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XX Es mußte so kommen

Es war noch nicht völlig dunkel geworden. Der Tag zwinkerte noch, aber immer neue Wolkenfetzen zogen über seine Augenlider, bis er es schließlich satt und genug hatte, mit dem Zwinkern aufhörte und einschlief. Aus den späten Nachmittagstunden hatte sich der Abend geräkelt; seine dunklen Tücher wehten herauf, und der noch immer straffe Sturmwind spreitete sie über die Dächer, als wenn er sie zudecken wollte. Die ganze Zwangsvollstreckung, die Kümmernis um das Zylinderbüreau und die gemaßregelte Kirche waren vor dem Ernst des Augenblickes rein wie verflogen, Therese und ihre wütige Stricknadel, der arme Herr Frasselt hatten völlig an Interesse verloren. So sind eben die Menschen! Neue Dinge verdrängen die alten. Grades Gertzen und sein rebellischer Turmhelm waren die Matadore des Abends geworden.

Hu, wie das heulte!

Noch immer hasteten Leute nach der Sankt Nikolaikirche. Ein massiges Ungeheuer reckte sich der Turm aus den Häuserzeilen. Die Arbeiter, die oben das Balken- und Sparrwerk des Helmes zu halten versuchten, waren von unten nicht mehr deutlich erkennbar. Alles Leben da oben verging im Grau des werdenden Abends. Wie ein dunkler Raubvogel mit breitausgelegten Schwingen, ruhig, gigantisch – so lag es über dem gefährdeten Aufbau. Und der Wind saß darin und blies durch die Balken; aber atemlos stand die Menge da unten, drückte sich scheu aneinander und wollte dem Ungewissen irgendeine Erkenntnis abgewinnen.

Ab und zu kam Nachricht herunter.

Trotz der Verankerungen zeigte das Gerüst nach wie vor das bedenkliche Schwanken.

Das Dämmern kroch immer dicker und schwerer nach oben.

Neben dem Kirchenportal stand Joseph von Arimathia. Alle Zuversicht war ihm abhanden gekommen. Sein Stiernacken zeigte nicht mehr die sichere Haltung von früher. Pitt Hoffmann war bei ihm. Karlo Antonio aber befand sich in einer Gruppe ängstlicher Menschen, denen er klar zu machen suchte, daß alles noch in Schick und Richte gebracht werden könnte.

Von oben kam ein Stöhnen und Heulen. Dazwischen ließ sich ein dumpfes Hämmern vernehmen.

»Der kommt herunter,« sagte Joseph von Arimathia.

»Das glauben Sie?« fragte Pitt Hoffmann.

»Ja, totensicher! – und diesem Esel von Menschen ...«

»Aber jetzt ist doch Wesselink oben.«

»Der kann's auch nicht mehr halten,« war die lakonische Antwort. In nervöser Hast rieb Joseph von Arimathia die Hände zusammen.

»Himmel Zackerment noch mal!« sagte Pitt Hoffmann, »Herr Vikarius, soll ich ...?«

»Was denn?«

»Das Prozessionskreuz holen – hier aufstellen – beten – vielleicht ...«

»Ja,« sagte Joseph von Arimathia, und da ging Pitt Hoffmann dem südlichen Portal zu und von da in die Kirche.

Auf dem Turmkranz wurde ein Licht lebendig.

»Christus!« riefen die Menschen.

Ein zweites flackerte auf – ein drittes ...

Feurige Lohe züngelte und wälzte sich hierhin und dorthin.

Johannes Wesselink hatte Order gegeben, Petroleum- und Teerlicht über die Arbeitsstätte zu werfen. Das geschah denn – und da wurden die Flammen, die an getränkten Werg- und Taukränzen fraßen, herrisch über die Brüstungsmauern gerissen. Wie glutende Kirchenfahnen flatterten die Feuer am dunstigen Himmel. Eine brutale Hand griff hinein und grapste Lappenstücke davon und schleuderte sie alle gen Osten. Und da irrten sie wie glühende Fledermäuse und Sperbervögel davon, drehten sich über die Dächer und sanken dann nieder.

