Mama, 'nen Wacholder,« und hiermit war für ihn den verfänglichen Anspielungen des Altgesellen die Spitze abgebrochen, denn Joseph von Arimathia konnte nicht fehl gehn und war überhaupt niemals in die Irre gegangen. – Irren! – lachhaft, das war niemals bei diesem Gottesmann Mode gewesen – und in dieser Erkenntnis amtierte er selbstbewußter denn je zuvor, ließ die ganzen Maigesetze außer acht und gefiel sich darin, in der benachbarten Pfarrei Keppeln, wo der Seelsorger mit Tod abgegangen war, Amtshandlungen vorzunehmen, die nicht zu seinem Wirkungskreise gehörten. Er tat es mit Absicht, er tat es aus Opposition, er tat es, um der Staatsgewalt ein Schnippchen zu schlagen und die verwaiste Parochie zur höheren Ehre Gottes widerborstig zu machen. Es war nicht mehr zu leugnen: Joseph von Arimathia war ein renitenter Priester geworden.

Der Landrat warnte.

Joseph von Arimathia straffte den Stiernacken noch kräftiger, wie er es sonst gewohnt war, und lachte ins Fäustchen.

Der Landrat tat ein übriges. Er ließ ihn durch den Bürgermeister auf den Paragraphen aufmerksam machen, welcher lautet: Wer geistliche Amtshandlungen in einem von ihm nicht dauernd verwalteten Pfarramte vornimmt, wird mit Geldstrafe bis zu hundert Taler bestraft.

Joseph von Arimathia pfiff auf den mit Blaustift illuminierten Gesetzesparagraphen, verwaltete Keppeln im Nebenamt weiter und machte auch nicht die geringste Miene, sich willfährig zu zeigen, als das erste Strafmandat eintraf.

Zehn Taler Buße.

Joseph von Arimathia dachte gar nicht daran, die Speziestaler in seinem Beutel locker zu machen und die Angelegenheit friedlich zu schlichten. Er wollte den Kampf und hatte eine selbstquälerische Freude daran, sich den Kranz des Martyriums recht tief in die Stirne zu drücken.

Das zweite Strafmandat war die logische Folge.

Zwanzig Taler Buße – und zwar sofortige Zahlung.

Joseph von Arimathia spielte den sturen, aber sanftmütigen Hammel. Von der Kanzel aus machte er seine Gläubigen mit dem Inhalt bekannt und blickte ergeben und schimmernden Auges gen Himmel. Gleichzeitig hielt er das amtliche Schriftstück seiner Gemeinde mit spitzen Fingern vor Augen, so wie man ein Ding hält, das einen malproperen Geruch hat; dann zerriß er den Zettel. Die Menge quittierte mit beifälligem Grunzen.

Der Herr Vikarius lächelte, zahlte aber nicht, blieb bockbeinig wie vorhin und verzog auch dann keine Miene, als ihm von Rechts wegen mitgeteilt wurde, daß mit Zwangsmaßregeln gegen ihn vorgegangen werden sollte.

Also Zwangsvollstreckung ...! – Das war, was er wünschte, das paßte in seinen Kram und machte ihn gierig, sich als Kämpfer der leidenden Kirche zu betätigen.

Er reckte seine athletische Gestalt auf.

»Zwangsvollstreckung!« rief er mit heiserer Stimme und zerknitterte das gerichtliche Schreiben. »Gut – mögen sie kommen! – Hier will ich stehen – hier auf der Schwelle. Nicht wanken will ich, und nur dem Untier von roher Gewalt sei der Eintritt verstattet. Komme nur, Untier. Pater noster, qui es in coelis ...!«

Wütend stampfte er mit dem Fuß auf. Die silbernen Schnallen glänzten an seinen kräftigen Schuhen.