Jetzt war die ganze Balkenlage des Helms zu erkennen. Scharfumleuchtet hob er sich gegen den schiefergrauen Hintergrund ab. Auch die Gestalten der Arbeiter hellten sich auf. Vereinzelte Lichtmassen fielen nach unten. Hundert ängstliche Menschengesichter richteten ihre Blicke aufwärts. Plötzlich drängten sich Jans Prußt und Dores durch die verschüchterte Menge. Sie kamen vom Turmportal.

»Dores, wie steht's?«

»Was los, Jans?«

»Neue Klammern und Bandeisen holen.«

»Hält Grades die Sache?«

»Der?!« lachte Dores höhnisch auf. »Ne – aber der andere mit der barbarischen Forsche. Und dem hab' ich aufgekündigt – ich Schafskopp! – Lieber 'nem preußischen Meister wie so 'nem dämlichen Hammel gehorchen...«

Sie gingen.

»Nun helfen Sie, Herr Vikarius.«

Eine Hand legte sich dem Angesprochenen schwer auf die Schulter.

Joseph von Arimathia wandte sich um.

Doktor Horré stand vor ihm. Ein bitteres Lächeln spielte um die sonst so jovialen Züge des Sprechers.

Joseph von Arimathia sah es. Er biß die Lippen zusammen.

»Lassen Sie mich ungeschoren – Sie ...« sagte er heftig.

»Das tu' ich schon lange; aber Sie tragen die Schuld an dem ganzen Unglück und haben es fertig gebracht, einem erbärmlichen Stümper und Rindvieh ...«

»Herr Doktor ...!«

»Ja – einem erbärmlichen Stümper und Rindvieh...«

»Ich muß mir ernstlich verbitten ...«

»Alle Schuld auf Sie und Ihre Helfershelfer ...!«

Der Vikar wollte was sagen und hatte schon ein kränkendes Wort auf der Zunge, als aus der qualmigen Höhe ein wüstes Geschrei kam. Dazwischen ließ sich eine befehlende Stimme vernehmen: »Mensch, halten Sie ein!«

Alle kannten die Stimme.

Dann kam eine andere herunter: »Weg da vom Turm! Du verbiesterst die Sache.«

Das war die Stimme von Leopold Derksen gewesen.

Die Leute wurden unruhig. Erneutes Dröhnen und Pfeifen machte alle Hoffnung zunichte. Unter dem dumpfen Gehämmer stöhnten die Balken. Der Sturm nahm an Heftigkeit zu. Die feurigen Kirchenfahnen wurden niedergedrückt. Die glühenden Fledermäuse und Sperbervögel flatterten talwärts. Stickige Lohe wehte herunter.

»Der Helm wankt!«

Wer hatte gerufen?

Viele hatten gerufen – fast alle hatten gerufen.

Joseph von Arimathia wollten die Kniee versagen. Etliche Weiber drängten sich an ihn. Bald darauf befand er sich in einem Knäuel von ängstlichen Menschen.

»Platz da! – Platz da!«

Am südlichen Kirchenportal war rege Bewegung.

Dort liefen die Leute zusammen. Das Verhalten der verstörten Seelen glich einem Ameisengewimmel.

Pitt Hoffmann erschien mit dem hölzernen Herrgott.

Viele bekreuzten sich.

Andere warfen sich auf die Kniee.

»Herr, erbarme dich unser!«

Pitt Hoffmann kam näher.

Hoch über sich und mit gekrampften Händen trug er das erlösende Heil durch die Menge. Es war ein grellilluminierter, blutrünstiger Bildstock, den er herbeischleppte. Er tat es mit einer Würde, als müßten sich jetzt Wind und Wetter in eine Ecke verkriechen. Als Leichenbitter war Pitt unnahbar, als Heilbringer jedoch war er unnahbarer geworden. Seine Augen, leuchteten. Jetzt mußte die Wendung zum Guten kommen.

»Herr, erbarme dich unser!«

Vor Joseph von Arimathia stieß er das Kreuz in den Boden.

»Wo ist Karlo Antonio Pollmann?!« rief dieser.

Er wollte ihn als Nothelfer haben.

Karlo Antonio war nicht mehr da.

»Wo ist er denn hingegangen?«

Pitt Hoffmann zuckte die Schultern.

»Auch gut,« sagte Joseph von Arimathia. Sein Nacken straffte sich wieder. Mit kräftigem Ruck riß er seinen inneren und äußeren Menschen zusammen.

Fanatischen Blickes hatte er den Herrgott nach dem gefährdeten Turme gerichtet.

Alle Augen hingen an seinen Lippen.

»Lasset uns beten!« rief der Vikar, »auf daß uns der Herr erlöse von allen Übeln der Erde, von aller Sünde und jeglicher Kleinmut!«

»Erlöse uns, o Herr!« stammelten Weiber und Männer.

»Von deinem Zorne!«

»Erlöse uns, o Herr!«

»Von Pestilenz und Krieg und armseligen Zeiten!«

»Erlöse uns, o Herr!«

»Von Blitz und Ungewitter, von Hagel und verderblichem Regen!«

»Erlöse uns, o Herr!«

»Von Sturm und Gefahren!«

Immer inbrünstiger, zerknirschter hallte das Gebet der geängstigten Menge herüber.

»Von Murren und Klagen wider deinen heiligen Willen!« rief Joseph von Arimathia.

»Erlöse uns, o Herr!«

»Am Tag des Gerichtes!«

»Erlöse uns, o Herr!«

»Durch Kreuz und Leiden und dein bitteres Sterben!«

»Erlöse uns, o Herr!«

Der Vorbeter hatte den hölzernen Herrgott ergriffen und hielt ihn mit beiden Händen gegen den wankenden Turmhelm.

» Agnus dei, qui tollis peccata mundi

» Parce nobis, domine!« respondierte Pitt Hoffmann.

» Agnus dei, qui tollis peccata mundi!« rief Joseph von Arimathia zum andern.

» Exaudi nos, domine

» Agnus dei, qui tollis peccata mundi!« rief Joseph von Arimathia zum letzten.

» Miserere nobis

»Amen!« klang es wirr durcheinander.

Joseph von Arimathia schritt mit dem ragenden Kruzifix gegen den Turm vor – und die Menschen folgten ihm mit fanatischer Andacht.

Weit leuchteten die feurigen Kirchenfahnen über die Stadt hin. –

Während dessen lag das niedrige Häuschen auf der Grabenstraße still unter dem florigen Himmel. Bettje Theißen und die Tanzmamsell standen am Fenster, das auf den Zimmerplatz hinausging, und sahen, wie auf der dunklen Masse des Turmes der glühende Schein stand. Die Tanzmamsell hatte ihren Arm um Bettje geschlungen. Sie war wie im Fieber.

Der alte Nußbaum sauste und brauste. Überständige Blätter wurden zu Boden gerissen.

»Gerade wie damals brennen die Feuer,« flüsterte Bettje. »Nur damals standen sie ruhig in der Niederung und blickten auf eine heilige Liebe, und jetzt ... Sehn Sie, Fräulein, wie das durch die sternlose Nacht fliegt! – Das ist kein heiliges Feuer; das bedeutet Unglück ...«

»Und Sorgen,« kam es kleinlaut zurück, »und er ist auch wohl da oben?«

»Wer denn?« fragte Bettje, obgleich sie wußte, wie die Antwort ausfallen würde.

»Johannes,« raunte die Ärmste. Ihre Stimme hatte einen zittrigen Anflug, wie sie das sagte.