Und wie er aufstampfte ... überall waren erregte Gemüter; man sprach von großen Dingen, von Vergewaltigung der geistlichen Hirten, von Staatskatholiken und dem Verlöschen der ewigen Lampe. Ein bedrohliches Murren ging um. Die dicke Therese rang ihre fettigen Hände, und Pitt Hoffmann verschwor sich hoch und heilig, den Gerichtsvollzieher mit seinem Medaillenstab in Grund und Boden zu schlagen, wenn er es wagen sollte, Hand an geistliche Güter und Mobilien zu legen. Überall ging eine Unruhe durch die niederrheinischen Menschen, aber das hinderte nicht, daß Miekske Pollmann sich in den Kopf gesetzt hatte, die ›Malör-Penning-Kasse‹ an einem der nächsten Septembertage auszuschütten und froh zu verjubeln. Trotz der infamen Zeiten und des liederlichen Verhaltens des Staates: es sollte gefeiert werden, denn sie hatte schon mehr wie genug auf dem Altar der darbenden Kirche geopfert. Auch das Pläsier will sein Recht haben.

Und so kam denn der Tag, und »Los dafür!« sagte Miekske, als die Nähschule mit Adele Knipp und Bellecke Kermes anrückte, das gebrechliche Frauenzimmerchen in einen bekränzten Korbwagen verfrachtete und mit ihm erst durch die Stadt, dreimal um das Standbild des Reitergenerals Seydlitz herum und dann zum Tore hinaus und gen Moyland kutschierte.

Alle politisch-kirchlichen Fragen waren für sie an diesem Tage vergessen. Weiße Kleidchen und jubelnde Mädchen! – Miekske war selig, trug echte Glacéhandschuhe, hatte die klappernde Blechbüchse im Schoße und drückte ein Auge zu, wenn Adele diverse ›Malörchen‹ riskierte, und die anderen es nachmachen wollten. »Los man dafür!« lächelte Miekske, »heute wird keine Steuer erhoben,« und dann fing sie zehn dicke Brummer auf einmal und war glücklich in dem Gedanken, also gefeiert durch das niederrheinische Land zu fahren. Vier Mädchen zogen, drei schoben nach, die übrigen bildeten Spalier und wedelten Miekske mit Birken- und Haselzweigen an, die sie unterwegs von den Büschen gerupft hatten. Und ganz hinterher und ganz bedächtig kam die dicke Therese, die ihrer Freundin versprochen hatte, wenigstens dem ersten Teile der Festfeier beizuwohnen, um so das Ganze interessanter zu machen. Sie hatte denn auch ihr Bestes angetan, ein kokettes Strohhütchen aufgesetzt und sich mit einem gehäkelten Pompadour ausgerüstet, aus dem etliche Stricknadeln hervorblinzelten, die verrieten, daß die Dicke gewillt war, das Angenehme mit dem Nützlichen in einen harmonischen Zweiklang zu bringen, also während des Kaffees die Strümpfe ihres Brotherrn um etliche Maschen weiter zu bringen. Therese war, trotz der zu erwartenden Genüsse, wehleidig gestimmt; sie hatte das Gefühl von einem kommenden Unheil, und mit diesem Gefühl äugelte sie sanft über die sonnenbeglänzte Landschaft, die so klar dalag, daß jedes Blättchen aussah, als wäre es mit der Papierschere ausgeschnitten und in die Luft hingestellt worden.

Es war ein schöner Septembertag – heiter und fröhlich. Nur im Westen lag es verschleiert, und wäre ein Kundiger anwesend gewesen, hätte er noch vor Abend Sturm prophezeit und große Not und ein entsetzliches Blasen.

Allein Miekske und die kleinen Mädchen waren nicht kundig, zogen lustig weiter, und als sie in Moyland die Festwiese erreicht hatten, als sie von ferne die gedeckten Tische mit den Kaffeekannen und den frischen Korinthenwecken bemerkten, rappelte Miekske mit der Büchse und rief dann: »Kinder, nu aber das Lied von die ›Malör-Penning-Kasse‹!«

Und da klatschten Adele Knipp und Bellecke Kermes und die übrigen alle in die Hände, zogen strammer an und kutschierten hierauf unter fröhlichem Singsang über die Festwiese den Leckertäten, dem Kaffee und der Stippmilch entgegen.