»Ja,« meinte Bettje, »der ist auch jetzt da oben. So sind aber die erbärmlichen Menschen. Nun, da sie in tiefer Angst stecken und nicht ein und aus wissen vor Elend, schreien sie nach ihm; nun wollen sie Hilfe. Und er gibt ihnen Hilfe, und sie haben ihm früher statt Liebe doch nur harte Steine gegeben.«

Bettje Theißen lachte seltsam auf.

»Ich kenne die Menschen,« setzte sie bitter hinzu. »Und die hierneben, die muß ja umkommen in ihrer Not – so ihren Mann da oben zu wissen; denn was die Leute sagen ... Wenn der da oben umkäme, und so'n barmherziger Balken ...«

»Schweigen Sie, Bettje!«

»Nein,« sagte Bettje, »ich kenne die Menschen. Wenn der da oben umkäme ...«

»Ich kann es nicht hören und will es nicht hören!«

Mit einem Mal schreckte Bettje zusammen.

»Nein – so was ...!« stöhnte sie mit allen Zeichen tiefster Erregung.

»Was ist denn?«

»Das ist nichts für Sie; kommen Sie, Fräulein.«

Bettje streckte die Hand nach dem Zimmermannshause.

»Da steht ihr Schatten auf der Weißen Gardine,« sagte sie tonlos, »und wartet.«

»Auf wen denn?«

»Auf den, der soeben vorbeiging.«

Die Tanzmamsell sah sie mit toten Augen an.

»Auf Johannes?« fragte sie unsicher.

»Nein – auf Johannes Wesselink nicht. Kommen Sie, Fräulein.«

Da stieß die Tanzmamsell einen gellenden Schrei aus und taumelte rücklings ins Zimmer. –

Die blutigen Fahnen flogen noch immer am nächtigen Himmel. Der Sturmwind rollte sie auf und ließ sie dann wieder wehen und flattern. Und der alte Nußbaum sauste und brauste, und die überständigen Blätter wurden zu Boden gerissen. Die mächtige Krone legte sich quer vor das erleuchtete Fenster im Zimmermannshause, als müsse sie dort ein Geheimnis verdecken. Und sie mußte etwas verdecken, denn zwei Schatten standen plötzlich auf der hellen Gardine.

Er hatte sich unauffällig aus der Gemeinschaft der geängstigten Menschen geschlichen. Er war heimlich gekommen, aber nicht unerwartet gekommen. Ihr Herz hatte ihr gesagt, daß er kommen würde. Das war schon öfters geschehen, wenn Johannes nicht da war. Und die Sünde war bei ihnen gewesen, aber noch nicht die Sünde, die mit brutalen Fäusten die Wolken zerteilte und zum Himmel emporschrie.

Fast lautlos, wie von einer unsichtbaren Gewalt geleitet, war er näher getreten. Sie fühlte sein Kommen. Jetzt stand er vor ihr, so dicht wie damals im Mai, als die Kastanienbäume ihre schwanken Kandelaber aufgesteckt hatten, so dicht wie damals, vor Jahren, als sie sich zum erstenmal begegnet, als die Roggenfelder blühten und ein warmer Blust über die befruchtete Erde dahinlief. Und die Sterne waren aufgegangen am Himmel – unzählige Sterne. Und über dem Wald fort ... Und er sah sie starr an und doch mit einem Verlangen, daß sie erschauerte. Sie verstand die Sprache seiner sinnlichen Blicke.

»Habe Mitleid mit mir,« hauchte sie ängstlich.

»Das hab' ich. Sieh nur ...!« kam es verzweifelt von seinen brennenden Lippen. Der Taumel packte ihn. Ungestüm hatte er sich ihr zu Füßen geworfen, hatte ihre Hände ergriffen, sein Gesicht in ihren Schoß gepreßt und all sein Denken ausgelöscht, als wäre es ein Garnichts gewesen.

Dann richtete er den Kopf empor – langsam, beschwörend.

Da fuhr sie ihm mit der Hand über die Schläfen. Er zuckte auf unter der warmen Berührung. Alles wurde lebendig in ihm: Kraft und Sehnsucht und ein heißes Verlangen.

»Willst du?« kam es trocken von seinen Lippen herunter.

Sie gab keine Antwort, aber er empfand, wie auch sie gerüttelt wurde von dem Begehren einer durstigen Seele, die sich über alles hinwegsetzen konnte, wenn ihre Stunde gekommen.

Das Haus schlief. – Niemand war da. Die Lampe gab einen näselnden Ton von sich. Mit offenen, wachen Augen träumte Luise in das dämmerige Licht hin. Sie wußte nicht, wohin der Weg sie führte, der vor ihren Blicken lag und sich scheinbar in eine violblaue Ferne verlor und von dort ins Grauen. Aber das wußte sie: am Ende des Weges harrte ihrer eine starre Gewalt, die sie abstürzen würde, wenn sie es wagen sollte, sich der purpurfarbigen Tiefe zu nähern.

Da kam ihr Besinnen zurück.

»Wo soll das hinführen?« fragte sie mit abgerissenen Lauten.

»Wo das hinführen soll ...?«

Er stieß ein Lachen aus, das sie wie ein scharfes Messer berührte.

»Ja,« sagte sie heiser, »du mußt fort. – Fühlst du das nicht? – Wir müssen uns trennen und uns nie mehr begegnen im Leben.«

»Warum das?«

»Weil was zwischen uns steht.«

»Luise!« schrie er gequält, »und du weißt doch, daß wir zusammen gehören – schon damals – schon immer ...!«

»Nein – nein – nein ...!« sagte sie schaudernd.

»Ja – du, wir gehören zusammen.«

Mit Riesengewalt hatte er sie an sich gerissen.

Unter den Rüschen ihres Kleides zeigte sich ein Stückchen Weiß ihres Halses. Wütend preßte er die Zähne auf die blendende Stelle.

Beide Arme stemmte sie ihm verzweifelt entgegen. Sie stierte zur Seite.

»Wenn er jetzt käme.«

»Sakramento!«

Zäh kam das Wort von seinen Lippen herunter. Einen Augenblick rastete er, um seine Brust atmen zu lassen – dann ging er ans Fenster und schlug den Vorhang zurück.

Noch immer stand die feurige Lohe über den Dächern. Die auf- und niederschwankenden Äste zerteilten die roten Fanale.

»Der hat noch bei seinen Balken zu schaffen,« sagte er mit triumphierendem Lächeln. »Die verstehen ihn, und er versteht sie – aber ein begehrenswertes Weib zu verstehen, das ist nicht in seinem Lebenskodex geschrieben. Aber ich – du, ich verstehe das alles.«

Gesenkten Kopfes war er näher getreten.

»Ja – du, ich verstehe das alles.«

Luise hatte das Aussehn jener Frauen angenommen, die sich in ihrem eigenen Taumel verzehren. Sie war rücklings gewichen, und die Worte traten ihr erneut in den Sinn, die Joseph von Arimathia an jenem verhängnisvollen Abend gesprochen hatte: »Du hast schon einmal geliebt, heißer geliebt, mit ganzer Seele geliebt ...«

Ja – das waren seine Worte gewesen. Der milde Schein der Lampe wurde zu einem feurigen Licht, das sie blendend umspielte. Ein schwüler Liebesodem berauschte sie; eine unentrinnbare Macht drückte ihren Willen zu Boden, fesselte ihn, tat ihm Gewalt an; und vor ihr stand der Mensch, der sie in seinen geheimnisvollen und dunklen Kult zog – unwiderstehlich und unwiderrufbar.

»Du – wir kennen uns,« flüsterte er mitsingenden Lauten. Sie verging unter seinen begehrlichen Blicken.

Die Augen ...!

Als wollte er ihren Körper entkleiden – so waren sie bei ihr.