Und also sangen die Kinder:

»Nu geht es froh ins Grüne hin,
Wir fahren mit die Leine;
Die Miekske sitzt im Wagen drin,
Denn sie hat lahme Beine.
Doch um so schöner ist der Spaß,
Wenn wir die Stippmilch tunken –
Ja, die ›Malör- und Penningkass'‹
Wird ratzekahl vertrunken.

Wir spielen Ringelrosenkranz
Und drehn uns vorn und hinten;
Und sind wir müde von dem Tanz,
Gibt's Brötchen mit Korinthen
Und Apfeltörtchen prima Klass',
Die darf man nicht vergessen –
Ja, die ›Malör- und Penningkass'‹
Wird ratzekahl verfressen.

Und kommt das liebe Mündchen dann
Aus seiner Himmelsklause,
Dann spannt uns Miekske wieder an,
Und lustig geht's nach Hause.
Wir aber denken dies und das
Und singen beim Gefahre:
Ja, die ›Malör- und Penningkass'‹
Wird wieder voll im Jahre.«

Hierauf ging das »Hurra, Miekske!« und »Miekske soll leben!« und dann fielen die weißgekleideten Sängerinnen über die Tische her, Placierten sich und ließen sich's wohl sein. Die dicke Therese, die inzwischen angerückt war, strickte an ihren schwarzwollenen Strümpfen, nickte der Festgeberin zu und schnabulierte die Korinthenbrötchen so fingerfertig herunter, daß Adele Knipp ihren Teller ängstlich beiseite rückte, weil sie des Glaubens war, die Dicke könnte sich bei dem großen Appetit auch noch an ihren Portionen vergreifen. Sonst ging alles nach Vorschrift. Die Sache klappte, und die ›Malör-Penning-Kassengesellschaft‹ wäre auch erst mit dem ›Möndchen‹ nach Hause gegangen, wäre da nicht ein fixer Wagen, der geradesweges von Kleve kam, über die Festwiese gerappelt. Ein vierschrötiger Mann, dessen Hängebauch immerzu schwappte, führte die Zügel. Und der vierschrötige Mann hatte ein Gesicht so glatt und rund wie ein Eidamer Käse, machte eine unverschämte preußische Beamtenvisage, trug einen dunkelblauen Rock mit versilberten Knöpfen und hatte eine Schirmmütze tief in den Nacken gerückt, die mit einem preußischen Adler verziert war. Hinter ihm saßen noch zwei andere Männer, luthersche Dickköpfe und handwerksmäßig gekleidet ... und als die dicke Therese diese drei, besonders den Behäbigen mit dem preußischen Adler bemerkte ...

Erst ließ sie ihr Korinthenbrötchen fallen, dann schnappte sie ängstlich nach Luft und dann ...

»Miekske, um Gott nicht!« schrie sie auf, »da kommt ja der Gerichtsvollzieher Frasselt gefahren. Miekske, der will was!«

»Ja wohl,« lachte Frasselt und brachte seinen ausrangierten Ulanenschimmel zum Stehen.

»Und was wollen Sie machen?« rief die dicke Therese. »Herr Frasselt, was haben Sie vor?! Ich bitte Ihnen bei allen Heiligen, sprechen zu wollen!«

Mit Regenschirm und Pompadour war sie energisch in die Höhe gefahren.

»Putt – putt – putt für die deutsche Reichskasse holen,« griemelte Frasselt, wobei er die Manipulation des Geldzählens auf dem heruntergeklappten Spritzleder vornahm.

»Wo denn?«

»Da hinten.«

»Bei wem denn?«

»Beim Vikarius.«

»Doch nicht bei meinem Vikarius?«

»Ja wohl ... und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt! – Im Namen des Königs.«

Über die Züge der beiden lutherschen Kerle lief ein verständnisinniges Grinsen.