Mit herrischer Gewalt löste er ihre welligen Haare. Dann nahm er ihren Kopf zwischen seine fiebernden Hände.

»Du Närrin,« hauchte er zärtlich, »und das ist alles blöden Alltagsaugen und schwieligen Fäusten gegeben ...! – Und ich ...?! – Das soll ich alles entbehren ...! Mein bist du – verstehst du, Luise.«

Er hielt die Arme gebreitet.

Da fühlte sie, daß sie den Kampf aufgeben mußte, und sie sah ihn an mit dem traumbefangenen Gesicht eines glücklichen Kindes.

Noch ein letztes Ringen – und dann: ihre Arme legten sich um seinen Nacken wie eine schnürende Fessel.

»Karlo ...!«

»Luise ...!«

Die Natur läßt sich nicht irreführen. Unwandelbar geht sie ihre alten Geleise. Was zueinander gehört, das kommt zueinander. Berge verrücken ihren Standort, und Sterne finden sich.

Es war so still geworden in der einsamen Stube. Sie standen dicht zusammen geschmiegt. Ihre Atemzüge verfingen sich. Freude, Entsetzen, Jubel – alles drängte auf sie ein wie Aprilwetter: lachender Sonnenschein, eisige Graupeln und erwachendes Leben. Sie schwieg. Ihr Verhängnis erfüllte sich. Sie hatte kein Maß für die Zeit mehr und für das, was draußen sich abspielte. Nein – sie hatte kein Mitleid; jedes barmherzige Gefühl war ihr abhanden gekommen. Mitleid mit wem denn? Gewiß, sie hatte ihren Mann geliebt, aber die Liebe zum anderen war tiefer, mächtiger, nachhaltiger gewesen. Das fühlte sie jetzt erst – und nun war diese Liebe eine lodernde Flamme geworden. Tage und Nächte ihres ehelichen Lebens verloren sich; sie waren aus ihrem Gedächtnis gelöscht, und sie sah nur das, was kommen würde – und das lag vor ihr wie ein sinnberückendes Bild, wie ein Paradies, in das sie hineinschreiten mußte. An das Vergangene hatte sie kein Erinnern mehr, bis dahin, wo an jenem Abend verlorene Glocken über die Kornfelder gingen ... Ihren Körper durchschauerte eine begierliche Wärme. Über ihr stand das schöne Raubvogelgesicht mit den heißen Augen, die ihre Seele suchten und ihre Seele verdarben. Ja, Karlo Antonio, der Mensch mit den gesunden Zähnen und dem großen Sankt Peter im Herzen, verstand schon die Weiber zu nehmen. Er wußte das sündige Glück im verstohlenen Winkel zu finden. Ihre Gedanken errieten sich, und schuldvoll drängten sich ihre Körper zusammen. Und dann wieder das Aneinanderschmiegen, das verlangende »du« und »du«, das abgerissene, erstickte Geflüster – Stammellaute, hastige, kaum verstandene, so alt wie die Welt und die ewigen Sterne ...

»Endlich gefunden!«

»Endlich, endlich!« hauchte sie leise.

Ihre Willenskraft hatte wie ein gelähmter Vogel das Flattern gänzlich verloren. Hilflos ruhte sie in seinen umstrickenden Armen. Wieder zeigte sich ein Stück ihres glänzenden Nackens. Er beugte sich nieder und preßte seinen Mund darauf, und dann raunte er ihr heiße Worte ins Ohr, berückende Worte ...

Mit halbgeschlossenen Lidern lauschte sie ihm, dann befreite sie sich aus seiner Umarmung.

»Du ...!« keuchte sie auf, »die Angst, die sinnlose Angst ...!«

»Du Liebe, du Törin ...! – Das Schicksal hat uns nun einmal zusammengeworfen. Keiner entgeht seinem Schicksal.«

Und wieder das heimliche Geflüster von eben.