»Was?!« schrie die Dicke und machte mit ihrem Regenschirm eine bedrohliche Geste.

»Ruhe, man Ruhe!« lächelte Frasselt. »Putt – putt – putt muß ich haben, und damit Sie sehen, wie alles gemacht wird, invitiere ich Sie, mit mir zu fahren.«

Das war doch eine beispiellose Gemeinheit!

Wiederum grinsten die beiden lutherschen Dickköpfe.

»Sie Unchrist, Sie Holofernes ...! – Miekske, ich kann nicht mehr sprechen. – Sie Gottesleugner, Sie Habakuk von 'nem gottlosen Untier ...! – Miekske, ich kann nicht mehr reden. – Sie Lamm des Gerichts mit 'nem stinkigen Bockschwanz ...! – Miekske ...!«

Therese erstarrte, wie die Frau Lots erstarrte, als sie rückwärts blickte und auf die gottlosen Städte herabsah. Aber Therese sah nicht auf die verruchten Städte Gomorrha und Sodom in der Ebene Siddim, sondern auf einen einzelnen gottlosen Menschen, der es wagte, Hand an katholische Güter zu legen und zudem noch die Stirne hatte, ihr aus seinem Eidamer Käsegesicht frech und dicknäsig entgegen zu lachen.

»Adjüs!« sagte Frasselt, und damit ratterte er mit seinem ausrangierten Ulanenschimmel, den beiden Komparenten und im Namen des Königs seinem ekelhaften Beruf nach.

»Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt!« tönte es noch aus der Ferne herüber.

Seine Worte verklangen, und als sie verklangen ...

»Miekske,« wimmerte die dicke Therese, »wir müssen nach Hause, wir müssen meinen Vikarius und sein Zylinderbüreau retten, denn das wird zwangsweise und elend gepfändet! Der preußische Kuckuck steht schon drauf. Miekske, wir müssen ...«

»Anspannen!« rief Miekske. »Kinder, laßt die Korinthenwecken man liegen. Nächstes Jahr kommen wir wieder. – Heiliger Vikarius, heiliges Zylinderbüreau ...!«

Fünfundzwanzig Brummer wollte die Ärmste in ihrer tiefen Erregung gleichzeitig fangen, so heftig gestikulierte sie mit ihren zitterigen Händen.

»Kinder, man vorwärts!«

»Die Welt geht unter!« lamentierte die dicke Therese.

Das schöne Fest war jäh unterbrochen, kein Schnäpschen wurde mehr interpoliert, und mit langen Gesichtern ging es wieder nach Hause – ohne Ringelrosenkranz, ohne Möndchen und nur Kummer im Herzen. Selbst die Natur begann leise zu trauern. Die bedrohlichen Schleier im Westen schoben sich vor und wurden immer dichter und dichter. Wie mit gelben Katzenaugen sah es aus den marschierenden Wolken. Der Wind tat sich auf und hub an, verdächtig mit den zähen Pappelblättern zu rascheln.

»Heiliger Vikarius, heiliges Zylinderbüreau ...!«

Einzelne Mädchen weinten, andere beteten für eine glückliche Wendung der Dinge. Eiligst ging es über die Chaussee, die Dicke voran mit dem Schirm in der Faust und schiefem Hut auf dem Kopfe. Wie eine zweite Jungfrau von Orleans, aber eine fette, stolzierte sie auf ihr gefährdetes Heiligtum los und tramste dabei so energisch auf, als sei sie gewillt, den ganzen preußischen Staat mit seiner erbärmlichen Luderwirtschaft vor ihre Klinge zu fordern.

Inzwischen war der Herr Gerichtsvollzieher weiter gefahren, hatte die kleine Stadt erreicht und den Herrn Gendarmen Karl Friedrich August Franz Butterweck aufgefordert, ihm seinen Schutz und sein Ansehn in Ausübung der äußerst schwierigen Mission angedeihen zu lassen und war hierauf mit ihm zu Joseph von Arimathia gegangen.

»Herr Frasselt! – Herr Frasselt ...!«

Wie Unkenruf ging der unheilbringende Name von Haus zu Haus. Die Kinder johlten ihn, die Männer schrieen ihn mit verbissenem Ingrimm, und die Frauensleute sprachen ihn aus, als hätten sie den leibhaftigen Gottseibeiuns gerufen. Sie wußten, was Herr Frasselt hier wollte, und Pitt Hoffmann, der den verteufelten Aufzug aus seinem Fenster mit ansah, hatte nichts Eiligeres zu tun, als zum Turmportal zu haspeln und dort mit einigen herbeigerufenen Leuten das mittelste Seil in Bewegung zu setzen.

Dumpfe Laute und ein mächtiges Dröhnen ...!

Die Sterbeglocke schlug an und erzählte den Leuten von der Drangsal der gemaßregelten Kirche.

Ein einziger Aufschrei folgte dem Anruf. Sie kannten ihn alle, und da er ertönte, trat Joseph von Arimathia in Barett und Soutane vor die Schwelle seines Hauses.

Sein Antlitz war bleicher denn sonst, aber auch energischer denn an gewöhnlichen Tagen. Die Augen gluteten, und er hatte die Hände gefaltet.

Ruhig, ohne Bewegung sah er die beiden Männer des Gesetzes kommen: Herr Butterweck in Helm und waschledernen Handschuhen, Herr Frasselt mit dem Preußischen Kuckuck vor der Schirmmütze – ganz Beamter, ganz Strafkodex, seiner Würde eingedenk und den Paragraphen im Herzen, welcher da lautet: Wer geistliche Amtshandlungen in einem von ihm nicht dauernd verwalteten Pfarramte vornimmt, wird mit Geldstrafe bis zu hundert Taler bestraft – und dieses Strafgeld mußte für die deutsche Reichskasse eingelöst werden.

»Meine Herren, was wünscht ihr ...?«

Hinter den beiden kamen die lutherschen Kerle, und diesen folgte eine fanatische Menge: Weiber, Männer und Kinder, die, als sie Joseph von Arimathia gewahrten, plötzlich verstummten, dann aber, von dem Ernst der verhängnisvollen Stunde gepackt, wie auf Kommando zu singen begannen:

»Großer Gott, wir loben dich,
Herr, wir preisen deine Stärke ...«

Der Herr Vikarius hatte hierbei das Barett zwischen seine beiden Hände genommen und, als die erste Strophe verhallt war, den Segen gesprochen.

Es war ein unvergeßlicher Moment.

Kein Auge blieb trocken.

Joseph von Arimathia verstand es, an Herzen und Nieren zu greifen. Er wußte schon: aufzupoltern verfängt nicht; allein – getragenes Martyrium mit einem Beiguß von Sanftmutlämmelei wirkt auf die Massen, wie brennender Schwamm unter den Schwanz einer Stute gebracht. Sie schlagt aus und fängt an zu toben. Und daher – er fragte noch einmal, aber noch ruhiger und sanfter wie vorhin: »Ihr Herren, was wünscht ihr?«

»Ich komme im Namen des Königs,« sagte Herr Frasselt.

»Und ich im Namen des Gesetzes,« ergänzte Herr Butterweck, indem er stramm salutierte.

Ein höhnisches Lachen erklang hinter ihnen, als sie das sagten. Joseph von Arimathia aber streckte die Hände aus und meinte: »Geliebte dahinten! – lächelt nicht. Freut euch mit mir, jubiliert mit mir, denn ›König‹ und ›Gesetz‹, die sich hier präsentieren, sind doch herrliche Begriffe. Sie verkörpern das Höchste hienieden. Wir müssen sie achten und darum: sie sind uns willkommen. Nicht wahr, meine Geliebten in Christo? – Und nun, meine Herren,« fragte er lächelnd den Mann mit dem preußischen Adler und Herrn Butterweck, »was bringt ihr mir im Namen des Königs und des Gesetzes?«

»Zwangsvollstreckung«, sagte Herr Frasselt und präsentierte den Vollstreckungstitel mit dem infam roten Siegel.