»Ich kann hier nicht bleiben,« sagte sie fiebernd. »Ich halt's nicht mehr aus. Hier sieht alles mich an; hier sind seine Augen auf mich gerichtet ...«

»Dann komm,« sagte er herrisch.

»Du ...?!«

»Ja – wir müssen allein sein.«

Da warf sie sich an ihn.

»Ich kann ja nicht anders!«

Die Leidenschaft brachte wieder ihre Herzen zusammen. Von seinen Armen umschlungen ging sie hinunter, über den Hausflur und dann ins Freie. Ein feiner Regen schlug ihnen entgegen.

»Da nicht vorüber!« stöhnte sie ängstlich und deutete auf das Fenster, wo die Tanzmamsell wohnte.

Düster, wie ausgestorben lag die Werkstätte neben dem Zimmerplatze. Der schwankende Nußbaum warf seine fliegenden Schatten darüber hin. Das Tor stand geöffnet.

»Da sind wir allein,« sagte eine heisere Stimme.

»Nein, du – ich will nicht.«

Er aber führte sie mit sich.

Sie folgte willenlos – langsam, ohne ihre Kniee zu beugen. Ihre Lippen waren wie durstig geöffnet, ihre Augen geschlossen. In der wachsenden Erregung sah sie einer Sterbenden ähnlich.

Sein Arm umschlang sie immer fester und fester.

Mehr getragen wie geleitet, hielt sie an der Schwelle den Fuß an.

Ihr war so, als wäre sie durch ein tiefes Gewässer gegangen, dessen untere Trift sie warnend zurückhielt.

Noch einmal blickte sie auf. Ein schmales Stück des teilweise entschleierten Himmels fiel in den Hofraum. In ihm war ein Stern lebendig geworden, um wieder schnell zu verlöschen.

Krampfhaft hatte sie seine beiden Hände ergriffen.

»Du – ich darf nicht und kann nicht.«

»Du Liebe ...! – Du Törin ...!«

Ein trockenes Schluchzen erschütterte ihren Körper.

Aber er küßte dieses Schluchzen hinweg.

»Geliebte ...!«

Ihre Züge verklärten sich wieder, und still wie im Traum, einer Nachtwandlerin ähnlich, war sie mit ihm über die Schwelle der bösen Erkenntnis getreten. Der bösen Erkenntnis ...

Friedlich sah das erleuchtete Fenster im Zimmer der Tanzmamsell über den Hof fort.

Die Werkstätte aber lag wie leblos unter dem Himmel. Plötzlich machte sie ein Auge auf. Es zwinkerte nur. Es war das Oberlicht, was sich aufhellte. Und der Nußbaum rauschte und brauste immer stärker und stärker; er tat so, als müsse er das heiße Geflüster und das Stammeln da drinnen mit seiner Stimme verdecken. –

Es mochte auf zehn gehn.

Die Arbeitsfeuer aber flogen noch immer durch die sternlose Nacht hin.

Auf Anordnung des Bürgermeisters war der Platz vor der Kirche geräumt worden. Herr Butterweck sorgte dafür, daß alles seinen geregelten Gang nahm. Die Leute drängten sich in stummer Beklemmung bis dicht an die niedrigen Häuserzeilen heran, die den weiten Kirchplatz umgaben. Von hier aus sahen sie mit pochendem Herzen und fliegendem Atem auf das düstere Schauspiel.

Die zunächst gelegenen Häuser waren geräumt worden.

Der Wind flaute nicht ab.

Das Haus des Küsters war am meisten bedroht. Jeden Augenblick konnte ein herabstürzender Balken sich in die Dachpfannen bohren.

Wie geborstene Glocken hallten die Hämmer, die auf die umgelegten Verankerungen und Bandeisen hieben, aus der Höhe herunter.

Joseph von Arimathia stand auf den Treppenstufen seines eigenen Hauses. Noch immer hielt er das Kreuz mit dem illuminierten Herrgott in den nervigen Fäusten. Auch er hatte alle Hoffnung verloren.