»Und Sie?« wandte sich der Vikarius milde an Herrn Butterweck.

»Den Schutz der bewaffneten Macht,« entgegnete dieser und legte dabei die Rechte forsch an den blankgeputzten Griff seines Käsemessers. »Ich verdeffendiere Herrn Frasselt.«

Eine brütende Stille trat ein.

Joseph von Arimathia erhob die Augen gen Himmel; er schlug sie auf wie ein Mann, der dort oben suchte, was er auf Erden nicht mehr zu finden vermochte. Die Blicke aller waren auf den tiefbekümmerten Seelsorger gerichtet.

»Zwangsvollstreckung!« meinte er schließlich. »Was bedeutet das alles? – Hier, meine Herren, ist ein Haus des Friedens und der Liebe. Ich betone nochmals: ein Haus des Friedens und der Liebe, eine Stätte der Demut und ein Haus der christlichen Andacht – und in das wollen Sie mit roher Gewalt ...«

»Wenn es nicht anders geht ...« sagte Herr Frasselt.

»Schlagt ihn tot!« schrieen die Menschen. Der brennende Zunder begann seine Wirkung zu üben.

Einzelne drangen vor.

»Ruhe, Ruhe!« gebot der Gendarm.

»Sie wollen nicht willig zahlen,« meinte der Gerichtsvollzieher mit erhobener Stimme, »also bin ich genötigt, Sie im Namen des Königs zu pfänden und das Gepfändete zum öffentlichen Verkauf auszustellen.«

Er warf einen Blick nach rückwärts. Die beiden lutherschen Männer traten vor.

»So leid es mir tut – legt Hand an das Zylinderbüreau.«

»Gottverdomie ...!«

Die Weiber kreischten, und Pitt Hoffmann machte Miene, sich auf die beiden lutherschen Kerle zu stürzen.

Herr Frasselt versuchte ein Letztes.

»Also, Herr Vikarius, Sie wollen nicht freiwillig zahlen?«

»Nein! – ich knebelte sonst die Rechte der katholischen Kirche.«

»Dann vorwärts!« sagte Herr Frasselt und wollte die Schwelle betreten.

Joseph von Arimathia streckte die Arme. Alle Sanftmut war aus seinem Antlitz gewichen. Seine Stimme dröhnte wie eine geborstene Glocke.

»Herr, dein Wille geschehe! – Aber ich weiche nicht – und nur rohe Gewalt kann mich zwingen ...!«

Er wurde zur Seite geschoben.

»Gewalt! – Gewalt ...!«

Die Menge stürmte vor, gewillt sich auf den Gerichtsvollzieher zu stürzen und ihn niederzuschlagen.

»Haut den Hund! – Schlagt ihn tot! – Nieder mit den lutherschen Kerlen ...!«

Joseph von Arimathia schrie mit beschwichtigender und doch mit drohender Stimme: »Geliebte im Herrn! – stört nicht das Martyrium der katholischen Kirche und das ihres Dieners. Gott wird die vermaledeiten Schergen schon richten. Betet mit mir, betet mit mir! – Vater unser, der du bist in den Himmeln ...!«

Dumpf brauste das Gebet über den Kirchplatz von Sankt Nikolai. Der Himmel stimmte mit ein, denn oben am Turmhelm brauste und stürmte der Wind, der Septemberwind, und redete seine herrische Sprache.

Die Männer des Gesetzes aber hatten die Schwelle des Vikariates betreten.

»Vater unser, der du bist in den Himmeln ...!«


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