Pitt Hoffmann drängelte sich an seine Seite. Er stierte entsetzt auf ein und dieselbe Stelle, als wollte er ein Loch in das Dunkel hineinsehn. Hastig fingerten seine schlenkrigen Hände an den langen Rockschößen herunter. Da – auf einmal: er hatte den Kerl mit dem blauen Kittel bemerkt, wie er sich an einen Pumpenschwengel lehnte und den Turmhelm beglotzte. Sonst – ja, aber heute war er ihm ungelegen gekommen. Er wußte so recht nicht warum – aber er mußte immer an Grades Gertzen denken, an Grades, der noch oben hantierte.

Stocksteif, aber nur für Pitt Hoffmann sichtbar, stand der Kerl mit dem grindigen Gesicht an der Pumpe; er wollte nicht fortgehn, ums Verrecken nicht fortgehn.

Mehrere Gesellen und Arbeiter kamen eiligst über den Platz her. Jans Prust und Dores waren dazwischen. Man sah ihnen die verzweifelte Angst an.

»Das ist ja ein verfluchtes Theater!« schrie Dores.

»Was gibt's denn?!« rief ihm Pitt Hoffmann entgegen.

»Aufgeben tun wir's!«

»Wo ist Wesselink?«

»Mit Derksen noch oben. Sie kriegen Grades nicht 'runter.«

»Na – sowas!«

»Der Helm ist aus dem Senkel gekommen.«

»Jesus ...! – Jesus ...!«

Nie verschüchterten Menschen krochen noch dichter zusammen.

»Sie kriegen den Großtuer nicht herunter,« sagte Jans Prußt, »ihn nicht mitsamt seiner Schnapsbouteille. Entweder der Helm bleibt, wo er ist, hat er gemeint, oder die Balken können mir den Schädel einkloppen. So'n Rindvieh!«

Ein dumpfes Gebrüll kam aus der qualmigen Höhe,

»Da hört ihr's!«

»Wesselink! – Derksen ...!« schrien die verzweifelten Menschen.

»Und da glaubt ihr ...?« fragte Joseph von Arimathia die beiden Gesellen.

»Ja,« sagten diese, »noch 'ne feste Puste, und der Helm kommt herunter.«

»Christus! – mein Heiland ...!«

Ein dumpfes Brüten war unter den Menschen.

»Das wollen wir sehn!« rief Joseph von Arimathia und hatte wieder den Herrgott erhoben.

Pitt Hoffmann kniete, die Gesellen knieten, alle knieten ... Das Feuer hoch oben war nur noch ein rotes Geschwele. Ein brandiger Geruch senkte sich talwärts.

»Vater unser, der du bist in den Himmeln,« rief Joseph von Arimathia mit glühenden Augen, »erlöse uns von allen Sünden und den Übeln der Erde!«

»Erlöse uns, o Herr!«

»Von deinem Zorne!«

»Erlöse uns, o Herr!«

»Von Blitz und Ungewitter und armseligen Zeiten!«

»Erlöse, uns, o Herr!«

Düster arbeitete sich das Gebet durch die Schauer des Abends.

»Von Sturm und Gefahren, durch Kreuz und Leiden und dein bitteres Sterben!«

»Erlöse uns, o Herr!«

Joseph von Arimathia gab das Kreuz dem neben ihm knienden Küster; dann streckte er beide Hände gen Himmel.

»Erhöre das Gebet deiner armen Menschheit, deines erbärmlichen Dieners!«

Seine Worte hatten etwas in sich, das die Herzen erschütterte.

Sein Antlitz war bleich wie Kreide geworden.

»Großer Gott, heiliger Gott ...! – Agnus dei, qui tollis peccata, mundi

Joseph von Arimathia ging über sich selbst hinaus.

»Erbarme dich unser!«

»Erbarme dich unser!« kam es von dem massigen Turme zurück.

Hoch oben waren die Feuer erloschen.


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